Volksabstimmung für eine "verbesserte Wertevermittlung"

Die Initiative "Pro Reli" will in Berlin das Pflichtfach Ethik abschaffen

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Das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits zweimal mit dem Thema beschäftigt. Im Juli 2006 lehnte Karlsruhe die Beschwerde einer damals 12-jährigen Schülerin und ihrer Eltern ab, die gegen die Einführung des Ethikunterrichts als ordentliches Lehrfach an Berliner Schulen geklagt hatten. Die Neufassung des Schulgesetzes im Paragraphen 12 (Abs. 6 Satz 1), die einen verpflichtenden Ethikunterricht für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 ab dem Schuljahr 2006/2007 ermöglicht hatte, sei verfassungsgemäß, weil die Betroffenen die Möglichkeit hätten, „um eine Befreiung vom Ethikunterricht nachzusuchen und dann gegebenenfalls verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen“.

Die Antragsteller beriefen sich nun „auf religiöse Erwägungen und Gewissensbedenken“ und beantragten bei der Berliner Schulverwaltung und beim Verwaltungsgericht die Befreiung des Mädchens von der Teilnahme am Ethikunterricht. Ihre Anträge blieben allerdings erfolglos, und auch eine erneute Verfassungsbeschwerde half den Mitgliedern der evangelischen Kirche nicht weiter. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts kam nun zu der Entscheidung, dass auch die Einführung eines verbindlichen Ethikunterrichts ohne Abmeldemöglichkeit „weder die Religionsfreiheit der Schülerin noch das Erziehungsrecht ihrer Eltern“ verletze.

Der Hinweis der Beschwerdeführer, seit der Einführung des Pflichtfaches Ethik, das „inhaltlich dem christlichen Glauben widerspreche“, habe sich die Zahl der Teilnehmer am Religionsunterricht um ein Viertel bis zu einem Drittel verringert, ließ die Karlsruher Richter unbeeindruckt. Schließlich umfasse der staatliche Erziehungsauftrag neben der Herausbildung eines Bewusstseins für Demokratie und Pluralismus, Gleichberechtigung und Verantwortung auch die Entwicklung von „sozialer Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden“.

Der Landesgesetzgeber darf der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenwirken und sich um die Integration von Minderheiten bemühen. Integration setzt nicht nur voraus, dass die religiös oder weltanschaulich geprägte Mehrheit jeweils anders geprägte Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzt und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und Andersgläubigen nicht verschließt. (...) Der Berliner Landesgesetzgeber durfte davon ausgehen, dass bei einer Separierung der Schüler nach der jeweiligen Glaubensrichtung und einem getrennt erteilten Religionsunterricht oder der Möglichkeit der Abmeldung von einem Ethikunterricht den verfolgten Anliegen möglicherweise nicht in gleicher Weise Rechnung getragen werden könne wie durch einen gemeinsamen Pflicht-Ethikunterricht.

Bundesverfassungsgericht

37.389 Unterschriften für die Gleichstellung von Religions- und Ethikunterricht

Eine Gruppe „engagierter Bürger aus dem Berliner Raum“ will sich aber auch mit dieser Entscheidung nicht zufrieden geben. Sie hat Schüler, Studierende, Pädagogen, Freiberufler, politisch Engagierte „und nicht zuletzt Mütter und Väter“ auf der "Aktionsplattform Pro Reli" versammelt. Der Senatsinnenverwaltung liegen mittlerweile 37.389 Unterschriften vor – fast doppelt so viele, wie nach Artikel 62 und 63 der Berliner Verfassung für den Start eines Volksbegehrens notwendig wären.

Die erneute Änderung des Schulgesetzes ist folgerichtig bereits ausformuliert: Ethik und Religion sollen an den öffentlichen Schulen gleichberechtigte ordentliche Lehrfächer werden. Alle Schülerinnen und Schüler müssten also entweder am Religions- oder am Ethikunterricht teilnehmen.

Pro Reli begründet seinen Vorstoß im wesentlichen mit dem Argument, dass ethisches Handeln, Respekt und Toleranz Ergebnisse einer weltanschaulichen Prägung sind, die unterschiedliche Formen annehmen kann, aber gleichermaßen auf eine „Reflexion über sittliche und moralische Wertvorstellungen für unsere Gesellschaft“ zielt.

Ethisches Handeln und Toleranz gegenüber Andersdenkenden ist vor allem bei demjenigen zu finden, der sich seiner eigenen weltanschaulichen Grundüberzeugungen bewusst ist. Dadurch, dass er oder sie den Wert der eigenen Grundüberzeugung erkennt, wachsen auch der Respekt und die Toleranz vor den Grundüberzeugungen der jeweils Anderen. Oder wie der verstorbene Bundespräsident Rau sagte: „Wer nirgendwo zuhause ist, kann keine guten Nachbarn haben.“

Pro Reli

Dem unvoreingenommen Betrachter scheint das Problem eher darin zu bestehen, dass viele Religionsgemeinschaften im Laufe ihrer Geschichte überall zuhause sein wollten und keinerlei Wert auf ihre Nachbarn legten, aber diesen Aspekt musste Pro Reli aus naheliegenden Gründen ausklammern. Ähnlich verfuhr die Riege namhafter Unterstützer, zu denen neben dem EKD-Ratspräsidenten Bischof Wolfgang Huber, Georg Kardinal Sterzinsky und CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla auch die Fraktionsvorsitzenden von CDU und FDP im Berliner Abgeordnetenhaus gehörten, wobei der Mantel der Geschichte diesmal offenbar den Liberalen-Chef Martin Lindner streifte.

Die Berliner wollen in ihrer breiten Mehrheit kein rot-rotes Einheitswertefach, sondern vielfältige Angebote der Wertevermittlung. (...) Das staatlich verordnete Zwangseinheitswertefach tritt dagegen die Gewissensfreiheit nach sozialistischer Manier mit Füßen. Wir haben in der deutschen Geschichte schlechte Erfahrungen mit staatlich verordneten Werten gemacht. Die Berliner werden ihre Kinder nicht noch einmal staatlich genormten Einheitswerten von sozialistischen Parteien aussetzen.

Martin Lindner

Nach der Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms hofft Pro Reli überdies, dass sich „weite Teile der SPD“ für eine Aufwertung des Religionsunterrichts begeistern können.

Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt.

Hamburger Programm - Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (28. Oktober 2007)

Die Trennung von Kirche und Staat, eine Bremer Klausel und das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union lehnt das Volksbegehren von Pro Reli entschieden ab. Eine Gleichstellung beider Unterrichtsfächer sorge am Ende nur dafür, dass die Ethikstunden zum „moralischen Ersatzdienst für Religionsunterrichtsverweigerer“ mutierten. Außerdem stehe es momentan allen Berlinern frei, sich für oder gegen einen religiös oder weltanschaulich gebundenen Unterricht zu entscheiden. (Der dann allerdings zusätzlich zum Fach Ethik belegt werden muss.) Ein neues Wahlpflichtfach Ethik/Religion vermenge bekenntnisgebundenen mit dem allgemeinbildenden staatlichen Unterricht, „der religiös und weltanschaulich neutral sein muss“, und gefährde auf Dauer die Trennung von Kirche und Staat.

Die Befürworter des Pflichtfachs Ethik, die in Berlin übrigens gerade auch aus den Reihen der Sozialdemokraten kommen, berufen sich überdies auf die sogenannte „Bremer Klausel“. Sie basiert auf Artikel 141 des Grundgesetzes und besagt, dass Bundesländer, die am 1. Januar 1949 kein Lehrfach Religion angeboten haben, dieses auch später nicht einführen müssen. Sie können damit die ebenfalls im Grundgesetz verankerte Bestimmung - „Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach“ – außer Kraft setzen.

In Bremen selbst hat die Klausel dazu geführt, dass „Biblische Geschichte/Religionskunde“ auf einer „allgemein christlichen Grundlage“ unterrichtet wird. Wer daran nicht teilnehmen möchte, kann in ein „vom Senator für Bildung und Wissenschaft bestimmtes geeignetes Alternativfach“ wechseln.

In Brandenburg, wo die Gültigkeit der „Bremer Klausel“ umstritten war, liegt die vorläufige Lösung noch näher an der Berliner Regelung. Hier wird - nach kontroversen Auseinandersetzungen – in staatlicher Verantwortung und Organisation nur das Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ unterrichtet, das explizit „bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral“ ausgerichtet sein soll.

Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren. Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen.

Brandenburgisches Schulgesetz

Im Gegensatz zur Berliner Version sieht das Schulgesetz in Brandenburg für Eltern und Kinder allerdings die Möglichkeit vor, sich von „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ abzumelden und stattdessen einen konfessionellen Religionsunterricht zu wählen.

Diese Möglichkeit gibt es grundsätzlich auch im nahe gelegenen Mecklenburg-Vorpommern, wo die Alternativen Religion oder Philosophie heißen. Allerdings hat Oberkirchenrat Jürgen Danielowski von der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass 14 Prozent aller Schüler weder in Wissens- noch in Glaubensfragen unterrichtet werden. In beiden Fächern fehlen die Lehrer …

Die nächsten Schritte

Da nicht davon auszugehen ist, dass die Berliner Abgeordneten der von Pro Reli beantragten Gesetzesänderung zustimmen werden, deutet alles auf eine längere Auseinandersetzung hin, in deren Verlauf sich die schon jetzt erkennbaren ideologischen Kontroversen weiter verschärfen dürften. Immerhin wurden schon die potenziell betroffenen Kinder auf die Straße geschickt, um das Anliegen der etwas Größeren mit sinnreichen Plakatsprüchen zu illustrieren.

Ich finde Religionsunterricht super, weil man dort lernt mit Gott zu reden. Ich finde den Religionsunterricht super, weil hier auch schlechtere Schüler gute Noten bekommen können.

Plakattexte von „demonstrierenden“ Kindern aus Berlin

Um den Volksentscheid durchführen zu können, müsste die Initiative nun 7 Prozent der Wahlberechtigten, also rund 170.000 Berlinerinnen und Berliner, auf ihre Seite und auch noch dahin bringen, ihre Solidarität durch eine Unterschrift zu bekräftigen.

Wenn das gelingt, muss der Volksentscheid durchgeführt werden. Allerdings hätte das Abgeordnetenhaus die Möglichkeit, einen Alternativvorschlag in die Abstimmung einzubringen. Pro Reli wäre nach den Bestimmungen der Verfassung erst erfolgreich, wenn die Mehrheit der Wähler und „mindestens ein Fünftel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten“ innerhalb von vier Monaten der Gesetzesänderung zustimmt.

Im Ernstfall braucht die Bürgerinitiative also weit mehr als 37.000 Unterschriften – gut 600.000 Wählerstimmen sind für die Durchsetzung der Beschlussvorlage nötig. Mit einer Entscheidung ist voraussichtlich im Sommer oder Herbst 2008 zu rechnen.