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Eine aktuelle Studie fürchtet, dass Lesen in den USA zu einer Minderheitenbeschäftigung wird

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In den britischen Medien findet man immer wieder einmal einen Artikel darüber, wie Personen Bücher von berühmten Schriftstellern herumtragen, ohne dass sie diese je lesen würden oder dass überhaupt die Absicht dazu bestünde. Nur zum Angeben lugt also beispielsweise der Mosebach aus der Louis-Vitton-Tasche auf einem deutschen Flughafen oder in der FC-Bayern-Lounge? Nein, lugt er ja gar nicht, Lüge. Möglich, dass sich das britische Bewusstsein Status auch über Buchcover besorgt, in Deutschland ist solche Angeberei passé. Wenn man nostalgisch disponiert ist, freut man sich vielleicht darüber, wie über eine Wolke Pfeifenrauch, aber es gehört entschieden zu den abgelegten, veralteten Ritualen, die nur in kleinen überkommenen Kostbarkeitszirkeln gepflegt werden. Das mag daran liegen, dass es weniger Leser gibt. Die Klage darüber ist auch schon älter. Aktuell wird sie von einer amerikanischen Institution, der National Endowment for the Arts (NEA), noch einmal geführt, mit großer Geste und lautem Alarm: Das Wohl der ganzen Nation stünde mit der schwindenden Lesefertigkeit der Amerikaner auf dem Spiel.

"To Read or not to Read" (PDF-Datei) heißt der neueste, gestern veröffentlichte Bericht des National Endowment for the Arts, einer Behörde, die ihre Gelder von der amerikanischen Regierung bekommt. Es geht also um Existenzielles, lässt der Titel anklingen und das ist so beabsichtigt: Nachdem die NEA vor wenigen Jahren schon einmal einen Bericht abgefasst hatte, mit einem ähnlichen Thema: "Reading at Risk" und nicht die gewünschten Reaktionen erzielte, dreht man diesmal etwas mehr auf.

Kritiker, welche die Ernsthaftigkeit des letzten Berichts ignorierten, weil er in ihren Augen zu sehr auf spezialisierte und ambitionierte kulturelle Fähigkeiten - Reizwort: Gedichtinterpretationen - abhob, sollten jetzt mit pragmatischen und vor allem drastischen Folgerungen konfrontiert werden: „A Question of National Consequence“ steht im Untertitel des Berichts und kaum eine der über 90 Seiten vergisst zu erwähnen, wie wichtig Lesefertigkeiten nicht nur für das persönliche berufliche Weiterkommen, sondern auch für die Volkswirtschaft und für das Wohl der ganzen Nation sind:

Good readers make good citizens.

Die gute Absicht ist klar, Lesen wird als unverzichtbare, existentielle Fähigkeit sine qua non begriffen, die aus Menschen bessere Wesen macht und aus dem Land eine bessere Nation. Da scheut man auch nicht vor dem Umkehrschluss zurück: Dass Gefängnisinsassen im Durchschnitt schlechter lesen können, wird im Laufe des Berichts mehrmals erwähnt. Freilich im korrekten Sinne: „die Benachteiligten, denen notwendige Mittel fehlen..“ - und dennoch schwingt hier auch der warnende Schulmeisterfinger à la Struwwelpeter, der auf das Schicksal von bösen Buben hinweist.

Die zentrale Klage des NEA zielt auf einen beunruhigende Befund, den auch deutsche Eltern kennen und der einigen von ihnen zu schaffen macht: der signifikante Rückgang der Lust am Lesen bei Heranwachsenden. Selbst unter College-Absolventen, so Dana Goia, Leiter der NEA, sei die Lesefähigkeit und die Gewohnheit des regelmäßigen Lesens am Abnehmen:

All progress appears to halt as children enter their teenage years. There is a general decline in reading among teenage and adult Americans. Most alarming, both reading ability and the habit of regular reading have greatly declined among college graduates.These negative trends have more than literary importance. As this reportmakes clear, the declines have demonstrable social, economic, cultural, and civic implications.

Fakten zu diesem Befund sehen so aus: Kinder und Heranwachsende im Alter zwischen 9 und 17 Jahren schneiden bei Lesefertigkeitsprüfungen immer schlechter ab; sie verbringen ihre Zeit immer weniger mit Lesen. Zwar sei die Prozentzahl der 9-Jährigen, die täglich mit Vergnügen lesen, von 1984 bis 2004 von 53 auf 54 gestiegen, ebenso wie sich ihre Noten bei Lesefertigkeitsprüfungen enorm verbessert hätten. Aber demgegenüber sei bei den 17-Jährigen die verschwundene Lust am Lesen ganz deutlich zu erkennen: Während 1984 noch 31% mit Spaß beinahe jeden Tag lasen, waren es 2004 nur mehr 22 Prozent. 2006 verbrachten 15 bis 24-Jährige nur mehr 7 bis 10 Minuten pro Tag mit dem freiwilligen Lesen; die Zahl der College-Absolventen, denen Prüfungen gute Lesefertigkeiten attestierten, sanken von 40 auf 31 Prozent.

Herausgegriffene Signale aus einer größeren Menge von Zahlenmaterial, die "To Read or Not To Read" bereitstellt, die aber auch schon die Schwächen des NEA-Berichts andeuten: teilweise mangelnde Aktualität, disparate Statistiken, die nicht immer ohne Vereinfachungen miteinander in Bezug zu setzen sind und das Fehlen von größer angelegten Untersuchungen, die das Online-Leseverhalten miteinbeziehen.

Man hat, wie bei vielen Statistiken ersichtlich, die nur bis 2004 reichen, zum Teil auf das größere Datenmaterial des Vorgängerberichts "Reading at Risk" zurückgegriffen und sich ansonsten bei größeren landesweiten Studien bedient, die von anderen Bundesbehörden durchgeführt wurden. Für die Verantwortlichen bei der NEA wird dies nicht als Problem gesehen, sondern als Stärke interpretiert, da die verschiedensten Untersuchungen trotz mancher Widersprüche, einen deutlichen Trend sichtbar machen: die Geschichte vom Niedergang des Lesens in den USA.

When one assembles data from disparate sources, the results often present contradictions. This is not the case with To Read or Not To Read. Here the results are startling in their consistency. All of the data combine to tell the same story about American reading.

Die Leseschwäche-Story hat laut NEA folgende Konsequenzen:

  1. 1. Bei Arbeitgebern rangieren Lese-und Schreibschwäche als Top- Defizite ihrer neuen Angestellten.
  2. 2.Gute Leser bekommen besser bezahlte Jobs.
  3. 3.Weniger gute Leser berichten von weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
  4. 4.Gute Leser spielen eine Schlüsselrolle bei der Bereicherung des kulturellen und zivilen Lebens.
  5. 5. Gute Leser, die Literatur lesen, engagieren sich freiwillig, sie sind gute Bürger.

Dass dies vor allem statistische Korrelationen sind, wissen auch die Verantwortlichen der NEA nach , da aber die Zusammenhänge für sie so offensichtlich und stark sind, sprechen sie dennoch von Kausalitäten. Die Absicht ist klar: Sie wollen sich Gehör verschaffen. Die Frage ist aber, ob sie selbst so genau hinhören und hinschauen und offen sind für andere Botschaften als die klassische des Lesenverlernens: Die Stapel in den Buchhandlungen sind nicht kleiner geworden. Und das Textangebot im Netz unendlich. Vielleicht lesen wir heute anders.