Kritische Wissenschaft unerwünscht

Erlebt die deutsche Hochschullandschaft eine gezielte Kampagne gegen den Widerspruchsgeist unangepasster Zeitgenossen, oder gestattet der Bologna-Prozess einfach nur keine Störgeräusche? Ein Gespräch mit dem Bildungsjournalisten Karl-Heinz Heinemann

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Die ausdrückliche Nicht-Berufung von Albert Scharenberg, der aufgrund seiner herausragenden fachlichen Qualifikation Juniorprofessor am John F. Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin werden sollte, hat deutlich gemacht, dass die Auseinandersetzung um die zukünftige Ausrichtung des deutschen Bildungssystems schrittweise eine neue Qualitätsstufe erreicht. Der immer stärkeren Konzentration auf vermeintliche Spitzen-Universitäten und Exzellenz-Cluster folgt nun offenbar die Ausmusterung kritischer Gegenstimmen, die sich mit der rückhaltlosen Ökonomisierung der hiesigen Hochschullandschaft nicht einverstanden erklären und von Bildungsgerechtigkeit andere Vorstellungen haben als die Spitzen der deutschen Wirtschaft.

Der Diplom-Soziologe Karl-Heinz Heinemann, der unter anderem für den SWR und den WDR arbeitet und sich bereits seit den 70er Jahren intensiv mit Schul- und Hochschulthemen beschäftigt, vertritt in einem streitbaren Beitrag für Forum Wissenschaft die These, dass dieser Bildungsmarkt „nicht Buntheit und Vielfalt, sondern einen mediokren Einheitsbrei“ produziert und auf eine „McDonaldisierung im Namen von Wettbewerb und Bologna“ zielt. Telepolis sprach mit Heinemann über seine Sicht auf die deutsche Hochschullandschaft.

Weltweit haben mehr als 100 ProfessorInnen in einem offenen Brief gegen die Nicht-Berufung von Albert Scharenberg protestiert. War – damit verglichen – der Widerspruch innerhalb Deutschlands nicht recht überschaubar?

Karl-Heinz Heinemann: Das war auch mein Eindruck. Hier haben die Ereignisse nicht besonders viel Aufmerksamkeit erregt.

Worauf führen Sie das zurück?

Karl-Heinz Heinemann: Im Rahmen des Bologna-Prozesses ist eben jeder mit sich selbst beschäftigt. Die meisten Wissenschaftler haben genug damit zu tun, ihre eigenen Angelegenheiten zu sortieren oder ins rechte Licht zu rücken. Da fällt kaum auf, wo noch überall gekürzt und gestrichen wird.

Dabei war Scharenberg kein Einzelfall, wie Sie sagen. Könnten Sie einige weitere Beispiele nennen?

Karl-Heinz Heinemann: Als es in Frankfurt vor einiger Zeit um die Berufung von Alex Demirovic ging, der erklärtermaßen die Kritische Theorie vertrat, hat sich der jetzige Präsident Rudolf Steinberg öffentlich damit gebrüstet, dass er seine Anstellung durch entsprechende Gutachten verhindern konnte. In Bremen werden die international sehr renommierten Lehrstühle für Behindertenpädagogik von vier auf zwei reduziert. Hier hatten Georg Feuser und Wolfgang Jantzen einen innovativen Ansatz vertreten, der gegen die Aussonderung und Stigmatisierung von Behinderten gerichtet war.

In Marburg wird die Nachfolge des Politikwissenschaftlers Frank Deppe blockiert. Deppe galt als letzter Vertreter der von Wolfgang Abendroth begründeten Schule marxistischer Politikwissenschaft. Als sein Schüler Dieter Plehwe auf der Berufungsliste auftauchte, zog es der Marburger Präsident Volker Nienhaus vor, den Lehrstuhl ganz zu streichen.

Sehen Sie darin wirklich eine gezielte Aktion gegen kritische oder gar „linke“ Wissenschaftler? Die Entscheidungsträger sind doch immer andere, oder verkörpern die Unipräsidenten mittlerweile mehrheitlich den gleichen Unternehmertypus?

Karl-Heinz Heinemann: Hier wirken zwei Aspekte zusammen und verstärken sich gegenseitig. Einerseits geht es sicher um politische Disziplinierung, andererseits um die stromlinienförmige Ausrichtung auf den Bologna-Prozess, der auf keinen Fall gestört oder verzögert werden soll. Was die Unipräsidenten angeht, würde ich natürlich kein pauschales Urteil fällen. Allerdings kann man sagen, dass der Unternehmer bei den sogenannten Reformkräften ein gefragter Typ ist – und zwar bundesweit. Unabhängig davon verstehen sich manche Präsidenten – wie etwa Rudolf Steinberg in Frankfurt oder Dieter Lenzen von der FU Berlin – ganz explizit als Vorstandsvorsitzende eines Hochschulunternehmens.

Da müsste es doch umso reizvoller sein, die Ausnahme von der Regel zu bilden.

Karl-Heinz Heinemann: Ich würde Ihnen gerne ein Beispiel nennen, aber mir fällt keins ein. Vielleicht gibt es an der Leuphana Universität in Lüneburg die Möglichkeit, die Akzente etwas zu verschieben, weil das Bachelorstudium hier offenbar ein höheres Maß an selbständigem Arbeiten vorsieht als an den meisten anderen Hochschulen. Der Präsident Sascha Spoun ist zwar auch ein CHE-Gewächs (gemeint ist das Bertelsmann nahe Centrum für Hochschulentwicklung, Anm. d. R.), aber der Ansatz verdient sicher eine nähere Beschäftigung.

Die unternehmerische Hochschule: Wenig Einsatz, viel Output

Es sind ja ohnehin viele Beobachter der Meinung, dass der Bologna-Prozess nicht so bürokratisch, phantasielos, undemokratisch und kontraproduktiv umgesetzt werden muss, wie das derzeit in Deutschland geschieht.

„Die unternehmerische Hochschule“, so schreiben Sie, „hat keinen Platz mehr für Orchideen, deren Pflege viel kostet und die vermeintlich keinen Markt haben.“ Es geht also nicht nur um die politische Missliebigkeit bestimmter Personen, sondern auch um die Aussonderung von „nutzlosen“ Fächern?

Karl-Heinz Heinemann: Ja, sicher, aber das ist eben Teil des deutschen Bologna-Prozesses. In Göttingen soll die Altamerikanistik eingestellt werden, der einzige Professor behielte dann seine Planstelle bis 2019, hätte aber keine Studenten mehr. Das ist nur ein Beispiel von sehr vielen. Je unternehmerischer die Hochschule geführt wird, desto preisgünstiger muss sie arbeiten. Das geht nach dem Motto: Wenig Einsatz, viel Output. Betriebswirtschaftslehre ist unter diesem Gesichtspunkt natürlich attraktiver als Altamerikanistik.

Welche Art von Hochschule bleibt denn übrig, wenn alle Störfaktoren beseitigt sind?

Karl-Heinz Heinemann: Das müssen wir abwarten, denn im Moment ist schließlich auch eine Menge Reformrhetorik im Spiel. Hierzulande gibt es doch – anders als in den USA - gar keine privatwirtschaftliche Tradition an den Hochschulen, also haben wir in Wirklichkeit auch keinen Markt, sondern die Ministerien müssen ihn künstlich über diverse Leistungsparameter erzeugen. Auf der einen Seite wird immer mehr Freiheit für die Hochschulen angekündigt, auf der anderen Seite gab es selten so viele Reglements auf allen Ebenen. Das erzeugt permanent seltsame Paradoxien.

Wenn es nur nach Angebot und Nachfrage ginge, könnten die Verantwortlichen doch auch sagen: Gut, wir haben mehrere tausend junge Menschen in Deutschland, die sich mit Kritischer Theorie beschäftigen wollen. Wenn wir denen ein entsprechendes Angebot unterbreiten, sind alle zufrieden, und mit etwas Glück kommen noch interessante Diskussionsteilnehmer heraus, die hier und da etwas publizieren. Das wäre vollkommen im Sinne der Marktwirtschaft, also absolut systemkonform und würde den Trend zur Uniformität etwas aufweichen.

Und mehr Wettbewerb schaffen, der von den Bildungsreformern ausdrücklich gewünscht wird.

Karl-Heinz Heinemann: Ja, aber diese Forderung ist doch auch nur Augenwischerei. Momentan geht es ausschließlich darum, die Studierenden „fit“ zu machen für sehr begrenzte Aufgabenbereiche. Mögliche Alternativen und konkurrierende Bildungsentwürfe werden da einfach ausgeschlossen.

Die Hochschulräte dürften bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle spielen. Wie beurteilen Sie aktuell die Zusammensetzung und Funktion dieser Gremien?

Karl-Heinz Heinemann: An der Universität Duisburg-Essen hat Werner Nienhüser eine Studie vorgelegt, die eine ganz eindeutige Sprache spricht. Die relative Mehrheit der Hochschulräte wird von Unternehmensvertretern gestellt, die Vorsitzenden sind in aller Regel Unternehmensvertreter, und Gewerkschafter sind hier mit einem Prozent vertreten.

Die entscheidende Frage ist natürlich, ob wir von Befehlsketten ausgehen können, die direkt von den Unternehmen in die Hochschulen führen. Nun bin ich kein Freund von Verschwörungstheorien, aber es ist doch ganz offensichtlich, dass die Wirtschaftsvertreter ihr Know-how in diese Gremien einbringen und versuchen, ihre Vorstellungen bezüglich der Studiengänge, Studenten und Absolventen in den Diskussionen und Entscheidungen durchzusetzen.

Täuscht der Eindruck, oder gibt es hierzulande kaum prominente Lehrstuhlinhaber, die sich öffentlich gegen Bildungsungerechtigkeit, Studiengebühren oder die einseitige Eliteförderung wenden?

Karl-Heinz Heinemann: Perspektivisch gesehen bin ich da gar nicht so pessimistisch. In der letzten Zeit sind viele negative Auswirkungen der so genannten Hochschulreformen ans Licht gekommen, das hat auch ehemalige Befürworter und konservative Beobachter zum Nachdenken gebracht. Außerdem stehen namhafte Institutionen wie etwa der Deutsche Hochschulverband dem Bologna-Prozess durchaus kritisch gegenüber, es gibt da also durchaus Raum für ganz neue Allianzen und Bündnisse. Ich arbeite derzeit an einem Artikel über das Zusammenspiel von Studenten- und Arbeiterbewegung und habe wieder oft an meine eigene studentische Vergangenheit gedacht. Wir sind doch damals mit dem Ziel angetreten, die Wissenschaft aus den Elfenbeintürmen herauszuholen, mehr Praxisnähe und einen höheren Realitätsgehalt zu verwirklichen. Diese Forderung ist mittlerweile ganz anders erfüllt worden, als wir uns das damals vorgestellt haben.

Ich denke, es käme jetzt darauf an, der Wissenschaft wieder eine größere kritische Distanz zu verschaffen – gegenüber der Politik, aber vor allem auch gegenüber der Wirtschaft, die das Leitbild der unternehmerischen Hochschule flächendeckend durchsetzen will.