"Mal Lehrerschwemme, mal Lehrermangel"

Laut einer aktuellen Studie wurden in den vergangenen fünf Jahren 17.400 Lehrern weniger eingestellt als die Kultusministerkonferenz vorhergesagt hatte. Trotz des angeblichen Lehrermangels fanden 2007 rund 30.000 Pädagogen keine Arbeit

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Vor vier Jahren stellte die Kultusministerkonferenz (KMK) eine umfangreiche und außergewöhnlich detailfreudige Prognose vor, die allemal geeignet war, angehenden Pädagogen die Berufswahl zu erleichtern. Bis zum Jahr 2015, so die Berechnung der Studie Lehrereinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2002 - 2015, würde etwa die Hälfte der knapp 789.000 hauptberuflichen Lehrkräfte aus dem Dienst scheiden. Dadurch würden sich die lange Zeit sehr begrenzten Einstellungschancen für Lehrerinnen und Lehrer dramatisch verbessern.

Zwar verwies das Gremium auf die „für Prognosen üblichen Unsicherheiten“, wartete aber, gestaffelt nach Schultypen, bereits mit überdurchschnittlich konkreten Voraussagen auf. Bei den „Lehrämtern für den Sekundarbereich II (berufliche Fächer) oder für berufliche Schulen“ würde das Verhältnis von knapp 2.400 „Alt“- und Neubewerbern und einem jährlichen Einstellungsbedarf von rund 3.700 Lehrkräften in den Jahren 2002 bis 2015 zu einer „beträchtlichen Unterdeckung“ führen. Auch bei den „Lehrämtern für alle oder einzelne Schularten des Sekundarbereichs I“ (3.200 Bewerber/Einstellungsbedarf: 5.300) sowie den „übergreifenden Lehrämtern des Primarbereichs und aller oder einzelner Schularten des Sekundarbereichs I“ (4.700 Bewerber/Einstellungsbedarf: 5.800) könne die entstehende Versorgungslücke aller Voraussicht nach „bei weitem nicht“ ausgeglichen werden.

In den Jahren 2002 bis 2015 werden über alle Lehrämter hinweg voraussichtlich knapp 297.000 Lehrkräfte den Vorbereitungsdienst absolvieren und sich um eine Einstellung in den öffentlichen Schuldienst bemühen, dies macht jahresdurchschnittlich 21.000 Neubewerber; (…). Rechnet man die Altbewerber aus den Vorjahren hinzu beläuft sich das Lehrereinstellungsangebot auf durchschnittlich rund 26.000 pro Jahr (...). Der Einstellungsbedarf an voll ausgebildeten Lehrkräften beläuft sich in der gleichen Zeit auf 371.000, bis 2008 sind es jahresdurchschnittlich 27.000, ab 2009 jährlich 26.000.

Kultusministerkonferenz im Jahr 2003

Einstellungslücken: Zahlen und mögliche Ursachen

Das klang nach hervorragenden Berufsperspektiven für junge, gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, doch die Realität sieht derzeit ganz anders aus. Die Untersuchung Teilarbeitsmarkt Schule, die im Auftrag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass allein im Jahr 2007 rund 3.400 weniger Lehrkräfte eingestellt wurden, als die KMK vor vier Jahren prophezeit hatte. Die Autoren Kathrin Dedering (Mitarbeiterin im Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund) und Frank Meetz (Referendar am Studienseminar für Berufskollegs in Dortmund) errechneten für die vergangenen fünf Jahre eine Einstellungslücke von insgesamt 17.247 Lehrkräften.

Dass die Bundesländer so weit hinter den Prognosen zurückgeblieben sind, könnte nach Einschätzung von Dedering und Meetz mit einem deutlichen Rückgang des Einstellungsbedarfs zusammenhängen, der durch die in einigen Bundesländern beschlossenen Arbeitszeiterhöhungen oder die im Bundesbeamtengesetz festgelegte Pensionsminderung bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Schuldienst verursacht wurde. Außerdem gehen die Forscher sicher nicht zu Unrecht von einem „finanzpolitisch stark limitierten Spielraum“ der einzelnen Bundesländer aus, und die Frage, ob die Bewerber die besonders gesuchten Fächerkombinationen vorweisen können, dürfte ebenfalls eine erhebliche Rolle spielen.

Andererseits kann nicht davon ausgegangen werden, dass die 21.375 Pädagogen, die im Jahr 2007 eingestellt wurden, jeweils volle Stellen besetzen. In einer Größenordnung, die für die Wissenschaftler nicht exakt quantifizierbar ist, arbeiten viele Lehrerinnen und Lehrer mit einer reduzierten Unterrichtsverpflichtung und entsprechender Teilzeit-Bezahlung.

Unterschiede zwischen Ost und West

17 Jahre nach der staatlichen Einigung lässt sich der signifikanteste räumliche Unterschied auch in diesem Bereich zwischen Ost- und Westdeutschland ausmachen. Dabei scheinen die „neuen“ Bundesländer diesmal in einer günstigeren Situation zu sein. Die eingehende Analyse zeigt freilich, dass die Zahlen eng mit der ungünstigen demographischen Entwicklung und einem mitunter schon bedrohlichen Rückgang der Schülerzahlen zusammenhängen. Überdies droht einigen Ländern ein pädagogischer Exodus, weil beispielsweise Brandenburg im Hinblick auf Bezahlung, Arbeitszeiten und Vertragslänge nicht mit dem benachbarten Berlin konkurrieren kann. So bekommt die in den letzten Wochen von großer medialer Aufmerksamkeit begleitete Klasse 4c der Steinweg-Schule in Kleinmachnow am 3. Dezember schon die vierte Klassenlehrerin im laufenden Schuljahr. Eine Vorgängerin wurde pensioniert, zwei fanden außerhalb Brandenburgs günstigere Bedingungen vor.

Trotzdem: vergleicht man die Prognose der KMK (6.700) mit der tatsächlichen Einstellungspraxis der vergangenen fünf Jahre (7.805), ergibt sich in den ostdeutschen Ländern ein reales Plus von 1.105. Auch 2007 fanden mit 1.530 Lehrerinnen und Lehrern 130 mehr Pädagogen eine Stelle, als die KMK vorausgesagt hatte. Im Vergleich zum Vorjahr wurden in Brandenburg (2006: 206/2007: 223), Mecklenburg-Vorpommern (2006: 66/2007: 123) und Sachsen (2006: 363/2007: 475) besonders viele Lehrkräfte eingestellt, während sich Berlin (2006: 621/2007: 459), Sachsen-Anhalt (2006: 134/2007: 86) und Thüringen (2006: 362/2007: 164) erkennbar zurückhielten.

Allerdings entfallen auf die ostdeutschen Bundesländer gerade einmal 7,2 Prozent aller Einstellungen, und im Westen der Republik sieht die Situation flächendeckend schlechter aus. Entgegen der Einstellungsprognose der KMK (132.000) fanden in den vergangenen fünf Jahren nur 113.946 Lehrkräfte eine neue Anstellung. Der Vergleich der Jahre 2006 und 2007 weist allein für Niedersachsen (2006: 2.919/2007: 2.976), Rheinland-Pfalz (2006: 1.300/2007: 1.341) und Schleswig-Holstein (2006: 747/2007: 840) eine positive Bilanz auf. In anderen Bundesländern wurde ein überraschend deutlicher Rückgang registriert, so etwa in Baden-Württemberg (2006: 5.051/2007: 3.370), Bremen (2006: 274/2007: 208), Hamburg (2006: 770/2007: 559) oder Nordrhein-Westfalen (2006: 7.447/2007: 4.932).

Da aus mehreren Bundesländern keine Angaben zur Zahl der Bewerber vorliegen, lässt sich die Höhe der Lehrerarbeitslosigkeit nur über Hilfsrechnungen abschätzen. Kathrin Dedering und Frank Meetz gelangen zu dem Schluss, „dass im Einstellungsjahr 2007 in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt rund 30.700 Personen nicht zum Zuge gekommen sind.“

Lehrermangel und Lehrerarbeitslosigkeit

Nach Angaben des Bayerischen Philologenverbandes war „der reguläre Bewerbermarkt“ zu Beginn des neuen Schuljahres 2007/08 „in allen Fächern außer Kunst und Musik leergefegt“. In der begehrten Fächerkombination Mathematik/Physik konnten sich sogar Bewerber mit einer Staatsexamensnote von 3,29 noch über eine Planstelle freuen.

Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Dieser banalen Erkenntnis hat sich auch das Bayerische Kultusministerium geöffnet, nachdem die aktuellen Zahlen, Daten und Fakten keinen Zweifel mehr daran lassen, dass der Freistaat einen eklatanten Lehrermangel aufweist. Nun sollen private Arbeitsvermittler bei der Suche nach geeignetem – und das heißt wohl: möglichst kostengünstigem - Personal helfen. Schulen erhalten ein gesondertes Budget für Aushilfskräfte, um die größten Versorgungslücken mit Hilfe von pensionierten oder früher abgelehnten Lehrkräften, Lehrern aus dem benachbarten Österreich und Absolventen verwandter Berufe zu stopfen.

Dabei wurden in Bayern im laufenden Jahr 11,5 Prozent weniger Lehrer eingestellt als 2006 – sollten tatsächlich rund 30.000 Pädagogen keinen Job gefunden haben, kann die rigide Einstellungspraxis eben doch nicht nur mit dem fehlenden Arbeitskräfteangebot zusammenhängen.

Dass finanzielle Erwägungen vielerorts die entscheidende Rolle spielen, wenn Planstellen nicht oder nur befristet und auf Honorarbasis besetzt werden, zeigt der Blick nach Berlin, wo „Billig-Lehrer“ und „Ein-Euro-Pädagogen“ mittlerweile zum Schulalltag gehören. Im Dritten Privatisierungsreport, den die GEW Mitte Februar veröffentlichte, wird Jürgen Schulte vom Berliner Gesamtpersonalrat Schulen mit der Einschätzung zitiert, dass derzeit etwa 3.000 Ein-Euro-Jobber an den allgemeinbildenden Schulen der Hauptstadt tätig sind. „Mindestens 50 Prozent von ihnen“, so Schulte, werden für pädagogische Aufgaben oder „im pädagogischen Randbereich“ eingesetzt.

Eine Frage des Geldes

Die „paradoxe Situation der Gleichzeitigkeit von Lehrer-Mangel und –Arbeitslosigkeit“ führt der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne auf gezielte Fehlsteuerungen in der Bildungspolitik der „alten“ Bundesländer zurück.

Die Sparkommissare in den (westlichen) Ländern sind für die Diskrepanz zwischen Bedarf und Einstellungspraxis verantwortlich. Kurzsichtig werden Haushaltslöcher zu Lasten von Lehrkräften, Schülern und Eltern gestopft.

Ulrich Thöne

Durch unsichere Arbeitsverhältnisse, aber auch durch längere Arbeitszeiten und offensichtliche Mehrbelastung bei gleichzeitig schlechterer Bezahlung laufe das Bildungssystem insgesamt Gefahr, den Herausforderungen einer modernen Wissenschaftsgesellschaft nicht mehr gerecht werden zu können und international noch weiter Anschluss zu verlieren. So sieht es auch der Bayerische Philologenverband, dessen Vorsitzender Max Schmidt befürchtet, dass sich die infolge des Lehrermangels gesuchten Seiteneinsteiger und Berufsrückkehrer mit den in Aussicht gestellten „1700 Euro netto für eine 60-Stunden-Woche kaum locken, sondern eher abschrecken“ lassen.

Dabei bleibt die Qualität von Bildung auf der Strecke: Schüler brauchen beispielsweise mehr individuelle Förderung und erweiterte Ganztagsangebote. Das klappt aber nur, wenn die Lehrkräfte mehr Zeit für die Kinder und Jugendlichen haben.

Ulrich Thöne

Um der chronischen Unterfinanzierung des deutschen Bildungswesens entgegenzuwirken, plädiert Thöne dafür, sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesen Bereich zu investieren. „Wenn wir das Problem nicht schnell lösen, ohne die Qualität zu senken, ist der negative Effekt größer als die positive Wirkung der PISA- Reformen“, meint auch Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Schließlich bekämen die deutschen Schülerinnen und Schüler schon jetzt weniger Unterricht als viele europäische Altersgenossen. Während englische und französische Schüler bis zum Abitur mehr als 11.000 Stunden haben und französische sogar auf 12.000 kommen, stagnieren die deutschen Kinder und Jugendlichen bei rund 10.000, rechnet Meidinger. Entscheidender ist dabei sicher die Qualität des Unterrichts, aber diese kann in Deutschland unter den ungünstigen Umständen der vergangenen Jahre ohnehin nicht gestiegen sein.

Langfristige Bedarfsanalyse

Angesichts der massiven und fortdauernden Probleme forderte der Verband Bildung und Erziehung Baden-Württemberg Ende Oktober eine „verlässliche, stabile und für einen längeren Zeitraum ausgerichtete Lehrerbedarfsanalyse“. Abgesehen von den menschlichen Schicksalen sei die Ausbildung von jungen Lehrkräften auch zu kostspielig, als dass man gute Pädagogen nach dem Referendariat in die Arbeitslosigkeit entlassen dürfe. Die Erstellung einer professionellen Lehrerbedarfsprognose für jeweils ein Jahrzehnt könne verhindern, dass es an den Schulen weiter zugehe „wie auf einem Großmarkt: mal Lehrerschwemme, mal Lehrermangel - je nach Saison oder Angebot und Nachfrage“.

Nach den Vorstellungen des Verbandes sollte neben den Geburtenzahlen auch die Anzahl der Pensionierungen berücksichtigt werden und darüber hinaus: Fehlzeiten durch zunehmende Erkrankungen, Fächerbedarf, Trends bei der Schullaufbahnwahl, Teilzeit und Beurlaubungen, Schulentwicklung, Intentionen der neuen Bildungspläne und die politisch gewollte Zunahme von Ganztagesschulen und Betreuungsangeboten.

Ob eine solche Bedarfsanalyse von den Bundesländern als bindend betrachtet wird, darf nach den Erfahrungen mit den Prognosen der Kultusministerkonferenz allerdings bezweifelt werden. Notlösungen, die eine weitere Eskalation knapp verhindern, dürften für die politischen Verantwortungsträger wesentlich attraktiver sein, und Mitte des nächsten Jahrzehnts könnte sich das Verhältnis von Planstellen und Bewerbern ohnehin wieder eingependelt haben. Wie viel Chancen das deutsche Bildungssystem bis dahin leichtfertig verspielt hat, steht auf einem anderen Blatt.