Amoklauf vor Wochen schon abgeblasen

Vom verhinderten Amoklauf in Köln blieb nur noch ein toter Selbstmörder übrig - und ein Informationschaos, an dem sensationssüchtige Medien und erfolgsüchtige Polizei beteiligt sind

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Der "Kölner Express" und der "Kölner Stadt-Anzeiger" berichteten am Montag von einem erfolgreich vereitelten Amoklauf am Kölner Georg-Büchner-Gymnasium in Weiden. Der erste Beschuldigte, Rolf B., ein 17jähriger Schüler, hatte sich nach Gesprächen mit Schulleitung und Polizei bereits am Freitag vor eine Kölner Straßenbahn geworfen. Der Termin für das geplante Attentat war Dienstag, der 20. November, das traurige Jubiläum des Anschlags in Emsdetten ("Ich hasse es, überflüssig zu sein"). Zu diesem Tag veröffentlichten die Ausgaben derselben Printmedien bereits eine andere Perspektive: Überraschende Wende im Kölner Schulmassaker-Fall. Schüler gaben Amok-Plan vor 4 Wochen auf.

Diese zweite Aussage stammt vor allem von dem 18jährigen geständigen Mitschüler Robin G., der sich derzeit bereits in psychiatrische Behandlung wegen akuter Suizidgefahr begeben hat. Angeblich gebe es nun "massive Vorwürfe gegen die Polizei". Staatsanwaltschaft und Polizei Köln haben sich heute in einer Pressemitteilung noch einmal gerechtfertigt:

Es gibt Anlass zu folgenden Klarstellungen:

- Der Zeitpunkt der Pressekonferenz am Sonntag wurde im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft, die dort auch vertreten war, festgesetzt. Deshalb bewertet die Staatsanwaltschaft die Pressekonferenz nicht als „Schnellschuss“.

- Die zunächst für den folgenden Montag 12.00 Uhr geplante Pressekonferenz musste auf Sonntag vorverlegt werden. Der in der Kölner Bevölkerung - insbesondere unter Schülern, Lehrern und der Elternschaft - vorhandenen großen Beunruhigung wegen eines befürchteten Amoklaufs am Georg-Büchner-Gymnasium musste unverzüglich in geeigneter Weise entgegengewirkt werden. Besonderer Handlungsbedarf bestand vor dem Hintergrund des Jahrestages der schrecklichen Ereignisse in Emsdetten.

- Am Freitagvormittag war eine Suizidgefährdung des 17-jährigen für die an der Gefährderansprache Beteiligten nicht erkennbar. Es bestehen daher keine Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten.

Nach der 40minütigen Vernehmung in der Schule am letzten Freitag war, so hieß es zunächst, der erste Schüler, Rolf B., alleine nach Hause geschickt worden. Gestern wurde gemeldet, dass der 17-Jährige während der Befragung den Polizisten in Wirklichkeit entwischt sei, wie der städtische Schulpsychologe Jürgen Zimmermann-Höreth sagt. Und es gibt weitere Merkwürdigkeiten und Widersprüche in der gesamten Falldarstellung, die möglicherweise auf gravierende Aufklärungs-, Präventions- und Betreuungsfehler und erneute Medienhysterie beim Handlungstypus "Amoklauf-Verhinderung" hinweisen.

Ankündigungen und Verdächtigungen

Am Sonntag erklärte die Kölner Polizei auf einer Pressekonferenz stolz, man habe einen Amoklauf am Georg-Büchner-Gymnasium in Köln verhindern können. Die Rede war von einem Plan, der in wiederholten Ankündigungen der beiden Schüler zum Ausdruck kam, zuletzt freitags, dass es Dienstag "so richtig knallen" werde.

Hinzu kamen eine interne Todesliste mit Namen von 17 Schülern und Lehrern, Personen, von denen sich Rolf B. aus seiner Sicht gemobbt fühlte und an denen er nun Vergeltung üben wollte. Dazu angebliche Nachfragen nach effektiven Waffen, anscheinend öffentliches Gerede über den Amoklauf in Tuusala/Finnland und die Präsentation der Überwachungsbilder vom Massaker an der Columbine-Highshool in Littleton/USA und der Porträts der damaligen Amokschützen Eric Harris (18) und Dylan Kiebold (17) mit solidarischer Nennung ihrer Vornamen und dem Spruch: "Die Namen sagen alles" auf der Internetseite von Rolf B. im Schülerverzeichnis (schülerVZ).

Der Kölner Express vom 19. November behauptet, die Schüler und Lehrer an dem betroffenen Gymnasium in Köln hätten in Gesprächen darüber diskutiert, wer "an unserer Schule für so eine Tat (wie in Finnland) in Frage käme", und seien auf Rolf B. gekommen. Ein Schüler laut Express:

Der Rolf, der ist auch so ein komischer Einzelgänger, der irgendwann durchdreht.

Als Rolf B. am vergangenen Freitag seine Tatandeutungen wiederholte, hätten Schüler die Schulleitung ein weiteres Mal über die Äußerungen und die bereits seit Montag, dem 12. 11. 2007 auf der Internetseite stehenden "Columbine"-Inhalte informiert. Daraufhin habe man Rolf B. um 12.30 Uhr zum ersten Gespräch mit der Schulleitung gebeten, das aber nicht "zufriedenstellend" verlaufend sei.

Ab 13.20 Uhr, in einem 40minütigen Gespräch mit einem Lehrer, dem Vize-Rektor und zwei Bezirkspolizeibeamten wurde Rolf B. erneut und näher befragt. Psychologische Begleitung und Auswertung gab es ebenfalls zu diesem Termin nicht. Auch ein Kontakt mit den Eltern im Vorfeld des Gesprächs fand nicht statt. Begründung durch die Polizei: Das Gespräch habe relativ schnell stattgefunden. Rolf B. habe sich allerdings recht einsichtig gezeigt.

"Der Amoklauf sollte gar nicht mehr stattfinden"

Diese Behauptung bezieht sich wohl eher auf die Erörterung der mündlichen Anspielungen und die Netzpräsentation der Massaker-Bilder in den USA. Unter Druck geraten wollte der Schüler nun seine Äußerungen und Darstellungen nur noch sanft verstanden wissen: Angeblich wollte er nur mahnen, aber nicht provozieren, geschweige denn die Tat verherrlichen oder kopieren. Die abschwächenden Äußerungen des jungen Mannes wären "glaubhaft" erschienen, er sei willens gewesen, die Inhalte aus dem Netz zu entfernen. Polizeisprecher Laggies:

Von einem geplanten Amoklauf war uns zu diesem Zeitpunkt nichts bekannt.

Nach dem Gespräch wurde der Schüler Rolf B. "einfach nach Hause" geschickt, wie es zunächst hieß, jetzt stellte sich heraus, dass er während der Befragung auf die Toilette gegangen und von dort geflüchtet ist. Rund 15 Minuten nach seinem Weggang stürzte er sich auf der Aachener Straße vor eine Straßenbahn der Linie 1. Im Krankenhaus erlag er seinen schweren Verletzungen. Seine Mutter erhielt kurze Zeit später zwei Anrufe. Der erste Anruf kam von der Schule, mit dem Hinweis, dass es Probleme mit dem Sohn gegeben habe. Der zweite Anruf von der Polizei meldete, dass Rolf B. von der Bahn überrollt worden sei. Einer der beiden befragenden Polizisten hatte übrigens eine Schulung über Amoklauf absolviert.

Erst einen Tag nach dem Tod, am Samstag hätten sich die Ermittlungen der Polizei in die Richtung eines doch ernsthaften Vorhabens verdichtet, einen Anschlag an der Kölner Schule zu verüben. Nun sei es zu einer Durchsuchung des elterlichen Hauses von Rolf B. gekommen. Neben Informationen auf zwei PCs des Schülers wurden zwei eher für Kriegsspiele benutzte Softair-Pistolen und eine Armbrust - nicht gerade Waffen für einen Amoklauf - sowie Pläne für den Bau von Rohrbomben und Molotowcocktails gefunden.

Erst am Sonntagmorgen wurde der 18jährige Robin G. festgenommen. Der Expresss vom Montag, 19. Nov., behauptet: Robin G. "gestand die geplante Amoktat". Der Kölner Stadt-Anzeiger vom gleichen Tag:

Er hat erklärt, dass er und sein Mitstreiter Menschen hätten verletzten und umbringen wollen.

Der Express vom Dienstag, dem 20. Nov., führt aus, Robin B. hätte aber bereits im Kripo-Verhör am Samstag ausgesagt: "Der Amoklauf sollte gar nicht mehr stattfinden. Ich habe Rolf gesagt, dass ich nicht mehr mitmache. Und allein wollte er die Sache dann nicht mehr durchziehen." Weitere Indizien, wie der angebliche Rückkauf von den besorgten Waffen durch Robin B. sprächen für diese Version.

Der Kölner Stadt-Anzeiger vom 19. November schildert aus polizeilicher Sicht, der tote 17jährige Rolf B. habe als "unauffällig" gegolten, "in gutbürgerlichen Verhältnissen" lebend. Sein Motiv sei völlig unklar. Dagegen hätten zuständige Kriminologen vom mutmaßlichen Mittäter Robin G. ein negatives Bild, er passe "ins klassische Raster" jugendlicher Amokläufer:

Ein Einzelgänger. Er hat schulische Probleme, Schwierigkeiten mit Mitschülern, er fühlt sich gemobbt.

Diese polizeilich bzw. kriminologisch gestützten Aussagen verhalten sich genau umgekehrt zu dem Bild, dass die Mitschüler zunächst laut der Kölner Presse von Rolf B. entworfen haben sollen.

Anhand einer erneuten Vernehmung von Robin B. und aufgrund von Informationen und E-Mails auf den Computern der beiden Verdächtigen, so Express und Kölner Stadt-Anzeiger vom 20. November, seien die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis gelangt, dass beide Verdächtige die Pläne für die Amoktat schon vor vier Wochen aufgegeben hätten. Diese Recherchen wurden aber von der Polizei bei ihren voreiligen Pressemeldungen und der Pressekonferenz seltsamerweise nicht berücksichtigt.

Die Jugendpsychiaterin Beate Herpertz-Dahlmann von der Uniklinik Aachen im Kölner Stadt-Anzeiger von gestern: "Auf keinen Fall hätte man" Rolf B. "alleine nach Hause fahren lassen dürfen."

Dagegen verteidigt sich ein Sprecher der Kölner Polizei: Zwei psychologisch geschulte Beamte hätten mit dem Jugendlichen gesprochen und festgestellt, dass er "absolut unauffällig" gewesen sei. Nichts habe auf einen bevorstehenden Suizid hingewiesen. Gegen Robin G. erging kein Haftbefehl, eine strafrechtliche Überprüfung des Falles stehe noch aus, er wurde in eine psychiatrische Klinik gebracht, da eine Suizidgefahr nicht ausgeschlossen sei.

Welche Varianten in diesem Fall auch immer irreführend oder zutreffend sind, das Netzwerk aus Befürchtung, Verdacht, Verantwortung, Verständigung, Entscheidung und Risiko-Verhütung kann nur funktionieren, wenn alle zuständigen Beteiligten jenseits von verständlicher Panik und Aktionismus rechtzeitig relevante Informationen austauschen, um ein humanes Handeln zu ermöglichen, das mögliche Opfer, Beinahetäter einschließt, bevor es zu spät ist.

Dass es im Fall von Rolf B. zu spät wurde, könnte auch die vorerst letzte Meldung bestätigen: Mit der Ausrede, mal eben auf die Toilette zu müssen, habe sich Rolf B. aus dem besagten Gespräch in der Schule am Freitag entfernt, um dann die Flucht in den Tod zu ergreifen. Aber auch das kann eine Entschuldungsversion sein, die die Verantwortlichen entlastet, von denen nun berichtet wird, man habe im Anschluss den jungen Mann nach Hause fahren wollen.