Kulturbewusstsein und die Dominanz der Wirtschaft

In Dresden tagt das Internationale Gründungs-Symposium "World Culture Forum". Ein Gespräch mit dem Philosophen und Sozialökologen Johannes Heinrichs

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Mit seiner Einschätzung, dass wir uns derzeit „in einer tiefen Menschheitskrise befinden, vor allem was das Verhältnis Wirtschaft und Kultur, aber auch das von Kultur und Religion betrifft“, steht Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf nicht allein. Dabei ist gerade der Begriff „Kultur“ einem immer stärkeren Erklärungszwang und Legitimationsdruck ausgesetzt, während sich das ökonomische Denken und Handeln als entscheidender Erlebnisbereich des modernen Menschen zu etablieren scheint. Das Internationale Gründungs-Symposium World Culture Forum will vom 25. bis zum 27. November in Dresden darüber diskutieren, ob kulturelle Vielfalt einen Teil der „Sinnstiftungs- und Definitionsmacht“ von der Wirtschaft zurückgewinnen kann und inwiefern „das Verkümmern der nicht-ökonomischen Teilbereiche der Kultur“ überhaupt noch aufzuhalten ist. Der Hauptkongress wird im Herbst 2008 ebenfalls in Dresden stattfinden und ist als „Zusatzentwurf zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos“ konzipiert.

Zu den Initiatoren des ehrgeizigen Unternehmens gehört der Philosoph Johannes Heinrichs, der in den 70er Jahren einen Lehrstuhl an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt übernehmen sollte, dann aber „aus philosophischen Gewissensgründen“ zunächst aus dem Orden und anschließend aus der katholischen Kirche austrat. Bis 2002 lehrte Heinrichs als Gastprofessor und Nachfolger des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro an der Berliner Humboldt-Universität Sozialökologie. Im Vorfeld des Gründungs-Symposium hat der 65-Jährige ein Essay vorgelegt, der nicht nur die Neudefinition des Kulturbegriffs und seine Einbettung in eine umfassende „Reflexions-Systemtheorie“, sondern letztlich auch eine gesellschaftliche Umstrukturierung in der bis dato „unvollendeten Moderne“ vorsieht. Telepolis sprach mit Johannes Heinrichs vor Beginn des Symposiums.

Herr Heinrichs, Sie vermissen gerade im Bereich der Geisteswissenschaften die „trennscharfe Begrifflichkeit“. Was also bedeutet Kultur – im Kontext von Wirtschaft, Politik oder Religion – im frühen 21. Jahrhundert?

Johannes Heinrichs: Ich treffe drei formale Unterscheidungen. Im weitesten Sinne definiert der Begriff Kultur sämtliche Hervorbringungen des Mensches, alles, was überhaupt sozial vererbbar ist, also beispielsweise auch den gesamten Bereich der Wirtschaft. In einer engeren Definition beschreibt Kultur vier soziale Subsysteme - Wirtschaft, Politik, Kultur im mittleren Sinne - das heißt: die kommunikativen Sphären einer Gesellschaft - und schließlich das „Letztwertesystem“, zu dem ich Fragen der Religion, Ethik etc. zähle.

Die dritte Definition zielt auf die sogenannte „schöne Kultur“, worunter ich den ästhetischen Ausdruck und die Kunst verstehe. Grundsätzlich geht es mir darum, dass wir nicht immer aneinander vorbei reden, sondern präzise beschreiben, worüber wir uns austauschen wollen. Wenn wir uns erst gar nicht darüber verständigen können, von welcher Art Kultur überhaupt die Rede ist, würde ein Kongress zwangläufig enden wie das Hornberger Schießen.

Die Kultur ist derzeit in nahezu allen gesellschaftlichen Aktionsfeldern der schwächere Partner. Wie ist es überhaupt zur Dominanz des Ökonomischen gekommen?

Johannes Heinrichs: Wir haben es hier mit einem Phänomen der Neuzeit zu tun, das auf zwei wesentliche Ursachen zurückgeführt werden kann. Durch die Entwicklung der Nationalökonomien und die Herausbildung einer kapitalistischen Gesellschaft hat die Politik ihre tonangebende Rolle nach und nach verloren, und diese Tendenz verschärft sich unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft immer weiter. Politiker sind vielfach nur noch Lobbyvertreter, und das ist gar kein persönlicher Vorwurf, sondern einfach das Ergebnis systemtheoretischer Probleme.

Dass es zu einer totalen Dominanz über alle anderen sozialen Subsysteme kommen konnte, hat aber auch mit der Art des Wirtschaftens zu tun. Das Rendite-Prinzip begünstigt die Vorstellung, das Geld würde für sich selbst arbeiten und zu immer größeren Gewinnen führen. Im Mittelpunkt des Interesses steht deshalb nicht die gerechte Bezahlung der Arbeit beziehungsweise der Arbeitenden, sondern die Frage, wie noch mehr renditeträchtiges Geld in den Kreislauf gepumpt werden kann.

Faires Miteinander der Weltkulturen und Religionen

Sie sehen auf verschiedenen Ebenen deutliche Anzeichen einer tiefgreifenden Kulturkrise. Die Geisteswissenschaften werden von „Erkenntnisbeamten“ dominiert, der wissenschaftliche Diskurs schlägt fehl, qualitätssichernde Standards sind praktisch nicht vorhanden. In der Medienwelt herrscht geistige Stagnation und Selbstgleichschaltung. Die Analyse erinnert in Teilen an Marcuses Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“ von 1937, den Sie auch ausführlich zitieren. Allerdings sprechen Sie vom reaktiv-resignierten Charakter. Könnten Sie den Unterschied etwas genauer erläutern?

Johannes Heinrichs: Die Kultur hat derzeit keine eigene, unabhängige und institutionalisierte Position, von der aus sie gestaltend in gesellschaftliche Prozesse eingreifen kann. Die Wiedervereinigung lieferte dafür ein sehr anschauliches Beispiel. Wenn zwei Volksgruppen mit gleicher Sprache und gemeinsamen kulturellen Wurzeln zusammengeführt werden sollen, müssen diese Aspekte auch im Vordergrund stehen. Es wäre insofern sinnvoll gewesen, die nationale Begeisterung zu nutzen, um zu überlegen, wie hier zunächst eine kulturelle Einheit geschaffen oder wiederhergestellt werden kann. Stattdessen ging es immer in erster Linie um die Einführung der D-Mark und diese falsche Prioritätensetzung hat sich ja dann auch als Nachteil erwiesen. Übrigens auch und gerade für die Wirtschaft.

Bei der Rechtschreibreform konnten wir Ähnliches beobachten und sehen, wie die Diskussion durch parteipolitische Einmischungen vollkommen unsachlich wurde. Schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen, wird auch die Frage der Einwanderung nicht unter kulturellen, sondern fast ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunkten behandelt. Der Kultur fehlen also Zuständigkeits- und Kompetenzbereiche, die allgemein akzeptiert werden. Deshalb kann sie im Moment nur reagieren.

Der Weg aus der Krise führt über praktische institutionelle Veränderungen, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen. Aber was für ein Weltbild steht eigentlich dahinter? Sie sprechen von einem „über-geschichtlichen Logos“, wollen „neue spirituelle Quellen“ erschließen und berufen sich sogar auf Hölderlins Vision einer „heiligen Theokratie des Schönen“. Das klingt doch etwas eigenwillig.

Johannes Heinrichs: Ich vertrete keine Weltbilder, sondern plädiere für eine moderne Demokratie, in der die Systemebenen klar voneinander differenziert sind. Nur so können wir ein faires Miteinander der Weltkulturen und Religionen ermöglichen, und nur so wird es auf Dauer möglich sein, jedem Einzelnen die Freiheit zu geben, sich seine Glückseligkeit selbst zu besorgen. Wir müssen in den verschiedenen Institutionen einen Konsens über die gesellschaftlichen Aufgaben erzielen, der dann immer wieder neu definiert wird. Ich denke, das wäre ganz im Sinne der Aufklärung, und wenn wir über Hölderlin reden, sollten wir auch erwähnen, dass es sich bei der „heiligen Theokratie des Schönen“ um keine nationalistische und obendrein um eine überkonfessionelle Vorstellung handelt. Um daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, die der Weiterentwicklung unserer Demokratie zugute kommen, kann man aber natürlich auch Atheist sein.

Weltkulturrat und Weltgrundwerteversammlung

Sie institutionalisieren Ihre philosophischen Erkenntnisse in der Forderung nach einem Weltwirtschaftsparlament, einem Weltpolitikparlament, einem Weltkulturrat und einer Weltgrundwerteversammlung. Welche vordringlichen Aufgaben hätten diese Einrichtungen zu lösen?

Johannes Heinrichs: Es gibt für diese Institutionen bereits eine ganze Reihe embryonaler Vorbilder. Die WTO etwa oder die Weltbank für wirtschaftliche Entwicklungshilfe, dann die UNO für politische Konfliktlösungen und die UNESCO für kulturelle Belange. Als viertes wären die Ansätze für „Weltparlament der Religionen“ und Weltethos (vgl. die „Stiftung Weltethos“) zu nennen. Das Problem besteht vor allem darin, dass diese Proto-Institutionen auf Weltebene ihre Chancen nicht mutig genug nutzen und von einzelnen wirtschaftlich und finanziell mächtigen Mitgliedern zu stark dominiert werden. Hier müssten also erst die Voraussetzungen für ein faires und gleichberechtigtes Miteinander geschaffen werden, damit diese Institutionen gemeinsame Grundwerte definieren und internationale Konflikte effektiver als bisher lösen können.

Derzeit zeichnen sich zwar eine Reihe positiver Tendenzen ab - so können wir zumindest von einem erwachenden Weltkulturbewusstsein sprechen. Aber für global operierende Wirtschaftsunternehmen brauchen wir dann auch ein entsprechend wirksames Weltwirtschaftsrecht, von dem noch nicht ernsthaft die Rede sein kann. Wenn wir auf diese Entwicklungen nicht reagieren, werden wir von der Macht der Fakten einfach überrollt.

Welches Interesse sollten die Vertreter eines kapitalistischen Wirtschaftssystems denn daran haben, ihre Vormachtaufstellung aufzugeben?

Johannes Heinrichs: Der ungehemmte Kapitalismus setzt die Wirtschaftsvertreter selbst einem so hohem Stressfaktor aus, dass sie gegen eine Überwindung oder Entschärfung des permanenten Konkurrenzkampfes, dem viele kleinere Firmen zum Opfer fallen, vermutlich wenig einzuwenden haben. Außerdem gehören viele Einzelne der Wirtschaftsführer ja durchaus selbst zu den kunst- und kulturinteressierten Menschen. Es müssen also nur überzeugende Wege aufgezeigt werden, wie die Wirtschaft der Kultur dienen kann. Und umgekehrt.

Aber wie soll die Versöhnung zwischen Kulturschaffenden und Wirtschaftsvertretern vonstatten gehen? Bedanken sich die einen mit Finanzspritzen für das Wohlverhalten der anderen?

Johannes Heinrichs: Diese Gefahr besteht, solange wir sie nicht institutionell gebannt haben. Wir müssen weit über die Ideen von Sponsoring und Mäzenatentum hinausgehen (ohne diese zwingend vollständig abzuschaffen) und der Kultur eine öffentliche Funktion mit gewählten Vertretern zuordnen. Die Wirtschaft beteiligt sich an der Finanzierung einer Gesellschaft, in der die Kultur eine zentrale Rolle übernimmt und profitiert von den positiven Effekten, die eine Trennung der Systemebenen mit sich bringt. Allerdings nicht im Sinne von direkter Leistung und Gegenleistung, Kultur darf nicht erpressbar sein.

Zeigt die von der EU-Kommission im Mai vorgelegte Mitteilung über eine europäische Kulturagenda im Zeichen der Globalisierung, die vom Deutschen Kulturrat ausdrücklich begrüßt wurde, denn nicht bereits in die richtige Richtung? Vorausgesetzt, dass aus der „Mitteilung“ irgendwann einmal eine Richtlinie wird …

Johannes Heinrichs: In dieser „Mitteilung“ werden viele schöne Worte über Kultur gemacht, jedoch die konkreten Konfliktstellen nicht benannt. So wird erstens das Problem der Sprachen, dem Medium der kulturellen Vielfalt, nicht konkret angegangen. Wir können froh sein, dass diese Richtlinien ins Deutsche übersetzt sind. Doch selbstverständlich ist das für europäische Dokumente nicht, obwohl Deutsch die meistgesprochene Sprache in Europa ist. Es muss eine offene Verständigung über das Sprachenproblem in Europa stattfinden, wozu in meinem Buch Alternativen erörtert werden.

Zweitens wird von „multikulturellen Gesellschaften“ gesprochen, ohne dass der Unterschied zwischen dem multikulturellen Europa und seinen einzelnen Nationen gemacht wird, die um ihre kulturelle Identität kämpfen. Hier herrscht eine Sprach- und Gedankenverwirrung. Nur ausgeprägte Nationalkulturen können echte Multikulturalität auf europäischer Ebene gewährleisten.

Drittens wird das Problem, dass Europa auf den Systemebenen der Wirtschaft, der Politik, der Kultur und der Grundwerte jeweils eine andere Gestalt und Geschwindigkeit haben müsste, wenn es nicht bei der allesbestimmenden Dominanz der Wirtschaft bleiben soll, nicht gesehen und angesprochen. Würden solche Unterschiede gemacht, würden wir uns mit einer Verfassung für Europa leichter tun. Der schöngeistige, „pontifikale“ Stil des Dokumentes verschleiert diese und manche anderen konkreten Kulturprobleme. Die Verfasser solcher Dokumente stehen dazu den derzeitigen politischen Parteien zu nahe.

Viele Menschen sind sich vollkommen darüber im Klaren, dass unsere Demokratie derzeit nicht befriedigend funktioniert

Welche Erwartungen verbinden Sie nun mit dem World Culture Forum?

Johannes Heinrichs: Ich persönlich wäre froh, wenn ich zur präziseren Verständigung beitragen und durch die vorgeschlagenen Begriffsdefinitionen weiterführende Diskussionen mit in Gang setzen könnte. Generell wollen wir unverblümte Fragestellungen für die internationale Kulturpolitik formulieren und vor allem darüber beraten, wie wir die internationalen Organisationen im besagten Sinn weiter stärken können. Darüber hinaus halte ich den Schutz der Volkskulturen für einen wichtigen Aspekt. Wir müssen überlegen, wie wir mit den Ländern umgehen, die sich – etwa in Fragen der Säkularisierung – anders entwickeln, als wir das in der westlichen Zivilisation gewohnt sind.

Die westliche „Moderne“ ist zutiefst durch die Differenzierung der besagten Systemebenen geprägt. Wenn wir diesen geistigen Errungenschaften des Westens bewusster und konsequenter Rechnung tragen, statt nur mit der (derzeit noch gegebenen) wirtschaftlich-technischen Überlegenheit des Westens aufzutreten, sind wir zugleich fähiger, einen fairen Dialog mit den traditionellen Volkskulturen sowie mit Nationen einheitlicher Religion (wie den islamischen) zu führen.

Können Sie etwas zu den Forums-Teilnehmern sagen?

Johannes Heinrichs: Es geht nicht so sehr um prominente Namen, obwohl Menschen wie Kurt Biedenkopf oder Michail Gorbatschow natürlich ganz wichtig sind, um die Bedeutung zu unterstreichen. Das wichtigste Ziel besteht aber darin, Politiker, Künstler und Kulturschaffende sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft miteinander ins Gespräch zu bringen.

Dass kulturelle Errungenschaften den Lauf der Geschichte verändern können, haben sie hin und wieder bewiesen. Aber sie brauchen in aller Regel Protagonisten und Rezipienten, um Ideen umzusetzen. Wo finden Sie denn geeignetes Personal für diese Aufgabe?

Johannes Heinrichs: Ich denke, viele Menschen sind sich vollkommen darüber im Klaren, dass unsere Demokratie derzeit nicht befriedigend funktioniert und viele Defizite aufweist. Sie glauben nur nicht, dass es realistische Alternativen gibt. Dafür sind, nebenbei bemerkt, übrigens auch die Kirchen und Parteien verantwortlich, die sich noch lange nicht ausreichend auf eine wirklich pluralistische Gesellschaft eingestellt haben.

Die Erkenntnis, dass wir dringend etwas unternehmen und institutionell verändern müssen, gewinnt aber immer mehr Raum, auch wenn es in Detailfragen große Unterschiede gibt. So kann sich Kurt Biedenkopf nicht damit anfreunden, wenn ich von einer halben Demokratie oder einer Vierteldemokratie spreche. Trotzdem pflegen wir einen konstruktiven Dialog, und den unterhalte ich beispielsweise auch mit Bernhard Freiherr von Loeffelholz (Präsident des Sächsischen Kultursenats, AdR), Jean Ziegler (UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und Mitglied der UN-Task-Force für humanitäre Hilfe im Irak, AdR) oder den Unterstützern der Initiative Netz 4.

Ich würde unsere Arbeit als sehr intensive Suchbewegung beschreiben, die naturgemäß nie zu Ende geht. Doch der nächste, m. E. wichtigste Schritt wäre es, zu erkennen, wie der Kultur und der Vielfalt der Kulturen der ihnen gebührende Platz zwischen Wirtschaft, Politik und Religion eingeräumt werden kann, nicht allein durch schöne Worte, sondern – ich gebrauche das Wort bewusst noch einmal - durch institutionelle Vorkehrungen.

Johannes Heinrichs Buch Kultur - in der Kunst der Begriffe ist Mitte November im Steno Verlag erschienen und kostet 10 €.