"Jeder hat immer eine Wahl"

Marjane Satrapis "Persepolis": schwierige Fragen zu Iran und keine einfachen Antworten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Eine Tochter von Kim Wilde und Coca Cola - "Persepolis" erzählt von der wilden Kindheit der Marjane Satrapi in Iran zwischen Schah-Regime und Islamischer Revolution. Schon die Premiere des Films beim Festival in Cannes, wo er 25 Minuten Non-stop-Applaus erhielt und den Jury-Preis bekam, war von iranischen Protesten - wg. "Beleidigung der Errungenschaften der Revolution" - begleitet. Jetzt läuft der Film, den Iran am liebsten verbieten möchte, in Deutschland.

Bild: Prokino

Eine Jugend zwischen Iran und Europa, eine gefühlvolle Geschichte über Toleranz, Selbstbehauptung und Nonkonformismus: "Persepolis", die bisher zweiteilige Graphic Novel von Marjane Satrapi gehört zu den interessantesten Kunstwerken des letzten Jahrzehnts. Gleichermaßen ästhetisches Neuland betretend, wie kulturell und politisch brisant, kam der erste Band 2004 quasi aus dem Nichts und wurde zum Bestseller, der - eindringlich und überraschend - gleich die Wahrnehmung seines Genres revolutionierte.

Jetzt hat Satrapi, in Paris lebende iranische Emigrantin, Jahrgang 1969, gemeinsam mit Vincent Paronnaud ihr Werk kongenial für die Kinoleinwand umgesetzt - das Ergebnis ist ein überaus spannender, zugleich berührender wie herausfordernder Animationsfilm (vgl. Auschnitte). Die unkonventionelle Animation wirkt dabei wie der Buch-Stil einfach, zugleich schlicht und elegant, ein wenig wie ein Holzschnitt. Durchaus erinnert das Ganze auch an Art Spiegelmans vielfach gefeierten Schwarzweiß-Comic "Maus - Die Geschichte eines Überlebenden" über den Holocaust.

Subtil wird das Schwarzweiß durch Grautöne und wenige, um so eindringlichere Farbeinsätze ergänzt und treffend in Bewegung gebracht - eine aufregende Erfahrung. Hübsch und im Ergebnis überzeugend ist auch der Einfall, die Rolle der Satrapi im Original von Chiara Mastrioanni sprechen zu lassen und die ihrer Mutter von Mastroiannis leiblicher Mutter Catherine Deneuve. Die deutsche Synchronisation arbeitet unter anderem mit den Stimmen von Jasmin Tabatabai, Nadja Tiller und Hanns Zischler.

Bild: Prokino

Erzählt wird analog zu den Buchausgaben ("Persepolis - Eine Kindheit im Iran", "Persepolis II - Jugendjahre") weitgehend autobiographisch die Lebensgeschichte der Autorin und ihrer in Teheran lebenden Familie. Als Kind erlebte sie noch die letzten Jahre der Schah-Herrschaft, wurde dann 1979 Zeugin der Revolution und der ersten Jahre unter dem Regime der Mullahs. Vor allem diese Phase, in der sich die Hoffnungen auf ein besseres Leben und gesellschaftliche Liberalisierung als Illusionen erwiesen, in denen der Aufbruchselan der Revolution in einer bleiernen Schreckensherrschaft endete, welche die Repressionen der Schah-Diktatur noch um ein Vielfaches übertrifft, wird ausführlich geschildert.

Dem kleinen Mädchen machte das Revolutions-Spiel zunächst einmal einfach nur Spaß:

Es ging vielen Kindern so. Man hatte diese Massenbewegung, die Strassen waren voller Leute, die herumrannten, Flugblätter transportierten, Geheimnisse hatten. Alle sprachen plötzlich mit allen. Es hat etwas Erhebendes, wenn Leute so stark an etwas glauben. Speziell die Frauen, die unter ihren Tschadors Gewehre transportierten - das war einfach ein Riesenabenteuer für uns Kinder. Wir spielten Schießen, Verfolgen, Verhaften, zum Horror unserer Eltern.

"Vertraut dem Volk" - bis in die Todeszelle

Satrapi stammt aus dem gehobenen Bürgertum der Hauptstadt, einer linksliberalen, republikanisch gesonnen weltoffenen Schicht, zu der es in Deutschland kein Pendant gibt, während sie auch in den romanischen Ländern Europas verbreitet ist: Sehr gebildet, sehr politisch, sehr bürgerlich unterstützte man die Revolution aus Freiheitssinn, obwohl man von ihr ökonomisch kaum profitierte und wurde dann bald bitter enttäuscht. Prototypisch steht für diese Entwicklung vor allem Satrapis geliebter Onkel, ein Intellektueller, der unter dem Schah opponierte und seinen bereits skeptischen Verwandten noch optimistisch "Vertraut dem Volk" erwidert - nur einen Tag, bevor ihn die Häscher der Mullahs in die Todeszelle werfen.

Bild: Prokino

Satrapis Blickwinkel: Der Iran war immer ein laizistisches Land, die Revolution war eine politische, bürgerliche, pro-westliche, die dann von den Mullahs ins Reaktionäre, Religiös-Fundamentalistische umfunktioniert wurde. Der Film stellt schwierige Fragen und verweigert einfache Antworten, er ist voller unbekannter Geschichten und Informationen, wie der, dass es unter dem Schah im Iran 3000 politische Gefangene gab, unter Khomeini 300.000.

Bemerkenswert sind aber auch die detaillierten Schilderungen des Alltags einer Kindheit im Iran, deren Heranwachsende zunächst kaum etwas von den Kindern des Westens trennte: Sie schwärmten für Punk und Adidas, Bruce Lee, ABBA und Kim Wilde, liebten Pommes Frites und Coca Cola, bevor ihnen die religiöse Raser all das als "westliche Dekadenz" verboten. Dabei überwiegt im Film das Gefühl einer großen Enttäuschung über ein Land, das plötzlich verrückt spielt und darüber, dass es vor allem das Volk war, das vom Schah befreit wurde, sich aber dann leichtfertig selbst neuen, ungleich schlimmeren Diktatoren hingab.

Und auch die Erinnerung an die historische Vorgeschichte des Ayatolla-Regime kommt nicht zu kurz. Einer der traurigsten Momente des Films ist der Bericht vom Zwischenspiel des Premierministers Mossadegh, der die Ölindustrie verstaatlichte und daraufhin 1953 vom CIA gestürzt wurde - ein symbolischer Augenblick. Die Verstaatlichung des Öls wurde rückgängig gemacht und von nun an war der Schah für 25 Jahre eine Marionette der USA.

Gespräche mit Gott oder Karl Marx

Trotz all dieser Bemerkungen ist "Persepolis" keineswegs eine Geschichtslektion oder ein politisches Traktat. Voller menschlicher Wärme stehen vielmehr der Zusammenhalt der Familie und die zunehmenden Gefahren des Lebens im Gottesstaat im Zentrum. In bezaubernder Weise gelingt es dem Film dabei, die Perspektive eines Kindes in seiner Mischung aus Naivität und Klarsicht zu reproduzieren. Immer wieder kommt es zu Momenten wie Marjanes Fantasiegesprächen mit Gott oder Karl Marx, die zunächst "nur" witzig scheinen, plötzlich aber erschreckenden Ernst entfalten - und überaus kluge Einsichten vermitteln.

Der Film zeigt mit einfachsten Mitteln und Szenen, wie drastisch sich das Leben ändern kann, wenn Intoleranz überhand nimmt, wenn Regierungen und Institutionen aller Welt ihre singuläre Version Gottes oder andere Weltanschauungen in eine ideologischen Waffe verwandeln.

Bild: Prokino

Man sollte sich dabei also nicht täuschen: Dieser Film handelt auch von uns, auch von der Gegenwart des Westens: Denn auch dort herrschen Fundamentalismen und Satrapi hat sie in Interviews klar benannt. Da ist einmal der Sicherheits-Fundamentalismus:

Zuerst hörten die Leute auf, über Vergnügen zu reden. Essen ist Vergnügen, aber sie erzählen, dass man sich vor zu hohem Cholesterin schützen muss. Wenn man Sex hat, kann man AIDS bekommen. Wenn man raucht, kann man Krebs bekommen. Aber Rauchen ist ein Vergnügen - Ich bin Raucherin, ich verspreche es Ihnen. Essen ist Vergnügen. Liebe ist Vergnügen.
Tatsache ist: Wir kennen den Feind nicht, darum fürchtet sich die Welt. Die Welt ist im Krieg, aber gegen wen? Bin Laden wird zu Saddam und Saddam wird jemand anderes. Alle reden über Sicherheit. Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Aber Sicherheit heißt auch weniger Freiheit. Eine Gesellschaft, die auf Sicherheit fixiert ist, wird konservativer. Wer Freiheit will, hat mehr Risiken. Das geht zusammen. Ich selbst bevorzuge Risiken, und manchmal tut es halt weh.
Die Anti-Raucher-Gesetze sind für mich eine Vergewaltigung der persönlichen Freiheit. Warum ist der Staat plötzlich so besorgt um unsere Gesundheit? Alles andere ignoriert er doch auch: beschissene Luft, beschissenes Essen, beschissene Arbeitsbedingungen. Das Problem hat für mich tiefere Ursachen. In unserer extrem konservativen Zeit gilt Rauchen als sexueller Akt. Da geht etwas in eine Öffnung des Körpers hinein, kommt wieder heraus und bereitet Genuss.

Und dann ist da der religiöse Fundamentalismus:

Die Mullahs und die christlichen Fundamentalistsen in der US-Regierung sind das Gleiche! George Bush und die Mullahs des Iran benutzen dieselben Worte! Beide sagen: Gott steht auf unserer Seite und glauben, sie werden das Böse von der Welt tilgen. Es ist eine Schande, dass der Präsident der größten säkularisierten Demokratie die gleichen Worte benutzt wie die Mullahs.
Wenn ich einen Rat habe: Sagt nie "Das ist normal." Wacht jeden Tag mit dem Wissen auf, dass ihr Eure Freiheit verteidigen müsst. Niemand hat das Recht, Frauen das Recht auf Abtreibung zu versagen, Homosexuellen das Recht auf Homosexualität, niemand hat das Recht, das Lachen zu verbieten, das Denken zu verbieten, das Reden zu verbieten.

In "Persepolis" siegt die individuelle Selbstbehauptung. Dies gilt doppelt, denn wenn Marjane in der zweiten Filmhälfte von ihren Eltern - um sie vor Repressionen der Mullahs zu schützen - ins österreichische Ausland wechselt und dort zu Schule geht, ist sie neuen Anfechtungen ausgesetzt. Insofern ist "Persepolis" weniger ein Film über Heimatverlust, als über Freiheit, dessen einzige Moral lautet: "Jeder hat immer eine Wahl."