Muslime in Deutschland

Innenminister fordern Gewaltverzichtserklärung von Muslimen, eine vom Bundesinnenministerium einseitig interpretierte Studie zeigt ein komplexes Bild der Situation von Muslimen in Deutschland

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Die türkische Zeitung Hürriyet bildete am 23. Dezember einen Judenstern ab und titelte „Nazimethoden gegenüber Muslimen“. Die überzogene Reaktion in der Presse bezog sich auf die überzogene Forderung von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU), dass Muslime eine Gewaltverzichtserklärung unterschreiben sollen. Er wurde dabei von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) flankiert. Der angebliche Grund für die Forderung sollen die die Ergebnisse der Studie Muslime in Deutschland sein, die der ehemalige Innenminister Otto Schily (SPD) 2004 in Auftrag gegeben hat. Dabei wird die Stoßrichtung der Studie, die sich schon im Untertitel ausdrückt, übergangen: „Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierte Gewalt.“

Es verwundert nicht, dass sich im Vorwort von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Interpretationsrichtung angelegt findet, die sich in der Forderung der genannten Politiker ebenso wie in Teilen der Presse wiederfindet. Nicht die Frage nach Integration und potentieller Radikalisierung, sondern ein bereits existierender „homegrown terrorism“ bildet nach Schäubles Vorwort den Rezeptionshintergrund, vor dem die Studie zu lesen ist.

Das Vorwort hebt an mit: „Liebe Leserinnen und Leser, der weltweit operierende islamistische Terrorismus ist heute eine der größten Gefahren für unsere Sicherheit.“ Ob dieser „islamistische Terrorismus“ weltweit operiert und ob die deutschen Muslime mit ihm in Verbindung gebracht werden können, wird nicht in Frage gestellt. In der Vorweihnachtszeit wird wiederum auf die Gefahrenlage in Deutschland hingewiesen. Mit einigem Erfolg, scheint es. In der Presse werden einige der Zahlen aus der Studie isoliert und wiederholt, wobei unklar ist, ob die Kenntnis der in fast allen Artikeln wiederholten Zahlen der Auseinandersetzung mit der Studie oder mit anderen Artikeln verschuldet ist.

Die Reaktion auf die über 500 Seiten starke Studie fiel derart stark aus, dass der Innenminister durch seinen Pressesprecher darauf hinweisen ließ, dass die Mehrzahl der im Lande lebenden Muslime nicht gewaltbereit sei. Im Folgenden wird der Inhalt der Studie in verkürzender Form wiedergegeben:

1. Befragung der muslimischen Allgemeinbevölkerung

Die in Hamburg, Köln, Berlin und Augsburg telefonisch befragte muslimische Allgemeinbevölkerung zeichnet sich der Studie zufolge durch einen schlechten Schulbildungsstand aus. Damit verbunden ergeben sich ein niedriges berufliches Qualifikationsniveau und im Anschluss daran beeinträchtigte soziale Partizipationsmöglichkeiten:

Es lässt sich daher für die Bevölkerung der Muslime ein erhebliches Defizit der praktischen sprachlichen und sozialen Integration in die deutsche Aufnahmegesellschaft konstatieren.

Hinzu komme, dass mehr als die Hälfte der befragten muslimischen Allgemeinbevölkerung das Gefühl zum Ausdruck bringt, von Deutschen abgelehnt zu werden und darüber hinaus konstatiert, muslimische Kinder würden in der deutschen Gesellschaft benachteiligt. Die Studie verweist auf die durch andere Studien erwiesenen Vorurteile gegen die muslimische Bevölkerung, die deren Gefühl, marginalisiert zu werden, bestätigt. Zu der persönlichen Erfahrung in Deutschland tritt die Betroffenheit von über 85% der Befragten gegenüber der Situation der palästinensischen Muslime hinzu. Darüber hinaus empfinden mehr als 90% „Wut angesichts eines pauschalisierten Terrorismusverdachts gegenüber Muslimen auf internationaler Ebene“.

Vor diesem Hintergrund ist die Gewaltaffinität von 6% „mit Blick auf politisch-religiös motivierte Formen massiver Gewalt“ (199) zwar ebenso erschreckend, steht aber nicht mehr isoliert im Raum. Wenn über 40 % der Befragten an eine Belohnung für im Kampf getötete „Gotteskämpfer“ glauben, so muss dies ebenso wenig bedeuten, dass diese auch bereit wären, für ihren Glauben im Kampf zu fallen. 40% halten zwar die „Anwendung physischer Gewalt als Reaktion auf die Bedrohung des Islams durch den Westen für legitim“, die Studie weist aber darauf hin, dass die Begriffe „Bedrohung“ und „Westen“ einer Klärung bedürfen und dass Akzeptanz von Gewalt nicht mit Bereitschaft zur Gewalt zu identifizieren ist oder deren Akzeptanz bedeutet:

Dass diese Einzelnennungen aber nicht indikativ für eine Akzeptanz terroristischer, (vermeintlich) religiös motivierter Gewalt sind, verdeutlichen die sehr hohen Quoten der Ablehnung von Selbstmordattentaten sowie terroristischen Handlungen. Deren Legitimation wird von über 90% der Befragten klar zurückgewiesen.

Ebenso weitsichtig erscheint die Studie, wenn sie nach darauf hinweist, dass zwar 14 % der hier befragten Muslime „eine hohe Distanz zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und/oder eine hohe Akzeptanz von politischreligiös motivierter Gewalt“ aufweisen, sich aber ähnliche Zahlen für den Rechtspopulismus nachweisen lassen (Gostomski, Küpper & Heitmeyer, 2007). Für die Allgemeinbevölkerung über 18 Jahren gilt somit, dass Intoleranz, Akzeptanz von Gewalt und Distanz zur Demokratie „zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vermutlich in mehreren Punkten vergleichbar sein dürften“.

2. Schülerinnen und Schüler

Für die standardisierte Erhebung mittels Fragebögen wurden in Hamburg, Köln und Augsburg 2.683 Jugendlichen der 9. und 10. Jahrgangsstufe befragt. Die besondere Wichtigkeit einer Erhebung bei dieser Zielgruppe ergibt sich daraus, dass insbesondere bei jüngeren Muslimen die Möglichkeit besteht, über pädagogische Institutionen auf sie einzuwirken.

Über 40% von diesen gab an, sprachlich-sozial schlecht oder mäßig integriert zu sein. Bei nichtmuslimischen Migranten ist diese Quote, die auf mangelnde soziale Beziehungen zu einheimischen Deutschen zurückgeführt wird, nur halb so hoch. Zwei von drei jungen Muslimen „haben gar keine oder nur wenige deutsche Freunde“ und fühlen sich eher dem Herkunftsland als Deutschland verbunden. Die Leiter der Studie erkennen eine Haltung, die „auf soziale Teilhabe insistiert, bei gleichzeitiger Anerkennung kultureller Eigenständig- und Andersartigkeit“. Dahinter zeigt sich bei den muslimischen Migranten eine geringe Bereitschaft zur Anpassung als bei nichtmuslimischen.

Dieses Muster der „Akzeptanzforderung“ stößt im Lebensalltag an Grenzen. 80% der Befragten erfuhren im letzten Jahr mindestens einmal, dass sie negativ als Ausländer behandelt wurden, etwa „10% der jungen Muslime berichten Akte der Viktimisierung durch ausländerfeindlich motiviert Formen der gegen sie persönlich oder ihr Eigentum gerichteten physischen Aggression, was eine Quote ist, die etwa doppelt so hoch ausfällt wie in der Allgemeinbevölkerung der Muslime“. Wie bei der befragten muslimischen Allgemeinbevölkerung fühlt sich ein großer Teil der jungen Muslime (85,9%) durch die „Kriegsführungen der USA bezogen auf muslimische Staaten“ emotional betroffen. Ein ebenso großer Teil zeigt Wut über den pauschalisierten Terrorismusverdacht gegen Muslime.

Bei einem Viertel der befragten muslimischen Schüler lässt sich „eine nicht zu unterschätzende Minderheit mit deutlichen Anzeichen von Intoleranz, Demokratiedistanz bzw. autoritaristischen Zügen“ festmachen. Wenn sich auch die meisten jungen Muslime gegen politisch-religiös motivierte Gewalt stellen, ist die Quote derer, die Haltungen äußern, „die als gewaltlegitimierend mit Blick auf extreme Formen politisch-religiös motivierter Gewalt bezeichnet werden können“, mit 11,1% doppelt so hoch, wie die bei der muslimischen Allgemeinbevölkerung. Noch bedenklicher ist der Anteil von einem Viertel der Befragten, die Gewalt für legitimierbar halten, „wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung des Islam geht“. Auch die „individuelle Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, wenn es der islamischen Gemeinschaft dient“, liegt mit 24% (in der Allgemeinbevölkerung 7,6%) hoch. Besondere Gefahr besteht in der Anfälligkeit dieser Jugendlichen dafür, über ihre Überzeugungen politisch instrumentalisiert zu werden.

3. Studierende

Die Befragung von 195 Studierenden wurde in Hamburg, Köln, Berlin und Augsburg auf dem Postweg durchgeführt. Diese Gruppe an jungen Erwachsenen zeichnet sich durch einen bereits erreichten Erfolg auf dem Lebensweg aus, da es keinesfalls selbstverständlich für einen Muslim in Deutschland ist, es bis an eine Universität zu schaffen. Die Studenten erhalten in der Studie besonderes Augenmerk, da bei ihnen davon auszugehen ist, dass sie wegen ihrer Ausbildung als Multiplikatoren dienen können, so dass sowohl ein erheblicher gesellschaftlicher, als auch politischer Einfluss von ihnen zu erwarten ist.

Bei den Befragten zeigte sich eine deutliche Diskrepanz zwischen einer hohen Verbundenheit mit Deutschland als Heimatland und einer geringen kulturellen Identifikation. 80% von ihnen berichten über negative Erfahrungen aufgrund der Behandlung als Ausländer, 33,7% stellten schwere oder sehr schwere Diskriminierungserfahrungen dar. Die Autoren heben heraus: „Die entsprechenden Quoten für nichtmuslimische Studierende sind signifikant niedriger.“ Dies kann durch eine sensibilisierte Wahrnehmung der muslimischen Studierenden bedingt sein; auch werden die kollektiven Marginalisierungserfahrungen bei dieser Zielgruppe deutlicher angemerkt. Die Studie spricht von „etwa 6% eindeutig als islamisch autoritaristisch zu qualifizierenden Studierenden, die hohe Demokratiedistanz bei gleichzeitiger hoher Befürwortung der Scharia erkennen lassen“. Ein Viertel von ihnen wird als „religiös rigide bezeichnet“.

Die antisemitischen Vorurteile – „von knapp einem Drittel in der Tendenz und von etwa 10% in extremer Form geäußert“ – überwiegen bei den muslimischen Studierenden diejenigen gegenüber Christen; „demokratiedistante Einstellungen und/oder starke religiöse Vorurteile“ finden sich bei 15% der Befragten. Die Akzeptanz von politisch-religiöser Gewalt bei Studenten wird in der Studie als gering dargestellt. Dennoch lässt sich unter dieser Zielgruppe eine insbesondere unter männlichen Studierenden, die nur für die Zeit des Studiums in Deutschland sind, eine Gefahrengruppe lokalisieren, wobei die Wahrnehmung kollektiver globaler Marginaliserung einen entscheidenderen Einfluss auf das Ergebnis hat, als persönliche Erfahrungen ähnlicher Art in Deutschland:

Bedeutsam ist hier – neben einer religiösen Ausrichtung in einer Form, die eine starke Abwertung des Westens und eine pauschale Aufwertung des Islam in sich trägt – die intensive Auseinandersetzung mit der Lage der Muslime in der Welt und die subjektive Wahrnehmung ihrer Benachteiligung und Unterdrückung.

4. Erhebung im Umfeld muslimischer Organisationen

Als Zielgruppe für die qualitativen Interviews dieses Teils der Studie wurden „über 20-jährige, erwachsene Muslime männlichen Geschlechts festgelegt, die sich in muslimischen Gruppen, Gemeinden, Organisationen oder Vereinen engagieren“. Bei den vier dargestellten Fällen stellte sich auf der einen Seite heraus, dass die Befragten Deutschland wegen der freien Ausübung der Religion schätzten, auf der anderen Seite aber das geistige Klima in Deutschland nach dem 11. September 2001 als eines beschreiben, in dem „sie sich ständig als Bedrohungsfaktor betrachtet, als potenzielle Bombenleger beäugt fühlen“.

Dabei wird herausgestellt, dass die jüngere Generation sich noch der deutschen „Aufnahmegesellschaft“ zuwendet, und auch die muslimischen Organisationen als Teil dieser Zuwendung versteht, während bei den älteren Migranten eine resignative Haltung vorherrscht. Alle Befragten stimmten darin überein, dass in ihrem Umfeld „Extremismen“ existieren, die mit der Lage der Muslime im Nahen Osten in Verbindung gebracht werden.

In zwei der Fallbeispiele beschreiben die Befragten, dass sie erst in der Phase der Orientierungslosigkeit als Heranwachsende an „Orientierungsfiguren“ geraten seien, denen sie sich anschlossen, weil sie Regeln boten. Beide sind erst seit diesem Ereignis als rigider zu bezeichnen, was den Glauben angeht („Bezug zur Scharia“, „Vision einer islamischen Gesellschaft“):

Sofern in einer solchen sensiblen Phase Menschen individuell überzeugenden Vertretern des Islam begegnen, die ihnen klare Regeln und Antworten auf Sinnfragen und damit Orientierung bieten, kann es durchaus zu biographischen Umorientierungen kommen, die den Weg zur Etablierung von religiös konnotierten Extremismen bereiten.

In allen untersuchten Zielgruppen hat sich eine überdurchschnittliche Beziehung der muslimischen Bevölkerung zum Glauben im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen herausgestellt. Allgemein schätzt die Studie „das Potenzial für eine islamisch konnotierte Radikalisierung“ auf zehn bis zwölf Prozent der Muslime ein, wobei zwischen drei Gruppierungen unterschieden wird:

  1. Muslime, die eigentlich über Möglichkeiten zur Partizipation in der Gesellschaft verfügen und „in der Wahrnehmung einer stellvertretenden Viktimisierung im Sinne kollektiver Marginalisierungswahrnehmung, der Vorstellung einer Ausgrenzung, Schlechterstellung und Unterdrückung von Muslimen auf nationaler wie auch internationaler Ebene“ davon zurücktreten.
  2. Muslime, die aufgrund von Bildungsmangel trotz der Bereitschaft zur Partizipation geringe Chancen sehen, sich zu integrieren und sich diskriminiert fühlen.
  3. Eine Gruppe, „bei der eher von einem selbst gewählten Rückzug in ein traditionelles ethnisches Milieu gesprochen werden kann“. Diese Gruppe, die auf mehr auf äußere Rituale als auf innere Religiösität bedacht ist, schließt sich selbst von der Gemeinschaft aus.

Eines der bedenklichen Ergebnisse ist, dass sich ein Großteil der Muslime in Deutschland wegen ihres Glaubens diskriminiert fühlt. Es muss jedoch beachtet werden, dass nicht nur individuelle Exklusionserfahrungen eine Radikalisierung von Muslimen in Deutschland bedingen, sondern dass hierbei auch eine „Viktimisierung im Sinne kollektiver Marginalisierungswahrnehmung, der Vorstellung einer Ausgrenzung, Schlechterstellung und Unterdrückung von Muslimen auf nationaler wie auch internationaler Ebene“ eingerechnet werden muss.

Die 6% der Muslime, bei denen die Gefahr einer Radikalisierung besteht, werden von den Autoren der Studie als „gewaltaffin im Sinne einer Akzeptanz massiver Formen politisch-religiös motivierter Gewalt“ gekennzeichnet. Insbesondere die jüngeren Muslime haben sich in der Studie als anfällig für Radikalisierungen im Sinne eines autoritären Islam erwiesen. Die Studie warnt jedoch davor, im Augenblick „aus den Befunden unmittelbare Folgerungen für praktische Maßnahmen abzuleiten, die sich auf die Prävention solcher Entwicklungen richten, die zu Extremismen im Kontext des Islam führen“. Die Autoren empfehlen dagegen, mit den muslimischen Interesseverbänden in einen Diskurs zu treten, da auch diese ein Interesse daran haben werden, das Potential einer Radikalisierung der Muslime in Deutschland zu senken.

Diese Forderung der Autoren wurde jedoch durch das Verhalten bei der Veröffentlichung der Studie durch das Innenministerium konterkariert. Die Veröffentlichung der Studie, deren Ergebnisse bereits seit dem Juli bekannt waren, übergeht eine Absprache mit dem Islamrat, mit dem sie im Juli diskutiert wurden. Kenan Kolat, Vorsitzender der türkischen Gemeinde in Deutschland hält die Fokussierung auf einzelne Elemente der Forschung durch Innenminister Schäuble für bedenklich.

Peter Wetzels, einer der Autoren der Studie, bemüht sich, seit der Veröffentlichung des Textes vor voreiligen Schlüssen zu warnen. Diese scheinen jedoch durch das Vorgehen bei der Veröffentlichung derselben zumindest mit in Kauf genommen worden zu sein, so dass die schrille Diskussion um den oftmals unbekannten Inhalt der Studie die Auseinandersetzung mit ihr überdeckt und zunächst die hochschlagenden Wogen geglättet werden müssen, bevor eine ernsthafte Beschäftigung mit ihr möglich wird.