Hohe Mauern und Wachtürme schützen Polens Oberklassse

Während viele Mieter ihre Wohnungen kaum mehr zahlen können und von Zwangsräumungen bedroht sind, breiten sich gleichzeitig die Gated Communities aus und zerstören den öffentlichen Raum

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Trotz der seit dem EU-Beitritt des Landes ungebremst anhaltenden, massenhaften Arbeitsemigration gen Westen, die inzwischen Millionen von Polen erfasste und zumeist auf die Britischen Inseln oder Irland spülte (Der große Aderlass), wird Polens Wohnungsmarkt immer noch von einer ausgeprägten Wohnraumknappheit geplagt. Angesichts des dürftigen Angebots an Wohnraum haben es Polens Hausbesitzer, denen im Zuge der Systemtransformation ein Großteil des Altbaubestands zugeschanzt wurde, nicht besonders schwer, ihre Interessen gegenüber den zumeist sozial benachteiligten Mietern durchzusetzen. Noch vor wenigen Jahren konnten rechtliche Beschränkungen den Hausbewohnern zumindest ein Grundmaß an Sicherheit und Schutz vor Mieterwillkür garantieren.

Es war eine im inzwischen europaweit üblichen orwellschen Jargon titulierte Gesetzesergänzung, die die rechtliche Benachteiligung von Polens Mietern zementierte. Am 1. Januar 2007 trat das wiederholt abgeänderte und Jahre lang umstrittene Gesetz über den Schutz der Mieterrechte in Kraft , mit dem die Mieterrechte zwischen Oder und Bug entscheidend geschwächt wurden.

Neues Dach, abblätternder Putz: Partiell renovierter Altbau in Gostyn/Westpolen

Diese Mietrechtsreform erlaubt es den Vermietern, unter Angabe fadenscheiniger Begründungen die Mieten unbegrenzt anzuheben. Laut dieser Regelung dürfen die Hausbesitzer einmal pro sechs Monate die Miete erhöhen, wobei sie in der Aufstellung der Kosten auch einen Posten für einen „angemessenen Gewinn“ angeben können. Wie hoch solch eine angemessene Grundrente zu sein hat, bleibt der Willkür der Vermieter überlassen. Wie hoch ein angemessener Ertrag sein könne, hätten die Gesetzgeber nicht erläutert, erklärte Ewa Brylewska von der Polnischen Mieterunion gegenüber der Tageszeitung Dziennik. „Für einen Vermieter mögen das 100 Zloty sein, für einen anderen 10.000. Und der Mieter hat keine Wahl, er muss zahlen. Und dass nennt sich Mieterschutz?“

Der Luxus der Plattenbausiedlungen

An die sechs Millionen Polen leben in den privatisierten Häusern und sind von dieser Regelung betroffen. Die zumeist in der Nähe der Stadtzentren nach dem Krieg wieder aufgebauten Mehrfamilienhäuser beherbergen die sozial schwächsten Schichten der polnischen Gesellschaft. Ihr baulicher Zustand ist oftmals sehr schlecht, von einem Komfort wie in den Plattenbausiedlungen, die sich wie ein peripherer Ring um das Zentrum einer jeden polnischen Stadt legen, kann in den oftmals verschimmelten, mit Kohleöfen beheizten und mit Etagenklos ausgestatteten Altbauten keine Rede sein. Zu Zeiten der Volksrepublik Polen waren die Mieter froh, wenn sie die Unterkunft im Altbau gegen eine mit Zentralheizung und Warmwasser ausgestattete Plattenbauwohnung tauschen konnten. Während der Systemtransformation etablierte sich oftmals eine entsprechende soziale Schichtung dieser urbanen Räume, nach der die Mittelklasse weiterhin in den genossenschaftlich betriebenen Plattenbauten wohnt, während die Unterschicht in den Ghettos der Altbauviertel ihr Dasein fristet.

Laut Piotr Ciszewski von der syndikalistischen Gruppe „Rotes Kollektiv – Linke Alternative“ (Ck-LA), ist die soziale Lage in den Plattenbausiedlungen auch deswegen um einiges besser, weil dort kommunales und genossenschaftliches Eigentum dominiert. „Am schlimmsten ist es in alten, noch vor dem Krieg gebauten Mehrfamilienhäusern, in Städten, die nicht so stark zerstört wurden während des Krieges. Dort melden sich die meisten Alteigentümer, und sie haben es dort am einfachsten, ihre Ansprüche geltend zu machen,“ erklärte Ciszewski.

Lebendige und architektonisch reizvolle, vom dem Stil der Gründerzeitarchitektur geprägte Stadtteile wie Wilda oder Jerzyce gelten zum Beispiel in Poznan als die „schlechten Adressen“ der Stadt. Eine Gentrifiziernung nach westeuropäischem Muster, also eine umfassende, mit der Verdrängung finanzschwacher Mieter einhergehende Erneuerung und Modernisierung dieser architektonisch reizvollen, von einem lebendigen Nachbarschaftsleben geprägten Wohnviertel findet (noch) nicht statt.

0,36 Quadratmeter Wohneigentum als Gegenwert eines monatlichen Durchschnittslohns

Inzwischen sind Mietrückstände in Polen zu einem Massenphänomen avanciert. Anfang 2007 lag jeder dritte Haushalt mit seinen Mietzahlungen im Rückstand, während jeder zehnte Mieter die Zahlungen gänzlich einstellte. Die Gesamtschulden der polnischen Mieter belaufen sich mittlerweile auf stattliche 1,5 Milliarden Zloty (ca. 410 Millionen Euro).

Überdies haben sich auch Teile der aufstrebenden polnischen Mittelschicht bei dem Erwerb von Eigentumswohnungen finanziell überfordert. Wie die Zeitung ?ycie Warszawy berichtete, haben 15 bis 20 Prozent der Einwohner von Neubauvierteln Probleme mit der Bedienung ihrer Kredite oder Hypotheken. Hierbei handelt es sich oftmals um Familien, in denen beide Partner arbeiten und – für polnische Verhältnisse - gut verdienen, und die trotzdem den anvisierten Lebensstandard mitsamt Hypothek nicht halten können.

Auch in Polens Kleinstädten finden sich die für Osteuropa typischen, genossenschaftlich verwalteten Plattenbauten. Hier: Gostyn

Den kleinbürgerlichen Traum von den eigenen „vier Wänden“ können sich mittlerweile immer weniger Bürger Polens erfüllen. Der durch den EU-Beitritt Polens ausgelöste Boom auf dem Immobilienmarkt führte zu einer Verdopplung, teilweise zu einer Verdreifachung der Preise für Grundstücke und Eigentumswohnungen. Laut neuester Schätzungen der Finanzberatungsfirma AZ Finanse ist der durchschnittliche, 3000 Zloty (ein Euro sind 3,6 Zloty) verdienende Angestellte nicht mehr in der Lage, einen angemessenen Kredit zu erhalten, um eine Wohnung in den Ballungszentren Polens zu erwerben. Am 11. Dezember wurden in den polnischen Medien neue Zahlen zur Relation zwischen Verdiensten und Immobilienpreisen veröffentlicht. Demnach erhielten die Bürger Polens nur noch 0,36 Quadratmeter Wohneigentum als Gegenwert des monatlichen Durchschnittslohnes, was einem Fall der Immobilienkaufkraft um 20 Prozent binnen eines Jahres entspricht. Zudem ist die von der polnischen Bevölkerung zu tragende Hypothekenlast innerhalb der letzten 12 Monate um sagenhafte 80 Prozent auf 12,8 Milliarden Zloty gestiegen.

Für die einkommensschwachen Bewohner der „privatisierten“ Häuser minimieren sich somit die Chancen, eigenes Wohneigentum zu erwerben. Es verwundert somit nicht, das mit jeder gesetzlich sanktionierten Welle von Mietpreiserhöhungen auch die Zahl von Zwangsräumungen und Zwangsvollstreckungen innerhalb der Schicht all jener 2,8 Millionen polnischen Familien steigt, die der Willkür der neu entstandenen Hausbesitzerkaste ausgeliefert sind. Als im April 2005 das polnische Verfassungsgericht die Mietpreisbeschränkung aufhob, schnellten die Mieten innerhalb weniger Wochen im Landesdurchschnitt um 10 Prozent hoch. Überdurchschnittlich stiegen die Mieten in den Folgemonaten in allen größeren Ballungszentren, vor allem aber in Warschau, wo sie sich schon längst verdoppelten.

Widerstand gegen Mietwucher und Zwangsräumungen

Astronomische Preiserhöhungen von mehreren hundert Prozent mussten hingegen die Mieter in attraktiv gelegenen Lagen der Innenstädte aller polnischen Ballungszentren – wie Krakow, Wroclaw, oder Poznan - verkraften. Diese Erhöhungen fanden und finden koordiniert statt, Die Allpolnische Vereinigung der Immobilienbesitzer (OSWN) ruft ihre Mitglieder immer wieder auf, eine „möglichst rasche Angleichung der Preise an die Unterhaltskosten“ zu realisieren. Polens Zeitungen sind zudem regelmäßig überfüllt mit Berichten heftigster Schikanen oder astronomischer Mietpreiserhöhungen, denen Mieter immer wieder ausgesetzt sind. Oftmals schalten die Vermieter Gas, Strom und fließend Wasser ab, wenn sie die Untermieter zwecks Renovierung oder schlichter Immobilienspekulation vertrieben wollen.

Gegen dieses staatlich geförderte Willkürsystem regte sich schon immer sporadischer, unorganisierter Widerstand seitens einzelner Mieter oder ganzer Wohnblocks. Einen Kristallisationspunkt, der entscheidend zum Aufkommen einer organisierten Mieterbewegung in Polen beitrug, lieferte aber die polnische Bauministerin Barbara Blida, die für die sozialdemokratische Vereinigung der Demokratischen Linken (SLD) dieses Amt in den Jahren 1993 bis 1996 bekleidete. In bester sozialdemokratischer Tradition ließ sich Bilda von keinem noch so neoliberalen Reaktionär bei der Schleifung der Mieterrechte übertreffen: Sie führte eine Mietrechtsreform durch, die es erlaubte, säumige Mieter direkt „auf den Bürgersteig“ (Exmisja na brug) zu schmeißen. Mehrere tausend polnische Familien landeten infolge dieser rabiaten Zwangsräumungen in der Obdachlosigkeit.

Der Immobilienboom geht an der polnischen Provinz nahezu spurlos vorbei. Ebenfalls: Gostyn.

Gegen diese Räumungskampagne der Hauseigentümer entstand eine breite Opposition, die von unterschiedlichen, Organisationen getragen wurde. An prominenter Stelle fand sich der Rechtsanwalt Piotr Ikonowicz, der damals noch als Abgeordneter für die PPS, die Polnische Sozialistische Partei , im polnischen Sejm aktiv war. Ikonowicz vertrat die häufig mittellosen, von Räumung bedrohten Hausbewohner unentgeltlich von Gerichten. Zudem beteiligte er sich an sogenannten Räumungsblockaden, bei denen die Mieter zusammen mit linken Aktivisten oftmals erfolgreich – unter Anwendung passiven Widerstandes - eine Räumung abwehren konnten. Die PPS war damals führend an der Organisierung dieser Blockaden beteiligt. Ebenfalls engagiert war der sozialdemokratische Jungendverband der Union der Arbeit (Unia Pracy) und trotzkistische Gruppierungen. Weitere Organisationen, die sich an den Blockaden beteiligten, kamen zumeist aus dem libertären Spektrum, wie die Federacja Anarchistyczna (FA) oder die Linke Alternative (LA).

Mit dem Engagement der PPS nahmen die Räumungsblockaden einen massenhaften Charakter an, bis schließlich das polnische Verfassungsgericht die Praxis dieser brutalen Zwangsräumungen 2001 für illegal erklärte. Dennoch gehören Räumungen immer noch zum polnischen Alltag, sowie die Räumungsblockaden zum festen Repertoire politischer Aktionen der polnischen Linken. Piotr Ciszewski betonte, dass inzwischen die Anzahl der Räumungen gesunken ist, da die Behörden den Betroffenen eine Erstunterkunft anbieten müssen.

Ikonowicz, der inzwischen mit der „Nowa Lewica“ (Neue Linke) eine neue Linkspartei mitbegründet hat, engagiert sich weiterhin für die Rechte der Mieter. Für die 2004 gegründete CK-LA bildet der Kampf gegen Vermieterwillkür ebenfalls einen programmatischen und praktischen Schwerpunkt. Die von der Gruppe initiierte Kampagne „Die Wohnung ist ein Recht, keine Ware“ beitreibt die Internetsite und hat die Formierung von Mietergemeinschaften zum Ziel, die sich kollektiv gegen die Übergriffe der Hausbesitzer zur Wehr setzen. Am 30. März 2007 konnte mit Hilfe der CK-LA die „Warschauer Mietervereinigung“ aus der Taufe gehoben werden, der damals die Bewohner von sechs Altbauhäusern in Warschau beitraten. Inzwischen neun Mehrfamilienhäuser vertretend, beschloss die Mietervereinigung Anfang Juli, auch offensiv gegen Hausbesitzer vorzugehen und sie öffentlich bloßzustellen, indem Protestaktionen vor ihren öffentlich zugänglichen, prestigeträchtigen Immobilien – wie Luxusgeschäften oder Kunstgalerien - organisiert werden.

Selbstverständlich sind die Mitglieder von CK-LA und Nowa Lewica aufgrund ihrer Vorgehensweise einer sporadischen staatlichen Repression ausgesetzt. Die an den Räumungsblockaden beteiligten Aktivisten werden oftmals der Körperverletzung und der Zerstörung von Privateigentum bezichtigt. Im Juni 2007 standen zum Beispiel drei Mitglieder der CK-LA sowie Ikonowicz vor Gericht. Den Aktivisten wurde illegales Eindringen auf ein Privatgrundstück vorgeworfen, während Ikonowicz den Hausbesitzer zusammengeschlagen haben soll. Die beschuldigten Linken haben eine erfolgreiche Räumungsblockade durchgeführt.

Kein "Ghetto", sondern Wohnstätte der polnischen Mittelklasse: Renovierte Plattenbausiedlung in Poznan

Ikonowicz war so frei, einen Überblick über die gegen seine Person gerichtete Repression zu geben. „Aktuell laufen drei Verfahren gegen mich: eines wegen des Zusammenschlagens des Hausbesitzers, und zwei wegen des Schlagens von Polizisten während einer Räumungsblockade. Letztes Jahr habe ich einen Gerichtstermin nicht befolgt, es wurde ein Haftbefehl ausgestellt und man verhaftete mich. Nach zehn Tagen kam ich frei.“ Ikonowicz betonte, dass die an den Blockaden beteiligten Aktivisten strikt nach dem Prinzip des passiven Widerstands und der Gewaltlosigkeit vorgehen. Die Anklagen seien bloße „Racheakte“.

Abkopplung der Ober- und Mittelschicht

Den radikalen Gegenpol zum Mieterelend des polnischen Transformationsprozesses bilden die so genannten „Gated Communities“: umzäunte und überwachte Wohnsiedlungen, die insbesondere im Großraum Warschau zu finden sind. Ein wissenschaftlicher Pionier, der sich erstmals mit diesem urbanen Phänomen in Warschau auseinandersetzte, ist der Diplom-Ingenieur der Stadt und Regionalplanung Henrik Werth, der 2004 noch als Student nach Warschau zog. Vielleicht war es erst einem zugereisten, angehenden Stadtplaner möglich, diese Inflation des „privatisierten“ öffentlichen Raums als ein selbst unter spätkapitalistischen Bedingungen ungewöhnliches,städtisches Phänomen wahrzunehmen.

Die privatisierten Stadtteile tragen malerische Namen wie „Grüne Abgeschiedenheit“, „Waldwiese“, „Grünes Städtchen“, „Sonniger Abhang“ oder „Birkenwäldchen“. Laut Werth gibt es inzwischen über 200 überwachte und von der Außenwelt abgeschottete Wohnsiedlungen allein im Großraum Warschau. Die Zuwachsrate dieser Reichenghettos entwickelt sich zudem äußerst dynamisch. In der ersten Dekade der polnischen Systemtransformation – also bis 1999 – entstanden „nur“ 55 dieser Wohnanlagen in Warschau. Die nächste Verdopplung auf über 100 geschlossenen Wohnkomplexe erfolgte in nur vier Jahren. Doch inzwischen sind weit mehr als 70 weitere, voll überwachte Siedlungen hinzugekommen – in Berlin gebe es hingegen nur eine Gated Community, das Arkadien an der Grenze zu Potsdam, so Werth.

Der Archipel Gulag der reichen Schicht Polens

Wie die Existenz – von einem urbanen Lebensgefühl kann da keine Rede sein – in solch hermetisch abgeschlossenen Privatsiedlungen aussieht, darüber berichtete das polnische Magazin Polityka schon 2005. Vor der mit einem Schlagbaum gesicherten Einfahrt zu der malerisch an der Peripherie Warschaus gelegenen umzäunten Siedlung befindet sich ein Wärterhäuschen. Hier müsse man sich ausweisen, während der Wärter eine Liste mit den an diesem Tag zu erwartenden Besuchern durchforste. Schließlich bekomme man eine Plakette, auf der „Visitor“ stehe, und die unbedingt innerhalb des Geländes der „Gated Community“ sichtbar zu tragen sei – so beschrieb Mariusz Czubaj, ein Journalist der Polityka, die Prozedur, die einem Treffen mit seinem in der Siedlung wohnenden Bekannten zu einem „fröhlichen Grillabend“ voranging. „Ich weiß, es sieht so aus, als ob man auf irgendein Firmengelände käme. Aber was soll man machen?“, so der Kommentar des Gastgebers gegenüber Czubaj.

Renovierte Plattenbausiedlung in Poznan

Viele der geschlossenen Wohnkomplexe in Polen versprühen aber einen noch raueren, eher an Gefängnisse erinnernden Charme, der ins Paranoide mündet. Der polnische Architekt Andrzej Kicinski beschrieb gegenüber der Polityka mit sichtlicher Befremdung zum Beispiel die geschlossene Siedlung Bialoleka: „Die gesamte Siedlung befindet sich hinter einer hohen Mauer, und über allem dominiert ein Wachturm. Ich nenne es den Archipel Gulag“, so Kicinski, der hinzufügte, dass der in der Region beheimatete Gefängniskomplex von Bialoleka die besagte architektonische Assoziation zusätzlich verstärke. Laut Planungen sollten in dem Oberklassengulag von Bialoleka zwei Drittel des umzäunten Geländes für Grünflächen verwendet werden. Da aber auf dem Terrain das Grundwasser äußerst hoch stand und dieses die parkenden Autos beschädigen könnte, entschied man sich, das gesamte Gebiet zu betonieren. Eine betonierte, mit hohen, die Sicht nehmenden Mauern abgeriegelte Siedlung, über der ein Wachturm als ein alles sehendes Auge thront – es scheint, als ob im Fall Bialoleka die Transformationsgewinner Polens unterbewusst sich ihre eigene Hölle auf Erden bereiten.

Selbstverständlich verfügen die Gated Communities Polens nur in den allerseltensten Fällen über so etwas wie einen „öffentlichen Raum“, der zur Interaktion und Kommunikation der Mitbewohner, zur Herausbildung von so etwas wie einem öffentlichen Leben dienen könnte. Selbst wenn sich Parkbänke oder ähnliches innerhalb der penibel frisierten und gestalteten Rasen- und Gartenlandschaften befinden, dienen sie eigentlich als urbanes Ornament, als eine Reminiszenz an die vergangenen Zeiten lebendigen Stadtlebens, die eher eine Illusion öffentlichen Raumes erzeugen soll. Mit der Lupe sind hingegen innerhalb der Gated Communities - in denen jeder Quadratmeter zur Wertsteigerung der Gesamtanlage dienen soll – solche öffentlich zugänglichen und gemeinschaftlich nutzbaren Einrichtungen wie Sport- oder Spielplätze zu suchen.

Polnische Stadtsoziologen bezeichnen dieses generelle Absterben der sozialen Kontakte - und einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit - innerhalb der „Geschlossenen Gesellschaften“ der polnischen Oberklasse als Brasilitatis . Mit diesem von Brasilia - der in den 50ern zentral geplanten und angelegten Hauptstadt Brasiliens - abgeleiteten Begriff, bezeichnet man die „Entvölkerung“ des urbanen Raums. Eine Einwohnerin der Warschauer Siedlung Bielany beschrieb diesen Effekt gegenüber der Polityka. Die Bewohner dieser angeblich idealen Siedlungen seien ständig abwesend, sie ackerten, um die aufgenommenen Kredite abzuzahlen. Vor 20 Uhr sehe man bei den heutigen Arbeitszeiten kaum jemanden. „Während der Tageszeit sind die auf den Nachwuchs der polnischen Oberklasse aufpassenden Kindermädchen die am häufigsten anzutreffende Gruppe. Ab und zu sieht man noch einen Typen, der einen riesigen, amerikanischen Geländewagen fährt. Darüber hinaus gibt es nur Ödnis und Langeweile.“

Der Verlauf der analog zu den Schicht- und Klassengrenzen gezogenen Mauern der Gated Communities kann es manchmal mit der Radikalität der sozialen Spaltung Polens aufnehmen. Im Warschauer Stadtteil Bródno entstand eine solche geschlossene Anlage in direkter Nachbarschaft einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung. Die eingeborenen Blokersi - so der Spitzname all jener, die in Polen „auf Platte“ wohnen – bezeichnen ihre neuen, in eleganten Wohnungen residierenden Nachbarn als „Wikinger“. Eine gutnachbarschaftliche Interaktion zwischen den beiden, nah und dennoch unerreichbar fern gelegenen urbanen Räumen findet nicht statt. Stattdessen gibt es einen inoffiziellen Kleinkrieg zwischen den neureichen Ankömmlingen und den Alteingesessenen statt.

Die Blokersi werfen den Wikingern vor, sich den von ihnen früher genutzten, städtischen Raum angeeignet und einstmals frei nutzbare Plätze und Durchfahrtsstraßen monopolisiert zu haben. Scheinbar endlos ist die Liste der Beschwerden der Plattenbaubewohner, die der neureichen Nachbarschaft vorwerfen, die öffentliche Infrastruktur des Plattenbaus zu nutzen, während ihnen der Zugang zur Gated Community verwehrt bleibe: So würden die Wikinger ihre Autos auf den Parkplätzen des Plattenbaus abstellen, oder gar ihre Hunde in den öffentlichen Park ausführen, außerdem spielten die Kinder der Wikinger auf den öffentlichen Spielplätzen – so einige der Vorwürfe in diesem absurd anmutenden Kampf um den öffentlichen Raum.

Als der Immobilieninvestor „Dom Development“ neben der von einer Wohnungsgenossenschaft betriebenen Siedlung „Osiedle Kabaty“ eine Gated Community baute, übte diese sogleich Vergeltung: Das gesamte Genossenschaftsareal von 17 Hektar wurde mit einem ganzen Zaun- und Mauernsystem versehen. „Wir müssen den Willen der Mehrheit der Genossenschaftsmitglieder ausführen, und die wollen es ruhig, sicher und leise haben“ erklärte Zbigniew Santkiewicz, der Vorsitzende der Wohnungsgenossenschaft, gegenüber der Gazeta Wyborcza. Außerdem habe man ja eine Grenze markieren müssen, bekräftigte der für die Investitionsentscheidungen der Genossenschaft zuständige Jan Zaleski. Die Nachbarn aus „Dom Development“ verfügten ja nicht mal über einen Spielplatz. „Wir haben welche, aber wir wollen, dass sie nur unseren Einwohnern dienen – und nicht ihnen.“

Neben „Dom Development“ tummelt sich eine Vielzahl von oftmals westlichen Investmentfirmen auf dem zur Zeit boomenden polnischen Immobilienmarkt. Immobilieninvestoren wie GTC, FADESA oder Dom Development können inzwischen kleinste 1-Zimmer Apartments in ihren Wohnghettos in Warschau für 120.000 Euro losschlagen. Größere Wohnungen für mehr als 100 Quadratmeter können locker die 1-Million-Euro-Grenze durchbrechen. Die Totalüberwachung des gesamten Geländes, die Umzäunung, sowie die als „ruhige Lage“ vermarktete Abwesenheit jeglicher urbanen Öffentlichkeit gelten in dieser dynamisch wachsenden Branche als Verkaufsargumente. Viele der Käufer sehen ihre erworbenen Wohneinheiten oder Willen ebenfalls als eine Geldanlage, da die Immobilienpreise in Polen sich innerhalb weniger Jahre verdoppelt haben und eine Adresse in einer Gated Community inzwischen als ein neues Statussymbol unter Warschaus Schickeria gilt. Es ist eher dieser Geltungsdrang,als die Angst vor der Kriminalität, die viele Mitglieder der oberen Mittelklasse in die privatisierten Wohngebiete Warschaus triebt.

Natürlich profitiert auch der gesamte semimafiöse „Sicherheitssektor“ von der Inflation des bewachten und privatisierten urbanen Raumes. Es gibt Hunderte von teilweise martialisch auftretenden Security-Unternehmen, die sich mit der Sicherung, mit Patrouillieren, Videoüberwachen oder einfach Abschrecken befassen und de facto so etwas wie legalisierte Schutzgelder einziehen. Die gewöhnlichen Wachmänner, die damit betraut sind, Polens Oberschicht zu beschützen, profitieren kaum von diesem Sicherheitsboom. Ein gewöhnlicher Security-Mitarbeiter, der mit der Bewachung einer Wohnanlage betraut ist, kam 2006 nach einer monatlichen Arbeitszeit von 300 Stunden mit gerade mal umgerechnet 200 Euro – auch jetzt kommt kaum einer der Wächter des Reichtums in Polen auf einen Stundenlohn, der über einen Euro liegt.

Pendeln zwischen den ummauerten Wohngebieten und dem "öffentliche Raum" der Malls

Marina Mokotów

Die Spitze der Evolution der Gated Communities in Polen stellt derzeit zweifelsohne die Warschauer Siedlung Marina Mokotów dar, die eigentlich schon als ein Stadtteil zu bezeichnen wäre. Auf einer Fläche von 32 Hektar befinden sich 22 Wohneinheiten, die fünftausend Menschen Platz bieten. Mokotów verfügt über einen künstlichen See, eigene Einkaufsmöglichkeiten sowie einen tatsächlich realisierten Grünflächenanteil von 60 Prozent des gesamten Siedlungsareals, wie das Architektenteam um Stefan Kury?owicz stolz gegenüber der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza betonte. Kein einziger öffentlicher Weg führt durch die Siedlung, die sich von der ohnehin gut situierten Nachbarschaft in den Willenvorort absondert. „Die Umzäunung des riesigen Areals zerreißt buchstäblich die Stadt. Das ist absurd. Überall hat man umzäunte Parkplätze, Wärterhäuschen, und die nächsten abgesperrten Wohnlager“, so der ebenfalls als Vorsitzender der städtischen Baukommission tätige Andrzej Kicinski.

Der Alltag der oberen Mittelklasse Polens, die es geschafft hat, sich in diese Reichenghettos einzukaufen, findet generell immer seltener im öffentlichen Raum statt. Von der Arbeitsstelle in einem der im Zentrum Warschaus aus dem Boden schießenden, gläsernen Hochhäuser geht es zumeist mit dem Wagen in die Siedlung. Den Einkauf und die knappe Freizeit verbringt man oftmals in den nach US-Vorbild gebauten Malls: eiligst hochgezogenen, riesigen Einkaufs- und Unterhaltungskomplexen. Diese mit ihren mehrstöckigen, kilometerlangen, nahezu fensterlosen Gebäuden wie Raumschiffe aus einer anderen Welt wirkenden Ungetüme stehen in keinerlei struktureller Beziehung zu ihrem vom Verfall gekennzeichneten, häufig aus Plattenbauten bestehenden direkten urbanen Umfeld.

Es ist kaum ein härterer Wahrnehmungsschnitt möglich als zum Beispiel der Eintritt in die dreistöckige Mall Poznan-Plaza, die in direkter Nachbarschaft zu den in den 70ern hochgezogenen Plattenbauten in ihrer Nachbarschaft liegt. Man geht von zersprungenen Betonplatten über auf Hochglanz polierten, italienischen Marmor, wenn man in diesen Einkaufstempel eintritt. Hier findet wiederum auf privaten Raum - und strengstens überwacht - die schlechte Simulation von „Öffentlichkeit“ statt. Neben den obligatorischen Shoppingmöglichkeiten finden sich in den polnischen Malls Kinos, Galerien, Spielhallen, Restaurants und alle sonstigen kommerziellen Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen. Der Tagesablauf der polnischen Upperclass pendle zwischen den Garagen der Bürohochhäuser, denen der Gated Communities und der Einkaufstempel - „ohne die Notwendigkeit, den Fuß auch nur auf öffentliches Terrain zu stellen“, so die Journalisten Dariusz Bartoszewicz und Jerzy Majewski in einem Artikel für die Gazeta Wyborcza.

Wenn auch sporadisch und lokal beschränkt, gibt es doch Widerstand zu dieser Abkopplung der Oberklasse vom Rest der polnischen Gesellschaft - und der damit einhergehenden Privatisierung des einstmals öffentlichen urbanen Raumes. Die Bewohner von vier abgeschlossenen Siedlungen Warschaus konnten am Morgen des 9. September 2006 ihre Wohnghettos nicht verlassen, da alle äußeren Tore und Pforten über Nacht mit fremden Ketten und Schlössern abgeriegelt waren. Ein ähnliches Schicksal erfuhren die Einwohner zweier anderer Gated Communities eine Woche zuvor, als sie bis zum Vormittag in ihren „sicheren“ Siedlungen eingesperrt blieben. Neben den abgeriegelten Toren fanden sich Warnhinweise: „Vorsicht: Nicht-Privates Gebiet (öffentlich, nicht überwacht). Betreten verboten. Es drohen Begegnungen mit armen, kranken oder schmutzigen Menschen.“

Laut der Warschauer Zeitung Metropol bezeichneten die für diese „Einsperrung“ verantwortlichen Aktivisten das massenhafte Auftreten der geschlossenen Wohnkomplexe als eine Form der „Zerstörung des öffentlichen Raumes“. Auch der von Metropol befragte Sozialpsychologe Janusz Czapinski charakterisierte diese urbanen Tendenzen als „paranoid“, da die Stadt ihren öffentlichen Charakter verliere und sich in einem Flickenteppich geschlossener, „privater“ Enklaven verwandle.

Ein Sprecher der städtischen Polizei gab zudem zu bedenken, dass Polens Ordnungshüter keine Berechtigung haben, auf die Gated Communities ohne Erlaubnis des Eigentümers einzudringen, da es sich ja hierbei um Privatbesitz handele, was die Suche nach Tätern ungemein erschwere. Man könne nur den Eingeschlossenen dabei behilflich sein, aus ihrer umzäunten Siedlung wieder heraus zu kommen. Die für diese Aktion verantwortliche Gruppe kündigte weitere Aktionen an. Sie sollen so lange fortgesetzt werden, bis die Stadt wieder ihren „egalitären Charakter“ zurück gewinne, hieß es in einer Erklärung der Aktivisten . Noch ist Polens öffentlicher Raum also nicht verloren.