Schneller erwachsen und nur entfernt verwandt

Der Neandertaler ist sehr verschieden von uns

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Neue Untersuchungen belegen, dass der Neandertaler deutlich früher erwachsen wurde, als der moderne Mensch. Und erneut zeigen Untersuchungen, dass es wohl keine gemeinsamen Nachkommen gab – umstrittene Knochenfunde werden jetzt als eindeutige Überbleibsel des Homo sapiens sapiens definiert.

Mindestens 10.000 Jahre lang lebte der Neandertaler Seite an Seite mit dem modernen Menschen – dem Homo sapiens sapiens – in Europa. Schon lange zuvor besiedelte er den Kontinent und er war ein äußerst erfolgreicher Mensch. Aber vor ungefähr 30.000 Jahren trat er endgültig aus der Geschichte ab. Unsere Vorfahren, die aus Afrika zuwanderten, verdrängten ihn (vgl. Wir sind alle Afrikaner).

Warum und wie genau das geschah, darüber wird wissenschaftlich noch debattiert, aber immer deutlich zeichnet sich ab, dass dieser menschliche Onkel nicht direkt mit uns verwandt ist und sich zudem in entscheidenden Punkten von uns unterscheidet.

Die Schädelform eines modernen Menschen (blau) im Vergleich zu der eines Neandertalers (rot). Gelbe Punkte zeigen die dreidimensionalen Messpunkte, die in der Studie den Cioclovin-Schädel betreffend verwendet worden sind. Abbildung: MPI/ Scan v. Maximilian von Harling

Er war kein primitiver Vormensch, der Homo sapiens neanderthalensis, der aus dem Dunkel der Frühgeschichte erstmalig vor rund 150 Jahren auftauchte, als Fossilien von ihm im Neandertal bei Mettmann gefunden wurden. Er war fähig, ausgeklügelte Waffen aus Stein und Knochen herzustellen und klebte Werkstoffe mit Birkenpech zusammen, er trug selbst gefertigte Kleidung und verwendete Körperbemalung. Der Neandertaler kümmerte sich um verletzte Angehörige und zumindest in einigen Fällen bestattete er seine Toten. Das Bild vom komplett behaarten, wilden Mann ist längst überholt (vgl. Neues vom wilden Mann). Vieles weist daraufhin, dass er ein Kulturwesen war, dass er sich durch Sprache verständigte und heute – zeitgenössisch bekleidet – in einer Großstadtmenge kaum auffallen würde. Dennoch war er nicht wie wir - und immer mehr wird deutlich, dass er kein direkter Vorfahre des modernen Menschen ist, sondern eine Seitenlinie darstellt, die am Ende erlosch, ohne Spuren in uns zu hinterlassen.

Das Neandertaler-Genom-Projekt, das sich mit der Entzifferung seines Erbgutes beschäftigt, verkündete erst vor wenigen Monaten, dass es keinen Sex zwischen modernen Menschen und Neandertalern gegeben hat – zumindest keinen, der zu gemeinsamen Nachkommen führte. Anderslautende Meldungen aus der Vergangenheit erweisen sich als falsch, denn das analysierte genetische Material war mit der DNS heutiger Menschen verunreinigt worden (vgl. Der Neandertaler spricht zu uns).

Dennoch gibt es nach wie vor eine kleine Fraktion von Anthropologen, die eine Vermischung für wahrscheinlich hält und immer wieder angeblich neue Beweise für diese These vorlegt. Diese Wissenschaftler versuchen ihre Hypothese vor allem mit der Interpretation von Knochenfunden zu untermauern. Der bekannteste Vertreter dieses Ansatzes ist Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis. Zuletzt stellten er und seine Mitstreiter Fossilien aus rumänischen Funden als Belege für Hybriden vor. Darunter einen Schädel aus Cioclovina, der 28.000 bis 29.000 Jahre alt ist und damit aus der Zeit stammt, als der Neandertaler als eigene Menschenform bereits verschwunden war. Die Gruppe um Erik Trinkaus deutete seine Form als eine Mischung von Merkmalen sowohl des Neandertalers als auch des modernen Menschen (vgl. The Human Cranium from the Pestera Cioclovina Uscata, Romania).

Das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sorgt immer wieder für neue Erkenntnisse über die Entstehung und Entwicklung des Menschen. Eine Forschergruppe um Katerina Harvati untersuchte den Schädel nun erneut eingehend – und im Gegensatz zu ihren Vorgängern fanden sie nur eindeutige Merkmale des Homo sapiens sapiens (vgl. Cioclovina, Romania: Affinities of an early modern European). Die Wissenschaftler werteten verschiedene Daten hinsichtlich der Körperform aus und verglichen sie mit Körpergröße und –form heute lebender hybridisierender Primaten- und Säugetiere. Dabei erwies sich, dass die Anatomie des Cioclovina-Schädels schlicht dem modernen Menschen entspricht – vor allem im Vergleich mit den Köpfen unserer Vorfahren, die den Neandertaler als Europäer ablösten. Katerina Harvati kommt zu dem klaren Schluss: „Der Cioclovina-Schädel erfüllt die Erwartungen an eine Mischform zwischen Neandertaler und modernem Menschen weder in seiner Gesamtform noch in seinen anatomischen Details. Es handelt sich in jeglicher Hinsicht um einen typischen Vertreter des modernen Menschen. Wir denken, dass diese Gestalt möglicherweise charakteristisch für frühe moderne Menschen ist, die vor etwa 40 000 Jahren aus Afrika ausgewandert sind und die Vorfahren heute lebender Menschen sind.“

Dem Neandertaler den Zahn gezogen

Ebenfalls am Max-Planck-Institut in Leipzig nahm ein Team um Tanya M. Smith die Zähne eines vor 100 000 Jahre verstorbenen, etwa 8jährigen Neandertaler-Kindes unter die Lupe, bzw. die hoch auflösende Computertomografie. Der uralte Backenzahn war in Scladina in Belgien gefunden worden. Die Forschergruppe analysierte mithilfe eines Mikro-Computertomografie-Scans die Wachstumslinien im Inneren und an der Oberfläche des Zahns, um die Geschwindigkeit des Zahnwachstums zu rekonstruieren.1

Wachstumslinien in einem Neandertalerzahn (links - diagonal verlaufende Linien) und an der Außenseite (rechts - horizontale Linien). Das Zählen und Vermessen dieser Linien half bei der Alterbestimmung des Kindes auf acht Jahre zum Todeszeitpunkt. Bild: Tanya Smith, MPI für evolutionäre Anthropologie

Schon zuvor hatten sich andere Wissenschaftler an die detaillierte Analyse der Zähne des Neandertalers gemacht, um eine Vorstellung über seine Kindheit und Jugend zu gewinnen. Das Wachstum der Zähne verläuft bei allen Primaten ähnlich und ein herausragendes Merkmal ist stets die Bildung der Backenzähne. Sie sind verbunden mit anderen Entwicklungsschritten des Körpers wie zum Beispiel der Entwöhnung. Zuletzt hatte sich ein internationales Wissenschaftlerteam vor einem Jahr mit der Materie beschäftigt und war zu dem Schluss gelangt, dass der Homo sapiens neanderthalensis zum Erwachsenwerden genauso lang brauchte wie der Homo sapiens sapiens (vgl. Roberto Macchiarelli et al.: How Neanderthal molar teeth grew).

Dem widersprechen nun die Leipziger vehement. Ihre Vergleiche des inneren Aufbaus des Zahns und der Hinweise auf eine entwicklungsbedingte Spannung, die auf den Oberflächen der Zahnkronen und -wurzeln zu sehen ist, ergaben ein Abbild der chronologische Abfolge des Zahnwachstums beim Neandertaler. Und es zeigte sich, dass die Beißerchen des ersten Europäers schneller wuchsen als die des modernen Menschen. Das Scladina-Kind starb im Alter von circa acht Jahren, es dürfte zu diesem Zeitpunkt aber bereits auf dem Entwicklungsstand eines 10-12 Jahren alten Homo sapiens sapiens-Kindes gewesen sein. Der Neandertaler wurde also schneller erwachsen als unsereins – und damit hatte er weniger Ausbildungszeit. Co-Autor Jean-Jacques Hublin kommentiert: "Wir gehen nun davon aus, dass sich auch andere Aspekte der körperlichen Entwicklung beim Neandertaler schneller vollzogen, und das könnte auch zu maßgeblichen Unterschieden in Verhalten oder Sozialgefüge geführt haben."