Kindergrundrechte? Vorwärts Grundgesetz, vorwärts!

Eine Implementation von Kinderrechten in das Grundgesetz wäre nur ein konsequenter Schritt, um bestehende Bundesgesetze, völkerrechtliche Verträge und die fragmenthafte Wirkung der EU-Grundrechtscharta in verlässliches Recht zu verwandeln.

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Die Hysterie der aktuellen Diskussion über die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung folgt angesichts steigender Zahlen von Kindeswohlgefährdungen und den jüngsten Kindestötungen lediglich den Regeln des politischen Feldes, übersieht im nationalen Diskurseifer aber sowohl die völkerrechtlich bindende UN-Kinderrechtskonvention als auch die ab dem 1. Januar 2009 rechtlich bindende EU-Grundrechtscharta. Eine Grundgesetzänderung könnte helfen, Kindern auch außerhalb des EU-Kompetenzbereichs zu eigenen Grundrechten zu verhelfen.

Das Grundgesetz als Katalog

Während die bayerische Verfassung Kinder als „das köstlichste Gut eines Volkes“ (Art. 125) bezeichnet, setzt der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU Fraktion, Herr Dr. Jürgen Gehr, die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung mit der Aufnahme eines neuen Produkts in das Warensortiment des „Neckermann-Katalogs“ (FAZ) gleich. Die dahinter stehende Befürchtung, die Aufnahme von Kindergrundrechten zöge eine Verwässerung der Grundrechte und Folgeforderungen anderer Sondergruppen wie „Dicken, Dünnen und Greisen“ (Dr. Jürgen Gehr) nach sich, verkennt jedoch, dass Kinder weder aufgrund ihrer Größe, ihres Umfangs oder ihres fortgeschrittenen Alters, sondern aufgrund ihrer Minderjährigkeit in ihren Grundrechten beschnitten sind.

Kinder unterliegen in vielfacher Hinsicht einer strukturellen Benachteiligung gegenüber Erwachsenen, sie sind nicht wahlberechtigt, nicht voll geschäftsfähig und weitgehend von gesellschaftlicher Partizipation ausgeschlossen. Zudem nehmen sie eine rechtliche Reflexstellung ein, die sich ausschließlich aus den Rechten und Pflichten der Eltern ableitet (Art. 6 (2) GG). Kinderrechte werden demnach solange treuhändisch von den Eltern ausgeübt bis diese ihre Erziehungspflicht vernachlässigen und der Wächterstaat die treuhändische Aufgabe übernehmen muss.

Aus historischen Gründen ist diese konstitutionelle Diskriminierung von Kindern gut begründet: Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus galt es, der Familie einen starken Eigenwert zuzuschreiben um die Kinder vor einer willkürlichen Verfügung durch den Staat zu schützen.

Problematisch ist nun aber die Tatsache, dass das Elternrecht aufgrund dieser Erfahrungen Verfassungsrang einnimmt, weshalb es bei Güterabwägungen oftmals stärker wiegt als das eigentliche Kinderinteresse. So stellte das BVerfG am 17. Februar 1982 fest, dass Kinder es hinzunehmen hätten, wenn ihre Eltern desinteressiert an ihrer Entwicklung seien. Es geht bei der Implementation von Kinderrechten deshalb nur darum, den Bundesverfassungsgerichten einen expliziten grundgesetzlichen Referenzpunkt für eine bessere Güterabwägung zu bieten, bei der die Interessen des Kindes (bestmögliche Förderung) und die Interessen der Eltern (neuer Fernseher statt Schulgeld) gleichrangig abgewogen werden müssen.

Das Elternrecht schützt passive Eltern in ihrer Passivität, solange das Kind nicht verwahrlost - die Pflicht der Eltern erschöpft sich aber eben nicht darin, dem Kind eine warme Jacke anzuziehen und es nicht verhungern zu lassen. Im Gegenteil: Falls Eltern aufgrund einer angespannten Lebenssituation nicht in der Lage sind, ihrem Kind die bestmögliche Entwicklung zu gewährleisten, stärkt dies auch die Anspruchsrechte der Eltern gegenüber dem Staat. Die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung stellt kein Nullsummenspiel dar, sondern bietet Gerichten die Möglichkeit, Grundrechte in Abhängigkeit von der Situation auszulegen, wobei immer das Kindeswohl im Vordergrund stehen muss.

Eine Grundgesetzänderung als geeignete Gesetzgebungsmaßnahme

Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich einer Grundgesetzänderung scheint die Einbettung in das gesetzliche Umfeld zu sein. Wo bundesgesetzliche Regelungen am Verfassungsrang des Elternrechts scheitern, könnten internationale Verträge als unmittelbar wirkende Rechtsakte effektiver sein. Obwohl die UN-Kinderrechtskonvention für Deutschland bereits 1992 in Kraft trat, wurde es versäumt, das umzusetzen, wozu man sich gemäß Art. 3 der UN-KRK selbst verpflichtete, nämlich

„dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen.“

Auch die EU-Grundrechtscharta widmet den Rechten des Kindes einen speziellen Artikel, wodurch Kinder eben dezidiert als Rechtssubjekte und spezielle Grundrechtsträger anerkannt werden, ja wo Ihnen gar eine Vorrangstellung eingeräumt wird (Art 24 EU-GrC):

„Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.“

Vor diesem Hintergrund ist es bedeutend, dass die EU-Grundrechtscharta ab dem 1. Januar 2009 bindendes Recht wird. Angesichts der Existenz von zweierlei Verfassungsrecht bedeutet das zwar nicht, dass die dort fixierten Grundrechte in jeder Hinsicht unmittelbar einklagbar wären, innerhalb des Kompetenzbereichs der Europäischen Union sind sie dies allerdings schon. Kinder haben demnach ab dem 1. Januar 2009 einklagbare Grundrechte mit Verfassungsrang solange sie sich aus den Kompetenzen der Europäischen Union, die vorwiegend auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Integration liegen, ableiten lassen. Das heißt nichts anderes als dass Kinder manchmal spezielle Grundrechte haben. Und manchmal eben nicht.

In der Literatur ist der Geltungsbereich umstritten, die Interpretationsspanne reicht von einer möglichen allumfassenden Geltung der EU-Charta bis zu einer völligen Leugnung jeglicher Bindungen. Geht man gemäß Art. 51 der Grundrechtscharta aber davon aus, dass die Grundrechte nur bei der Ausführung von Unionsrecht gelten sollen, dass die EU-Grundrechtscharta also kompetenzneutral ist, stellt es sich so dar, dass die Grundrechte, ähnlich der Grundfreiheiten, funktionalen Charakter einnehmen und sich so ihres Universalismus berauben lassen: Kinder haben spezielle Grundrechte. Wenn sie aus wirtschaftlichen Aspekten ableitbar sind.

In Anbetracht einer drohenden fragmentierten Geltung von Grundrechten wäre jedenfalls die Übernahme von Artikel 24 der EU-Grundrechtscharta erstrebenswert. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass Kinder durch die Übernahme dieser Formulierung erweitere Partizipationsrechte erhielten, und ihre Meinung in den sie betreffenden Angelegenheiten angemessen berücksichtigt werden müsste. Überzogene Kinderschutzgesetze wie die Verschärfung des neuen Sexualstrafrechts (wenngleich diese Umsetzung einer Rahmenrichtlinie sowieso in den Kompetenzrahmen der EU fiele) wären so, unabhängig davon wie die faktische Rechtssprechung ausfiele, zumindest unter Berufung auf Kindergrundrechte angreifbar. Denn Kindergrundrechte sollen primär nicht auf horizontaler Ebene vor Eltern schützen, sondern vertikal vor suggerierten staatlichen Schutzmaßnahmen mit Repressionscharakter.

Natürlich wäre eine rein symbolische Verankerung von Grundrechten nur begrenzt wünschenswert, es bedürfte geeigneter Umsetzungsmaßnahmen um dem guten Willen Taten folgen zu lassen. Was es allerdings für die Existenz von Kindergrundrechten per se bedeutet wenn sie nur noch dann gelten, solange sie aus Neckermann-Katalogen ableitbar sind, sollte jeder für sich selbst beantworten. Die Bundesrepublik als gefühlter weltpolitischer Agent der Menschenrechte täte angesichts ihrer innen- wie auch außenpolitischen Glaubwürdigkeit jedoch gut daran, internationale Verpflichtungen umzusetzen und auf dem Gebiet der Grundrechte für eine Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Fragen zu sorgen, denn genau eines sollten Grundrechte, und insbesondere Kindergrundrechte, nicht sein: abhängig.