Computerspiele sind fragmentierte Erzählungen

Martin Ganteföhr, Gamedesigner von "Overclocked", über die ästhetischen Qualitäten von Computerspielen und warum sie Mythen gleichen

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Der Deutsche Martin Ganteföhr gehört zu jenen Game-Designern, die das Medium bewusst nutzen, um sich darin erzählend auszudrücken. In seinem neusten Werk, dem Psychothriller Overclocked, wird die Geschichte wie in Gaspar Noés Film „Irréversible“ von ihrem Ende her aufgerollt. Im Interview führt Ganteföhr das Konzept des interaktiven Erzählens auf den Mythos zurück und findet, dass die Computerspiel-Magazine mit ihren „ingenieurhaften Wertungskästen“ das Medium nicht in seiner Gänze erfassen.

Martin Ganteföhr

Die große Stärke von „Overclocked“ ist der Plot und die besondere Erzählstruktur. Sehen Sie sich als Erzähler?

Martin Ganteföhr: Selbstverständlich. Wir entwickeln narrative Spiele. Ich habe mich nie als Programmierer betrachtet. Ich bin aus der erzählerischen bzw. erzähltheoretischen Richtung zum Spielemachen gekommen, nicht aus der mathematisch-informatischen.

Alle Bilder: Screenshots „Overclocked“

Warum haben Sie für die Darstellung Ihre Geschichten das Medium Computerspiel und kein traditionelles Medium gewählt?

Martin Ganteföhr: Seit ich mit 13 Jahren das erste narrative Spiel („Mask of the Sun“) gespielt habe, hat mich diese Art des Erzählens fasziniert. Narrative Computerspiele sind ja eigentlich immer fragmentierte Erzählungen. Sie sind zerlegt in kleine spielbare Einheiten, deren Reihenfolge oft nicht feststeht. Das lineare Spielerlebnis entsteht erst bei (und mit) dem Spieler. Das macht narrative Spiele so interessant – natürlich auch auf der Entwicklungsseite.

Narrative Spiele erinnern oft an interaktive Filme, bei denen man den richtigen Schalter kippen muss, um den nächsten Kardinalpunkt der Geschichte zu erreichen. Findet man aber den Schalter nicht, bleibt die Geschichte stehe, und der Spieler steigt aus. Warum also nicht gleich einen Film machen?

Martin Ganteföhr: Das ist ein Grundproblem - und zugleich die große Stärke - aller interaktiven Unterhaltung: Spiele gehen nicht von selbst voran, sie brauchen den Spieler. Wenn der Spieler sich inhaltlich motiviert fühlt, das Spiel voranzutreiben, haben wir unser Ziel erreicht. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass er angemessene Interaktionen vorfindet und dennoch ein flüssiges, kohärentes Gesamterlebnis hat. Das ist natürlich nicht immer leicht.

„Overclocked“ ist eines der wenigen Spiele, bei denen man das Gefühl hat, dass ein Designer am Werk war, der sich im Medium Computerspiel künstlerisch ausdrücken will. Dennoch haben Sie dafür kaum Lob von der Fachpresse erhalten. Werden Sie missverstanden?

Martin Ganteföhr: Missverstanden? Nein. Ich sehe meine Arbeit eher in einem gesamtkulturellen Kontext. Viele Fachmagazine behandeln diesen Kontext kaum. Sie verstehen Spiele meist als isoliertes, entkoppeltes, auf die Gaming-Szene konzentriertes Bildschirmphänomen. Insofern ist von dort wenig Resonanz zu erwarten. Sie kommt aber zunehmend aus anderen Medien.

In was für einem gesamtkulturellen Konzept sehen Sie ihre Arbeit?

Martin Ganteföhr: Ich betrachte Spiele als multimediale Kulturäußerungen – und selbstverständlich als Kulturbeiträge – im Sinne von Werken, die Bezüge zur Kultur- und Erzähltradition, zum Zeitgeschehen, zum Zeitgeist, zu politischen Strömungen, zu Denkmodellen und auch zu Moralvorstellungen haben. Ich beziehe meine Arbeit nicht vorrangig auf die Welt der Computerspiele, sondern auf die Welt als solche.

Aus welchen anderen Medien kommt dann die Resonanz?

Martin Ganteföhr: Vor allem ist ein verstärktes Interesse aus Qualitätszeitungen zu spüren. Aber auch aus anderen Kulturbereichen gibt es Rückkopplungen mit Spielen. Die ästhetische Sprache der Computerspiele beeinflusst inzwischen andere Medien. Musik aus Games wird konzertant aufgeführt. Das Medium wird insgesamt erwachsener und bedeutender. All das würde ich unter den Begriff Resonanz fassen.

Spiele sind kein Ingenieurs-, sondern ein Ausdrucksmedium

Die meisten Spielemagazine haben eine sehr technische Vorstellung von Computerspielen, versuchen die Grafik und den Spielspaß in Zahlen zu bewerten, anstatt den Fokus auf die Art und Weise zu richten, wie sich der Designer ausdrückt. Ist dies die richtige Herangehensweise?

Martin Ganteföhr: Die Erfassung in Skalen und Tabellen ist natürlich etwas sehr Ingenieurhaftes. In praktisch keinem anderen Kulturbereich werden Leistungen mit Wertungskästen und Prozentpunkten beurteilt. Davon werden wir aber nur in dem Maße wegkommen, in dem sich Spiele tatsächlich vom Ingenieurs- zum Ausdrucksmedium wandeln. Je mehr das der Fall sein wird, desto unbrauchbarer und unangemessener werden die Wertungskästen sein, und die „Tester“ werden von Kritikern abgelöst werden.

Sie haben sich in Ihrem Studium der Literaturwissenschaft mit strukturalistischer Erzähltheorie auseinandergesetzt. Inwiefern helfen solche Theorien beim Erbauen von interaktiven Geschichten?

Martin Ganteföhr: Ich habe mich vor allem mit der strukturalistischen Betrachtung von Mythen beschäftigt. Mythen werden beim Erzählen immer wieder verändert. Alle Varianten übereinander gelegt ergeben den Mythos in seiner Gesamtheit – und die Invarianten, also jene Elemente, die bei allen Varianten deckungsgleich sind, ergeben den Kern des Mythos.

Narrative Spiele - wie ich sie verstehe - funktionieren ganz ähnlich. Sie bieten ein Universum aus Optionen, das die Summe aller theoretisch möglichen Wege durch das Spiel darstellt. Innerhalb dieser Möglichkeiten kann der Spieler seinen Weg wählen. Aber: Es gibt invariante Erzählelemente, also solche, die obligatorisch sind. Sie müssen von jedem Spieler erlebt werden. Sie sind der Kern der Erzählung.

Man hört immer wieder, dass sich das Adventure-Genre in einer Krise befinde. Gelobt werden dann Spiele wie „Jack Keane“ oder „Ankh“, also Titel die nach dem alterprobten „Monkey Island“-Humor funktionieren. Warum ist es so schwer, in einem Adventure eine ernste Geschichte zu inszenieren?

Martin Ganteföhr: Ernste Geschichten sind schwerer in motivierendes Gameplay zu fassen. Wenn das Spiel Anspruch auf Glaubwürdigkeit erhebt und seine Charaktere durch lange Wandlungsprozesse schickt, gibt es wenig unmittelbaren Spaßfaktor. Die Wirkung eines ernsten Spiels entfaltet sich oft erst nach Stunden, und während derer darf man den Spieler nicht verlieren. Ein Gag-Feuerwerk ist dankbarer, weil es schneller Erfolgserlebnisse und Spaß bietet. Jemanden kurz zum Lachen zu bringen, ist um einiges leichter, als langsam und schleichend ein Gefühl wie Mitleid in ihm zu entfalten, zumal für eine Computerfigur.

Wie wichtig ist eine realitätsnahe Grafik, um im Spieler Gefühle wie Mitleid auszulösen?

Martin Ganteföhr: Ich glaube, dass der grafische Realismus der emotionalen Verbindung mit den Figuren bald – und dann für längere Zeit – eher im Wege stehen als sie fördern wird.

Je realistischer die Figuren werden, desto weniger besteht die Möglichkeit, sie mit der eigenen Phantasie zu füllen. Es bleibt dennoch ein unheimliches, distanzierenderes Gefühl der Künstlichkeit. Die Charaktere wirken trotz – oder eben gerade wegen – ihres sehr echten Aussehens limitiert, unmenschlich und emotional hohl. Gefühlsregungen sind von winzigen Signalen des Körpers abhängig. Diese in Echtzeit und über ein komplettes Spiel hin glaubhaft zu simulieren, ist eine extrem schwere Sache. Mit einer einzigen unechten Geste, einer lächerlichen Mimik oder einer falschen Bewegung kann man einen optisch beinahe perfekten Charakter als Figur komplett zerstören.

Die Interaktivität ist unsere wichtigste Herausforderung

Betrachtet man die Spieleindustrie, so gibt es nur wenige Spiele, bei denen man das Gefühl bekommt, dass hinter dem Werk ein Künstler steht, der das Medium als Ausdrucksmittel nutzt. Gibt es zu wenig kreative Designer oder wird den Designern von Seiten der Industrie zu wenig Freiheit gewährt?

Martin Ganteföhr: Ich glaube, dass die Kreativität im Überfluss vorhanden ist. Aber wir sind Teil einer noch jungen Entertainment-Industrie. Wir haben kein Sundance-Festival und keine Filmförderung, die Entlegeneres wahrnehmbar machen würde. Wir müssen die Spiele ja nicht nur machen. Wir müssen sie auch verkaufen und unsere Budgets wieder einspielen. Wir haben keine Zweitverwertungskanäle wie Heimkino-DVD und Fernsehrechte. Da wird man vorsichtiger. Es macht großen Spass, etwas Neues auszuprobieren, aber es macht eben auch Angst, weil so viel auf dem Spiel steht.

Wie sehen Sie die Zukunft der Spielbranche. Werden wir in zehn Jahren die gleichen Games haben wie heute, einfach in fotorealistischer Grafik, oder wird es mehr Designer geben, die sich als Künstler verstehen und das Medium nutzen, um sich auszudrücken?

Martin Ganteföhr: Wir werden großartige narrative Spielen erleben, und auch faszinierende rein KI-gesteuerte Titel. Die Industrie wird sich sehr diversifizieren. Was immer mach- und denkbar ist, wird gedacht und gemacht werden: Todernstes, Lustiges, Verrücktes und Massenkompatibles. Das alles hat seinen Wert und seine Funktion. Die Spieleindustrie steht erst am Anfang ihrer Möglichkeiten.

„Overclocked“ folgt einer linearen Geschichte. Der Spieler kann nicht Einfluss nehmen auf die Handlung wie etwa in David Cages „Fahrenheit“. Läge nicht genau darin der Unterschied vom Computerspiel zu den traditionellen Medien?

Martin Ganteföhr: Der Ansatz von „Fahrenheit“ war meines Erachtens weniger die faktische Einflussnahme auf die Handlung, sondern die glaubhafte Illusion von Einflussnahme auf die Handlung. Es ist eben auch eine Frage des Budgets, wie interaktiv man ein narratives Spiel auf der Ebene der Geschichte machen kann. Zusätzliche Erzählstränge und Optionen kosten zusätzliches Geld, und das kann leicht zu exponentiellen Kostensteigerungen ausufern.

Ich stimme natürlich zu: die Interaktivität ist unsere wichtigste Herausforderung. In einem narrativen Spiel findet viel von der Interaktivität aber auch im Kopf des Spielers statt. Das Durchdenken der Möglichkeiten einer Geschichte ist eine große interaktive Aufgabe. Ein narratives Spiel muss nicht zahllose Handlungsoptionen bieten. Es muss jene bieten, die inhaltlich angemessen und dramaturgisch sinnvoll sind – und das kann eben auch mal eine einzige sein.

Ist das Gameplay des traditionellen Point’n’Click Adventure die richtige Sprache, um interaktive Geschichten zu inszenieren? Sollten dafür nicht neue Wege gesucht werden?

Martin Ganteföhr: Wie das Spiel letztlich vom Interface her bedient wird, halte ich für eine eher sekundäre Frage. Wichtiger scheint es mir, gerade für ernste Spiele, inhaltlich neue Interaktionsmöglichkeiten zu finden. Solche, die relevant für den Spieler und die Geschichte sind, ohne sich in Sucherei nach Gegenständen und in Basteielen zu erschöpfen. Unser Begriff von Gameplay bezieht sich bisher noch sehr auf die physikalische Manipulation der Spielwelt: auf das Finden, Verwenden, Kombinieren von Gegenständen, auf das Öffnen von Türen und Ingangbringen von Apparaturen.

Interaktionen mit einer Geschichte müssten stärker auf das Innenleben von Charakteren gerichtet sein, auf Gefühle, Bedürfnisse, moralische Probleme, inhaltliche Entscheidungen. Auch die Struktur der Geschichte selbst, die abstrakte Erzählebene also, kann womöglich Gegenstand von Gameplay werden. Es gibt dazu viele interessante Ansätze, aber so etwas braucht eben auch Zeit.