Der schiefe Turm von PISA

Warum Schulleistungstests, die von falschen Voraussetzungen ausgehen, zu Selbstbetrug führen und die Misere des modernen Bildungswesens eher verstärken als lindern

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wir Deutsche sind, wenn wir der Verallgemeinerung unterschiedlichster Volksstämme folgen, schon ein sonderbares Völkchen. Seit wir uns vor der Geschichte versündigt und uns ein: "Nie wieder Auschwitz!" ins Stammbuch geschrieben haben, meinen wir, vor aller Welt den Musterknaben mimen zu müssen. Überall, ob nun beim Klimaschutz oder bei humanitären Interventionen, ob bei der Vergangenheitsbewältigung oder in Sachen europäische Einigung drängeln wir uns nach vorn und wollen Vorreiter und Beispiel gebend für alle andere Nationen sein. Der Spruch, der Kaiser Wilhelm II. nachgesagt wird, dass "am deutschen Wesen die Welt genesen (soll)" gilt neuerdings vor allem im moralischen Sinn.

Deutsches Panikwesen

Dass wir uns der Politik der moralischen Korrektheit, dem Gutmenschentum und der Politischen (Sozial)Romantik verschrieben haben, kann daher nicht weiter verwundern. Während wir die "Drecksarbeit" gern anderen überlassen, Kanadiern, Pakistani, Nepalesen zum Beispiel in Afghanistan, Darfur oder Somalia, engagieren wir uns lieber an der Tugendfront. Wir leisten Aufbauhilfen in Fernost und treiben Schaufensterdiplomatie, wir berufen uns auf das "posthistorische Paradies" Kants oder führen bei Menschenrechten das große Wort.

Fahrig, turbulent und emotional bewegt wird es nur, wenn jemand gegen den "guten Ton" verstößt, etwa von "Leitkultur" schwadroniert, auf die Bedeutung der Mutter für die frühkindliche Erziehung aufmerksam macht, Mindestlöhne fordert oder das Land bei internationalen Vergleichen nur im Mittelfeld landet. Schon dies kann genügen, um die öffentliche Meinung hierzulande in ein babylonisches Stimmengewirr zu verwandeln.

Nur Mittelmaß

Der PISA-Schock, der Anfang des Jahrtausends Deutschland erfasste, liefert dafür allerbestes Anschauungsmaterial. Seitdem kommt es regelmäßig, wenn wieder mal das Ergebnis eines Leistungstests veröffentlicht wird (vgl. "Die Pisa-Studie im Detail") oder ein OECD-Statistiker die soziale Schieflage des deutschen Bildungswesens anprangert (vgl. "Mr. Pisa gegen Mr. Pisa"), zu kleinen bis mittleren Tsunamis an der Meinungsfront. Die Tatsache, dass das selbsternannte Land der Dichter und Denker beim Schulleistungsvergleich nicht vorne weg marschiert, sondern von einem so "unbedeutenden Zwerg" wie Finnland um Längen geschlagen wird, hat Politikern, Bildungsforschern und Journalisten vehement auf den Magen geschlagen.

Damit aus dem Magengrimmen kein latentes Magengeschwür wird, hat seit einigen Jahren eine rege Reisetätigkeit in den hohen Norden Europas eingesetzt. Eine Delegation nach der anderen gibt sich dort die Klinke in die Hand und wird von den stolzen Finnen auch willig herumgeführt. Von Finnland lernen, davon ist das fahrende Personal überzeugt, heißt siegen lernen. Als ob das Land wegen solcher Ergebnisse schon als Maßstab modernen Lehrens und Lernens gelten könnte; als ob sich traditionell gewachsene und kulturell verwurzelte Systeme so einfach von hier nach dort verpflanzen ließen; als ob Finnland und nicht die USA, Asien und unsere europäischen Partner, Frankreich, England und Italien unsere Wettbewerber auf internationalem Parkett wäre.

Übersehen wird dabei, dass das sehr dünn besiedelte Land eine der höchsten Selbstmord- und Alkoholikerraten der Erde unterhält; übersehen wird, dass ihr Bildungswesen nicht gerade im Ruf steht, der Welt besonders ausgebuffte Manager, Spitzenforscher oder gar Nobelpreisträger zu schenken; und übersehen wird, dass Selektivität auch den Klassenprimus erfasst, spätestens wenn es um den Hochschulzugang oder den Erwerb akademischer Grade und Ehren geht. Würde man den Leistungsgrad eines Bildungssystems am Ausstoß solcher High Potentials festmachen, müssten unsere Bildungsmanager eher nach Asien oder in die USA reisen. Deren Bildungswesen ist zwar nach übereinstimmender Ansicht noch schlechter als das hiesige, es selektiert noch mehr und bietet Kindern und Jugendlichen unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen, trotzdem schaffen sie es, regelmäßig jene Spitzenkräfte in Wissenschaft, Wirtschaft und Sport hervorzubringen, die weltweit die Preise abräumen.

Allseits gebildet

Nun kann man natürlich der Meinung sein, dass soziale Selektion, also Auswahl, Zuteilung und Förderung der Besten, nicht der letzte Sinn von Menschenbildung ist oder sein kann. Dies ist auch sicher richtig, zumindest in dieser Ausschließlichkeit. Bei Bildung und Erziehung kommt es vor allem auf Nachhaltigkeit und Breitenwirkung an. Zumal das Recht auf Bildung Menschenrecht ist, und Bildung folglich auch was mit "Zweckfreiheit" zu tun hat. Der Mensch soll nicht nur qualifiziert werden und umfassende Kompetenzen erwerben, damit er im Wirtschaftsprozess später auch funktioniert, vielmehr soll er zuvörderst allseits gebildet werden, und zwar nicht nur an Hirn und Verstand, sondern auch an Herz und Charakter. Deshalb darf auch kein Kind und kein Jugendlicher vernachlässigt oder gar zurückgelassen werden, kein kreativer Kopf darf verloren gehen, keine Produktivkraft (Manpower) brachliegen, jeder einzelne zählt - so lautet das übereinstimmende Credo, das Humanisten und emanzipatorische Linke, Turbokapitalisten und neoliberale Wirtschaftslenker und -politiker unisono vertreten.

Und weil das so ist, das Soziale mit dem Leistungsprinzip verknüpft werden muss, darf in Deutschland keinesfalls frühzeitig selektiert werden. Kinder und Jugendliche müssen, auch wenn längst erkennbar ist, dass ihre Talente und Begabungen diametral in andere Richtungen zeigen, so lange wie möglich gemeinsam unterrichtet werden, der Hochbegabte mit dem Minderbegabten, der Ehrgeizige mit dem Phlegmatischen, der Fleißige mit dem Faulen. Und das am besten den ganzen Tag lang, betreut von einer Schar von Lehrern, Erziehern, Sozialtherapeuten und Medizinern rund um die Uhr. Weil Finnland das vorbildlich macht, eine Armada von pädagogischem Personal ihren Schulen zur Verfügung stellt, Südkorea eher nicht, steht auch das skandinavische Land hierzulande so hoch im Kurs, und nicht das fernöstliche Land, das in den Rankings genauso gut abschneidet.

Getrennt unterrichten

Dass der Beste besser wird, wenn er mit dem Schwachen zusammen lernt oder spielt; oder dass der Schwache zum Lernen und Leisten angespornt wird, wenn ihm der Beste als Vorbild dient, ist aber ein Irrglaube und Trugschluss, der aus den Köpfen von Pädagogen zu schwer zu verbannen ist. Würden Profivereine wie der FC Barcelona, Manchester United und andere dieser lauen Pädagogenmeinung folgen, dürften sie kein Scouting in Afrika, Südamerika oder auf dem Balkan unterhalten und sich von dort die besten Talente nach Europa holen. Genau das machen sie aber, und das mit gutem Grund.

Und nicht nur sie. Auch in anderen Organisationen und Genres, gleich, ob es sich dabei um Musik, Literatur oder Kunst handelt, setzt sich der Selektions- und Frühförderungsgedanke durch. Auch die Kleinsten müssen schon was lernen (vgl. "Schon Vierjährige sollen in die Schule"). Doch statt die Talentierten mit Hinz und Kunz zusammen kicken, musizieren oder wedeln zu lassen, werden die Besten des Jahrgangs in Stützpunkten, Internaten und Jugendcamps zusammengezogen und abseits von ihrer Heimat intensiv auf ihre späteren Aufgaben vorbereitet. Talent und Begabung fördert man, indem man die Besten mit- und gegeneinander spielen lässt und dabei guckt, wie sie sich im Wettbewerb mit den Besten bewähren und durchsetzen. Philipp Lahm etwa, kleinwüchsig von Geburt an, musste auf Geheiß seines Trainers, Hermann Gerland, grundsätzlich immer gegen zwei Jahre ältere Jungs antreten, um Robustheit und Durchsetzungsvermögen zu lernen.

Potenziale entwickeln

Ohne diesen Schuss "sozialdarwinistischen" Wissens wären niemals eine Steffi Graf und einen Boris Becker auf dem Tenniscourt zu bewundern gewesen. Und ohne eine solche Prise gäbe es vermutlich auch keinen Ronaldinho, Roger Federer oder Nicolas Sarkozy. Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass Bildung und Erziehung sich nach den Ansprüchen und Bedingungen des Profifußballs, einer Elitekadettenanstalt oder des Skizirkus zu richten haben oder sich danach organisieren ließen.

Zum einen gibt es bekanntermaßen so genannte "Spätentwickler", die einige Zeit brauchen, bis sie ihr Talent erkennen und nutzbar machen. Begaben heißt bekanntlich, wie bei Heinrich Roth, einem Ökonomen, anno 1968 zu lernen war, vor allem eins: begaben. Hinzu kommt der eiserne Willen, der Ehrgeiz und der Mut, sich körperlich oder mental zu schinden, sich, bei sozialer Benachteiligung, auch selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf herauszuziehen und vornehmlich auf die süßen Annehmlichkeiten des modernen Lebens zu verzichten.

Zum anderen kann niemand genau voraussagen, wie Talente sich im Laufe der Zeit entwickeln. Seit Aristoteles wissen wir, dass das Wirkliche niemals fertig ist. Es enthält zahlreiche Potenziale, die sich nicht alle oder nicht in jedem Fall realisieren müssen. Talente haben viele Menschen. Ob sie diese Potentiale jemals ausschöpfen, bleibt höchst ungewiss. Sie sind von Faktoren abhängig, die nicht immer in der Macht des Einzelnen stehen, von Zufällen und Glück etwa oder von persönlichen Begegnungen, Sponsoren und sozialen Kontakten.

Vom Fußball lernen

Trotzdem gibt uns das Fußballprofigeschäft einen Fingerzeig darauf, wie Leistungen hervorgekitzelt, gesteigert und optimiert werden können. Leistungsförderung tritt ein, wenn Anforderungen stets im Bereich des Erreichbaren liegen. Liegen Messlatte und Anforderungsniveau zu hoch, animiert das nicht mehr zu Leistung. Schüler und Jugendliche sind frustriert und wenden sich anderen Dingen zu. Sie schauen entweder fern, spielen Play Station oder tratschen mit virtuellen Freunden. Umgekehrt gilt das ganz genauso: Sind die Anforderungen zu niedrig, und wirkt das Umfeld wenig stimulierend auf Kinder und Jugendliche, werden Leistungsschübe ausbleiben, Talente und Ehrgeiz verkümmern.

Und noch etwas kann man au dem Fußballfeld in Erfahrung bringen. Ohne Disziplin, Respekt und Autorität, ohne einen für jedermann transparenten Strafenkatalog lassen sich weder Erfolge noch nachhaltige Leistung erzielen, weder im Team noch als Einzelner. Das musste zuletzt erst der FC Hollywood erfahren, dessen Trainer Ottmar Hitzfeld nach der Suspendierung des Torwarttitans Oliver Kahn vor einem möglichen "Irrenhaus" an der Säbener Straße warnte. Obwohl das im Prinzip jeder weiß, Hochleistungen ohne Disziplin und Verzicht, Ausdauer und Härte vor allem gegen sich selbst (vgl. "Geschlossener Planet") nicht zu erbringen sind, hat der ehemalige Leiter des Internats von Salem viel Spott, Häme und Kritik für sein Lob auf Disziplin und Autorität einstecken müssen. Statt das Pädagogentypisch allzu optimistische Bild und die Hybris des Autors, was die Machbarkeit von Erziehung und Bildung angeht, in Zweifel zu ziehen, hat man lieber sein Plädoyer für mehr Mut in der Erziehung in Bausch und Bogen verdammt.

Am Boden der Tatsachen

Um aber nachhaltig Leistung zu sichern, müssen Fordern und Fördern in einem angemessenen, erreichbaren, quasi reziproken Verhältnis zueinander stehen. Stehen beide in einem eklatanten Missverhältnis, ist das Scheitern vorprogrammiert. Weder frühzeitige Selektion ist das Hauptproblem des modernen Bildungswesens noch ist das dreigliedrige Schulsystem schuld, dass Kinder und Jugendliche aus dem Arbeitermilieu oder mit Migrationshintergrund auf höheren Schulen fehlen. Der ständig wiederholte Vorwurf der PISA-Forscher, das deutsche Bildungssystem sei hoch selektiv und benachteilige die Kinder bildungsferner Schichten, geht einfach von falschen Voraussetzungen aus (vgl. "Uno-Schulinspektor übt harsche Kritik").

Das hat soeben eine von dem Züricher Sozialisationsforscher Helmut Fend geleitete Langzeitstudie nochmals bestätigt, die dreiundzwanzig Jahre lang über 1500 Jugendliche wissenschaftlich begleitet hat. Zu je einem Drittel lernten die anfangs Zwölfjährigen in Gesamtschulen, im dreigliedrigen Schulsystem oder in Förderschulen, wo sie erst nach der sechsten Klasse verschiedenen Schularten zugewiesen wurden. Nach Fends Analysen hat das Schulsystem keinerlei Einfluss auf das Bildungsniveau, das die Probanden als Fünfunddreißigjährige erreicht haben. Kinder aus Arbeiterfamilien landeten nach der Gesamtschule genauso wenig auf der Universität wie ihre Altersgenossen aus dem gegliederten Schulsystem. Die "sozial gerechte Gemeinschaftsschule", die so genannte "Schule für alle" (vgl. "Fluchtwege der Bildungsbürger"), bleibt dieser Studie nach Illusion. Sie gibt es nicht, auch wenn Reformpädagogen das nicht einsehen und lieber an ihren Lebenslügen stricken.

Daran werden auch Ganztagesschulen, Ganztagsbetreuung und staatliche Rundumversorgung der Schüler wenig ändern. Wäre es anders, müssten die Ergebnisse in Frankreich oder England, wo dieser Schultypus seit Jahrzehnten Normalität ist, weitaus besser sein, und Italien, das nach wie vor die Halbtagesschule pflegt und obendrein die längsten Ferien in Europa besitzt, abgeschlagen auf den hintersten Plätzen landen. Das ist aber, wie wir wissen, mitnichten so.

Den Einzelnen in die Pflicht nehmen

Will man die Leistungen der Schüler verbessern, reicht es nicht, Strukturen ständig in Frage zu stellen. Statt dauernd am Schulsystem herumzuflicken, das Gymnasium um ein Jahr zu kürzen, den Schultag auf dem Nachmittag oder auf das Wochenende auszuweiten und die Schüler von einer Heer von Fachpersonal diagnostisch begleiten und betreuen zu lassen, sollte man lieber nach Inhalten fragen. Zum Beispiel was in der Schule gelernt, was gekonnt, was beherrscht werden. Und man sollte erst mal Standards setzen, und weniger wie in der PISA-Gemeinde üblich danach schauen, wie viele Schüler sie erfüllen. Als ob Quoten etwas über das Bildungsniveau eines Landes aussagen würden.

Nach all den Aufgeregtheiten der letzten Zeit braucht Schule eher Ruhe als Neuerungen. Und statt die Schule mit unterrichtsfremden Dingen ideologisch zu überfrachten, sie für das Scheitern von Hinz und Kunz verantwortlich zu machen, sollte man hinterfragen, ob die Einstellungen des zu Bildenden den heutigen Anforderungen überhaupt genügen. Das aber hieße, Schüler und vor allem Eltern wieder mehr in die Pflicht zu nehmen und sie daran zu erinnern, dass Lernen was mit Mühe, Arbeit und Anstrengung zu tun hat, und Selbstverständlichkeiten wie Hausaufgaben und gezieltes Üben für erfolgreiches Lernen einfach notwendig sind.

Nicht das Schulsystem wirft demnach Fragen auf, sondern die lahme Handhabung und Durchsetzung des Leistungsgedankens. Im schleichenden Verächtlichmachen von Noten und Zensuren, aber auch im zu langen gemeinsamen Unterrichten von Hoch- und Minderbegabten, Willigen und Unwilligen findet das alles nur seinen sichtbarsten Ausdruck (vgl. "Schafft doch gleich die Noten ab!"). Auslese und Zuteilung dienen, solange sie professionell und passgenau erfolgt, dem Einzelnen, und nicht der Normierung der Gesellschaft (vgl. "Normschüler aufs Gymnasium, Migranten ab in die Hauptschule").

Im Umkehrschluss heißt dies natürlich nicht, dass Nichttalentierte oder soziale Benachteiligte weniger gefördert oder nicht "kompensatorisch" unterrichtet werden müssten. Sicherzustellen ist, dass die Durchlässigkeit zwischen den Schularten bewahrt, garantiert und ausgeweitet wird. Selektion nur mit der Brille Foucaults zu lesen und sie als Biopolitik zu verkaufen, ist nicht bloß böswillig, es ist auch vollkommener Blödsinn. Im Blick steht, was das Individuum kann oder auf einer bestimmten Entwicklungsstufe zu leisten bereit ist, Neigungen, Begabungen und Talente.

Sünden der Vergangenheit

Dies möglichst frühzeitig festzustellen, ist auf alle Fälle sozial gerechter als Anforderungen zu senken, Leistungen zu frisieren und Schüler ständig kognitiv zu überfordern. Hier ist in der Vergangenheit viel Schindluder getrieben worden, erst recht, seit es in den 1970ern Psychologen und Mediziner, Sozialromantiker und Therapeuten im Verbund gelungen ist, Schulen und Bildungsanstalten zum Tummelplatz ihrer Aktivitäten zu erklären. Seit dieser Zeit sind alle Inhalte des Unterrichts, Lehren, Lernen und Zensuren systematisch "psychologisiert" und/oder "pädagogisiert" worden.

Die Schulen werden mittlerweile richtiggehend überschwemmt mit medizinischen, juristischen und therapeutischen Gutachten, die mangelnden Leistungswillen, fehlende Motivation oder Disziplinlosigkeiten mit der Psyche des Kindes, dem sozialen Umfeld oder physischen Defekten begründen. Von Dyskalkulie über Legasthenie und Schulphobie bis ADHS oder ADS reichen inzwischen die "psychologischen" Erklärungen. Immer sind die anderen schuld, das Bildungssystem, die Gesellschaft, die Lehrperson, der Unterrichtsstoff, höchst selten diejenigen, um derentwillen Milliarden in das Bildungssystem gepumpt werden.

Und es sieht auch nicht so aus, als ob sich an dieser Misere in absehbarer Zeit irgendetwas ändern würde. Dabei war und ist es einmal eine der herausragenden Leistungen des modernen Bildungssystems gewesen, dass es das "ständische Bildungswesen" erneuert und soziale Herkunft durch das Leistungsprinzip ersetzt hat. Um sie entsprechend würdigen zu können, ersann man Noten und Zensuren. Sie lieferten einen, zumindest einigermaßen, fairen und objektiven Maßstab, um Leistungen abzufragen, messen und vergleichen zu können. Ihnen mussten sich alle unterziehen, die Tochter des Apothekers genauso wie der Sohn des Briefzustellers, der Sohn des Investmentbankers genauso wie die Tochter der türkischen Einwandererfamilie. Vor Schulaufgaben oder Leistungstests waren alle gleich. Sie in Zahlen von Eins bis Sechs zu fassen, verdichtete Information und entband den Lehrenden vom Verfassen redundanter Kommentare, die kaum jemand verstand und in denen es von subjektiven Einschätzungen und Vorurteilen nur so wimmelte.

Chancengleichheit für alle - dies war einmal vorrangige Aufgabe des allgemeinen Bildungswesens. Trotz aller Mängel, die dieses System wie jedes andere beinhaltete, war einigermaßen gewährleistet, dass Apothekertochter, Taxifahrersohn und Migrationskind, vorausgesetzt sie sind gleichermaßen begabt, talentiert und ehrgeizig, die gleichen Chancen und Möglichkeiten auf den Erwerb höherer Bildung und einen höher dotierten Posten später haben. Nicht fromme Wünsche und Sprüche braucht das Land, sondern bessere oder strenger auf kognitive Leistungen hin geschulte Kinder und Jugendliche. Und die bekommt man nur, wenn wieder mehr auf echte Leistung geachtet und sie auch eingefordert wird.

Ungleichheit produzieren

Wenn dieses Prinzip mittlerweile ausgehebelt worden ist, in Klassenzimmern eher Ungleichheit statt Gleichheit herrscht, so liegt das weniger am Bildungssystem selbst als am latenten Enthusiasmus übereifriger Pädagogen sowie an der Politik. Zunächst waren es Reformpädagogen, die Gleichheit durch soziale Gerechtigkeit ersetzt oder sie mir ihr verwechselt haben. Statt der Unterscheidung "richtig/falsch", "klug/dumm", "fleißig/faul" stand fortan die Differenz "benachteiligt/privilegiert" im Kreuzfeuer der Kritik. Schule, Lehrpläne und Lehrpersonal wurden verdächtigt, sozial schwache Schichten von der Bildung systematisch auszuschließen. Schule und Unterricht sollten Orte werden, an dem die sozialen Klassenkämpfe stellvertretend geführt werden. Hier sollte die soziale Ungleichheit beseitigt, umgekehrt oder aufgehoben werden (vgl. "Verteidigung der Klassenunterschiede").

Später waren es Politiker, die unter massivem Druck gut meinender Sozialpädagogen und Managern mit kaltherzigem kapitalistischen Kalküls das Schulsystem diversifiziert haben. Indem sie zu viele Ausnahmen genehmigt und zugelassen haben, haben sie im Bildungswesen die Postmoderne quasi verwirklicht. Seitdem schießen allerorten ständig neue Privatschulen wie Pilze aus dem Boden, internationale, katholische oder nationale Schulen, die sich auf pädagogische Gurus berufen, auf Herder, Montessori oder Steiner. Um staatlichen Schulen mehr Wettbewerb zu verordnen, werden sie von staatlicher Seite massiv finanziell gefördert.

Der Kindermangel, der hierzulande herrscht, trägt sein Scherflein zu dieser grotesken Situation bei. Längst ist unter den Schulen ein Kampf um Schüler entbrannt, bei dem die Privaten eindeutig im Vorteil sind. Trotzdem Eltern teilweise erhebliche finanzielle Vorleistungen erbringen müssen, können sie Schüler mit dem Versprechen ködern, sie zu den gewünschten schulischen Abschlüssen zu führen. Und zwar auch dann, wenn die Eignung dafür eher dürftig ist. Für die Privaten ist das in aller Regel kein großes Problem. Da sie rigider staatlicher Aufsicht kaum unterliegen, dieselben Abschlussprüfungen wie staatliche Schulen zwar schreiben, Jahresfortgangsnoten und Korrektur in aller Regel aber in Eigenregie machen, entscheiden sie höchstselbst, ob ein Schüler den anvisierten Abschluss erreicht oder nicht.

Hinzu kommt, dass sie ein natürliches Interesse daran haben, die Erfolgsquoten auf knapp 100 Prozent zu steigern. Schließlich möchten sie das Jahr drauf die nötigen Schüler wieder akquirieren, die nötig sind, um die Existenz der Schule langfristig zu sichern. Und weil Eltern aus leicht nachvollziehbaren Gründen immer das Wohl und die Zukunft ihrer Kinder im Auge haben, werden sie, wenn sie es sich finanziell leisten können und/oder die Begabung ihres Kindes nicht für die staatliche Schule ausreicht, den Privaten den Vorzug geben. So gesehen erweitern Privatschulen nicht, wie Bildungspolitiker oder Pädagogen gern vorgeben, das Bildungsangebot, sondern untergraben ebenso wie medizinische Gutachten, freier Elternwille oder juristische Winkelzüge den vormalig starken Leistungsgedanken.

Beschönigen von Leistungen

Ähnliches lässt sich über PISA sagen. Auch hier werden mittlerweile zu viele Ausnahmen zugelassen, die den Vergleich sabotieren oder zur Farce werden lassen (vgl. "Pisa - ein teurer Zufallsgenerator"). Finnland zum Beispiel schließt alle Legastheniker von den Schulleistungstests aus; die Polen geben unvollständige Testhefte ab; und in Deutschland werden, um die Ergebnisse an vielen Schulen zu schönen, bereits Wochen vorher in den Klassen oder im Unterricht eifrig PISA-Tests eingeübt. Von Kultur- und sprachspezifischen Inhalten, die angelsächsische Lern- und Herangehensweisen favorisieren; von unsinnigen Fragen wie: ob das Stichlingsweibchen nun das Stichlingsmännchen am Gesicht oder am Bauch erkennt; oder von umstrittenen Fragen wie: ob die Evolution nun eine Theorie ist, die durch Forschung bewiesen ist, mal ganz zu schweigen.

Grundsätzlich ist gegen Leistungsvergleiche nichts zu sagen, solange sie fair durchgeführt und dabei Kriterien eingehalten werden, die sich an objektiven Standards orientieren. Doch eher das Gegenteil ist der Fall. Wer sich im Schulwesen auskennt oder sich dort ein bisschen umhört, wird das wissen. Statt wirkliche Leistungen einzufordern, werden Bildungsstandards aufgeweicht und virtuelle Leistungen gemessen. Beispielsweise werden, um bei PISA gut abzuschneiden, Lehr- und Arbeitsbücher auf PISA-taugliche Inhalte und Fragenkataloge ausgerichtet. Vor allem in den Naturwissenschaften ist das zu beobachten. Daraus erklärt sich vielleicht, warum deutsche Schulen zuletzt vor allem in diesen Fächern gute Leistungen gezeigt haben. Oder es werden, um sich die zunehmend knapper werdende Ware "Schüler" zu sichern, um nicht die Schule schließen zu müssen oder um nicht "Opfer" elterlicher Klagewut zu werden, systematisch Leistungsstandards gesenkt, die Notengebung frisiert und auf diese Weise die Übertrittsquoten auf höhere Schulen künstlich gesteigert. Und es werden, um bei Evaluationen durch Expertenteams nicht schlecht beurteilt oder öffentlich beleumundet zu werden, Übertrittsquoten über Maß angehoben und Unterrichtsmethoden gepflegt, die das Gefallen der Gutachter finden. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass bald, wie in den USA längst üblich, Schulen geschlossen oder Schulleitern ein Oberaufseher zur Seite gestellt wird, wenn sie solche Erfolgsquoten nicht nachweisen können.

Bildungspolitische Verbrechen

Nimmt man diese Beispiele, die allesamt aus der "Küche" der Schule stammen, ernst, dann weiß man, wie schief der Turm von PISA ist, der im zweijährigen Rhythmus aufgebaut wird, nämlich so schief wie der echte in Pisa.

Leistung lässt sich nicht in sozialen Kriterien fassen oder (auf)wiegen. Wer das Soziale dem Leistungsprinzip aufpfropft, überfordert Schule, Lehrer und Unterricht. Oder er bekommt, wie zu beobachten, genau jene Schule, die er verdient. Weder kann man Hochbegabte mit Minderbegabten zugleich oder gleichzeitig unterrichten noch kann Schule die ungleichen Voraussetzungen ihrer Schüler zum Vollausgleich bringen oder qua Unterricht und Organisation gar ganze Unterschichten zum Verschwinden bringen. Je homogener die Leistungskraft einer Gruppe, desto einfacher und effektiver ist das Unterrichten. Wer anderes behauptet, lügt bewusst oder ist ideologisch verblendet. In jedem Fall gibt er sich einer gefährlichen Selbstillusion hin, die ein bildungspolitisches Verbrechen an Schülern und Studenten einkalkuliert - im moralisch korrekten Sinn selbstverständlich.

Es sind diese unrealistischen Vorstellungen von Schule, diese Mischung aus Verlogenheit und ideologischer Verbohrtheit auf der einen, pädagogischer Heilsversprechen auf der anderen Seite, die der Misere des modernen Bildungswesens weiter Vorschub leisten. Spätestens dann, wenn das Abitur ansteht oder Prüfungen an der Universität einsetzen, beginnt der große Katzenjammer (vgl. "Bildungsexpansion. Wie viele Studenten braucht das Land?"). Die stattliche Zahl von Studienabbrechern, sogar in den neuen, eher leichten Bachelor-Studiengängen (vgl. "Universitäres Schwundverhalten"), spricht Bände. Dass diejenigen, die solche Selbstillusionen nähren und weiter wider bessere Einsicht daran stricken, niemals zur Rechenschaft gezogen werden, ist das eigentliche Traurige an dieser Geschichte.