"Das einzige, was bei uns noch stramm steht"

Rumäniens Imageprobleme

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Das einzige, was in Rumänien noch stramm steht, sind laut einer Imagekampagne des rumänischen Fremdenverkehrsamtes ausgerechnet die Kirchtürme. Dabei dürfte der Stereotyp des militaristischen Warschauer-Paktes-Staates keineswegs das größte Image-Problem Rumäniens sein.

Mit Rumänien verbindet der gemeine Zentraleuropäer zunächst einmal Vampire; das verwunderte die Rumänen Anfang der 1990er sehr, war doch Bram Stokers Dracula bis Ceausescus Ende nicht ins Rumänische übersetzt und die ganze Dracula-Geschichte in Rumänien ergo praktisch unbekannt. Blutsauger kommen in der rumänischen Volkssage überhaupt nicht vor. Die zweite Assoziation ist ein bettelarmes Land mit verfallenen Plattenbauten, verzweifelten Bewohnern und korrupter Obrigkeit.

Daran änderte auch die Tatsache wenig, dass deutsche Online-Medien die Straße in den Orient entdeckten. Maximilian Popp von Spiegel Online fuhr im Bulli von München nach Istanbul, Timo Friedmann von Bild.de legte in einer etwas moderneren VW-Variante die Strecke von Hamburg nach Israel zurück.

In der guten alten Zeit hätte man den Autoput genommen, heute führt die Strecke bis zum Verlassen des griechischen Territoriums auf EU-Gebiet, via Rumänien, sodass man sich dieses unheimliche Land gleich selbst ansehen kann. Popp macht gleich an der Grenze Bekanntschaft mit einer der zahlreichen ethnischen Minderheiten Rumäniens:

Barfüßige Kinder laufen um den Bus, Kinder mit nassen Hosen, Dreck in den Ohren, Spucke am Kinn, Schorf auf der Nase. Sie wiederholen mechanisch den einzigen englischen Satz, den sie beherrschen: "Please Sir, money!" Wo sind wir hier? Das Straßenschild sagt: Rumänien. "Nein", sagt Maria, "das hier ist Afrika."

Friedmann überquert die Grenze bei Oradea und kann die bezaubernde Art-Nouveau-Stadt anscheinend gar nicht goutieren:

Dahinter wartet Oradea, ein Albtraum. Rumänien erwischt dich hier mit einer knallharten Linken. Bettelnde Straßenkinder, stinkende Busse, monströse, verfallende Plattenbauten. Jedes Vorurteil bekommt hier Nahrung satt.

Beide scheinen froh zu sein, das Land hinter sich lassen zu können, als sie nach Bulgarien kommen. Ist die rumänische Realität wirklich so schlimm? Oder hat Rumänien nicht eher ein massives Image-Problem?

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist Rumänien nicht das ärmste EU-Land; das ist Bulgarien, mit fast 10% weniger Bruttosozialprodukt pro Einwohner. In Sachen Wirtschaftswachstum belegt Rumänien mit 4,4% einen der vordersten Plätze innerhalb der EU. Die Arbeitslosigkeit beträgt im Schnitt 7,3%; in den Wachstumsregionen in Transsylvanien und um Bukarest soll sie laut BBC sogar um die 2% liegen.

Die Infrastruktur ist ein Problem, an dem allerdings heftig gearbeitet wird – was aufgrund der massiven Arbeiten allerorten vorübergehend weitere Probleme verursacht. Das musste auch Popp vom Spiegel erfahren:

Die Straßen werden schlechter, die Schlaglöcher tiefer. Wellen erschüttern den Bus wie kleine Erdbeben. 100 Kilometer dauern fast drei Stunden. Wir fahren durch violettschwarze Dunkelheit. Von Budapest nach Bukarest an einem Tag? Unmöglich! Also übernachten wir im Bulli an der Donau.

Wenn ihm doch jemand gesagt hätte, dass im Bezirk Mehedinti derzeit der komplette Straßenbeleg erneuert wird (wozu er zuerst entfernt wurde)! Nebenbei gesagt, wäre es ohnehin vernünftig gewesen, bei einer Überlandfahrt der Hauptstraße inklusivere Autobahn zu folgen, so wie es der Kollege vom auto-affineren Bild-Portal tat.

Zurück zur rumänischen Infrastruktur. Das derzeit größte Autobahnprojekt Europas ist die Autostrada Transilvania, die Oradea mit Brasov in Zentralrumänien verbinden wird. Dort, in Brasov, wird in Kürze mit der Errichtung eines neuen, großes Flughafen begonnen, getragen vom kanadischen Investor Intelcan.

Timisoara, wo einst die Revolution begann; heute ein Zentrum der rumänischen Software-Industrie

Politisch ist Rumänien zwar turbulent – mit entlassenen Ministern, Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, viel zu viel Parteien mit ähnlichem Programm –, aber andererseits so stabil, dass ein unabhängiger Beobachter eigentlich nur von einem rumänischen Wunder sprechen kann.

Denn die Zahl der Minderheiten ist erheblich. Insgesamt 18 Volksgruppen, darunter Roma, Deutsche, Armenier, Ukrainer, Albaner, Juden und Tataren haben je einen garantierten Sitz im Parlament; dazu kommen die Ungarn, die als Minderheit so bedeutsam sind, dass ihre Partei sowieso problemlos die 5%-Hürde überspringt.

Der Umgang miteinander war nicht immer sanft; Anfang der 1990 war der offen anti-ungarische Funar gewählter Bürgermeister von Cluj, und 1990 wurde einer der bedeutendsten ungarischen Gegenwartsautoren, der 2006 verstorbene Dichter András Sütö, bei anti-ungarischen Ausschreitungen in Târgu Mures beinahe blind geprügelt. Viele Zungen munkeln, dass diese Spannungen der damaligen post-kommunistischen Führung zu Gute kamen, die damit von wirtschaftlichen Problemen und allgemein von der Machtverteilung ablenken konnte.

Die gute Nachricht ist nicht nur, dass sich die ethnische Spannungen auf ein sehr niedriges Niveau abgekühlt haben; besonders wichtig ist, wie dies geschah, nämlich auf rein demokratischem Wege. Funar wurde als Bürgermeister von Cluj abgewählt, die Post-Kommunisten verloren die Mehrheit im Parlament und den Präsidentenposten. Auch bei der kürzlich erfolgten Europawahl zeigte der rumänische Wähler seine Besonnenheit: Die Großrumänienpartei von Vadim Tudor, die bisher im Europaparlament vertreten war, konnte nicht mehr einziehen, genauso wenig wie die Partei von Becali.

Freilich ist es nicht schwer, hässliche Dinge in Rumänien zu sehen. Allerdings ist es wie immer eine Frage, wohin man seinen Blick richtet. Was würde wohl ein ausländischer Besucher über die deutsche Sauberkeit sagen, wenn er nur die Berliner U-Bahn erlebt hat? Über die allgemeine Sicherheit, wenn er in Neukölln nächtigte?

Das deutsche Rumänien-Bild wird immer noch von Straßendörfern und dem Moloch Bukarest geprägt. Das „neue“ Rumänien mit frisch asphaltierten Straßen, unlängst renovierten Häusern und boomender Industrie findet sich vor allem in Transsylvanien. In einer Stadt wie Brasov ist es schwierig, irgendein Rumänien-Klischee bestätigt zu bekommen. Ähnlich verhält es sich mit Cluj, Sibiu oder dem Zentrum des Banat, Timisoara (und übrigens auch mit der bezaubernden Grenzstadt Oradea, wenn sie jemand die Mühe macht, ins Zentrum zu fahren). Wer dagegen eine Reportage fürs Privatfernsehen machen möchte, dem sei ein Besuch in einer der Schwerindustriestädte der Walachei angeraten.

Im Gegensatz zur Tschechischen Republik und Ungarn ist Prostitution in Rumänien illegal. Sie existiert natürlich trotzdem, doch bei weitem nicht in dem Ausmaß der genannten Länder. Dass rumänische Landstraßen bzw. Stadtränder dementsprechend würdevoller erscheinen als ihre Äquivalente jenseits der deutschen bzw. österreichischen Grenze, scheint kein Thema für Dokumentationen zu sein.

Rumänien hat noch einen weiten Weg vor sich, ehe es die Standards der anderen osteuropäischen Länder oder gar Westeuropas erreicht. Allerdings lässt sich dem Land nur mit Böswilligkeit die Tatsache absprechen, dass es derzeit eine Entwicklungen hin zum Positiven gibt. Das zeigen nicht nur die wirtschaftlichen Indikatoren, die politisch-demokratische Entwicklung und die umfassenden Infrastrukturmaßnahmen, sondern auch ein simpler Besuch in Transsylvanien.

Sonntagmorgen in Brasov, einer der boomenden Städte Transsylvaniens