Wem keine Ehre gebührt

Juden, Einwanderer oder nationale Minderheiten im deutschen Fernsehen - das ist immer noch der Gang durch ein Minenfeld, auf dem die Sprengsätze der Political correctness häufig die treffen, die die es besonders gut meinen

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Die Aleviten in Deutschland haben jetzt in Berlin Strafanzeige wegen Volksverhetzung gestellt. Sie wollen damit gegen den Tatort Wem Ehre gebührt protestieren, der am letzten Sonntag in der ARD ausgestrahlt wurde. Ali Ertan Toprak, der Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland, sagte der Netzeitung, der Plot wiederhole "genau die Vorurteile, mit denen die Aleviten seit Jahrhunderten verfolgt und bis heute diskriminiert werden".

Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ermittelt im "türkischen" Milieu: Die Deutschtürkin Afife (Sersede Terzyan) wird erhängt von ihrem Mann (Hakan Can) aufgefunden. Was denkt der Zuschauer bei einer Toten im Krimi und mehr als einem Kopftuch? Richtig: Ehrenmord. Das kennt man ja von den Muslimen im Allgemeinen und den Türken im Besonderen.

Politisch gut gemeint ist die Idee, die Kommissarin zunächst in diese Richtung ermitteln zu lassen. Ko-Ermittler Cem Aslan (Mehmet Kurtulus) darf der Lindholm ständig ein schlechtes Gewissen einreden, indem er ihr alle Klischees über türkische Einwanderer um die Ohren schlägt. Man ahnt: Ein Tatort ist viel zu anspruchsvoll für derart einfache Lösungen. Die Regisseurin und Autorin des Drehbuchs, Angelina Maccarone, sagte in einem Interview: "Ich setze bei diesen Erwartungen an, um Lindholm einige Male in die Irre laufen zu lassen und um beim Zuschauer einen wie ich hoffe umso größeren Überraschungseffekt zu erzielen." Das ist gründlich misslungen: Ein penetranter pädagogisch wertvoller Wink mit einen mittelgroßen Zaunpfahl, um Allahs Willen nicht schon wieder Vorurteile zu haben, ermüdet eher als dass er etwas verändert.

Zwischendurch wird im Film noch eine weitere falsche Fährte in das Raubkopierer-Milieu gelegt. Dann aber muss auch noch Selda (Aylin Tetzel), die Schwester der ersten Toten, dran glauben - Selbstmord oder Mord? Wenn bis zur Mitte eines in Deutschland spielenden Films, in dem viele Türken herumlaufen, keine Nazis vorgekommen sind, weiß man: Es handelt sich garantiert um ein psychologisches Drama innerhalb einer Familie "mit Migrationshintergrund", wie man im Multikulti-Neusprech zu radebrechen pflegt. Wenn türkische Töchter sich zu sehr emanzipieren, gegen die Wand laufen und wie das alles melodramatisch endet. Die Wahrheit ist in diesem Tatort gewohnt "erschütternd": Inzest zwischen dem Vater und seiner jüngsten Tochter, also sexueller Missbrauch. Schlimmer geht's nimmer.

Wenig überraschend ist das Statement des NDR, es gehe in dieser Tatort-Folge "nicht darum, religiöse Gefühle zu verletzen oder Vorurteile gegen die alevitische Glaubensgemeinschaft zu untermauern". Wenn das gesondert festgestellt wird, könnte man fast vermuten, in anderen Folgen sei das anders. Angelina Maccarone, "eine der wichtigsten zeitgenössischen Filmemacherinnen Deutschlands", habe erklärt:

Dieser Fall - denn es handelt sich um einen Krimi - könnte so in jeder Familie überall auf der Welt passieren, egal ob deutsch oder türkisch.

Exotische Staffage mit unbedachtem Hintergrund?

Das ist wahr und falsch zugleich. Natürlich kann man jeden dramatischen Plot mit unterschiedlichem Ambiente als Staffage aufführen – den Science-Fiction-Film Outland etwa als Western, und Casablanca als Theaterstück mit Kostümen aus der Shakespeare-Zeit. Falsch ist aber, dass es der Aleviten bedurft hätte, um genau diesen Tatort-Plot zu realisieren.

Zwei Motive sind auf den ersten Blick denkbar: Da die türkischen Einwanderer in Deutschland zum Einen fast immer auf den sunnitischen Islam reduziert werden und kaum einer weiß, dass mehr ein Viertel der Deutschtürken Aleviten sind, ist ein Tatort eine probate Methode, die liberale quasi-schiitische Religion, die auch von der Schari'a nichts wissen will, ins Feuilleton zu pushen. Der theologische Unterschied zwischen Aleviten und den Sunniten ist größer als der zwischen Katholiken und Protestanten. In den deutschen Medien kommt das aber mit wenigen Ausnahmen so gut wie nicht vor. Zudem erkennt die Türkei die Aleviten als Religionsgemeinschaft nicht an, obwohl die Aleviten sogar in der Kurdenfrage die offizielle Staatsmeinung vertreten, also sich strikt gegen einen kurdischen Nationalismus wenden.

Zum Anderen muss man die Autorin fragen, ob die Aleviten schlicht als exotische Staffage gemeint sind oder ob das Thema für den Plot tragend ist. Man muss befürchten, dass Letzteres der Fall ist. Der orthodoxe Islam taucht indirekt auf, als Folie, vor dem sich die Religiosität der Familie spiegelt. Die jüngere Tochter Selda trägt ein Kopftuch, obwohl das gerade alevitische Frauen nicht tun. Sie bekennt sich damit symbolisch - im Gegensatz zu ihrer Familie, aus die sie flüchten will - zu denen, die den Aleviten über Jahrhunderte "Blutschande" vorgeworfen heben - den Sunniten.

Dieser Vorwurf ist vergleichbar mit dem des Ritualmords an christlichen Kindern, der den Juden über Jahrhunderte in Europa zum Vorwurf gemacht wurde, um sie zu diskreditieren. Sogar in der Türkei der Neuzeit gab es Pogrome und Anschläge gegen Aleviten. Dieser Hintergrund erschließt sich jemandem, der ein Drehbuch schreibt, schon bei der Lektüre des einschlägigen Wikipedia-Artikels. Der Comedy-reife Hinweis im Vorspann des Tatorts, die Handlung sei "fiktiv", ändert nichts an der historischen Brisanz. Ebenso könnte man - überspitzt formuliert - einen Film drehen, der den Völkermord der Türken an den Armeniern leugnet und im Vorspann behaupten, es sei alles nur Belletristik und zur Unterhaltung gedacht.

In einem Forumsbeitrag schreibt der Bochumer Arzt Dr. med. Kerem Bulut polemisch:

Ich nehme an, daß Ihre Drehbbuchautorin Frau A. Macarone offensichtlich beim Schreiben des Drehbuches von sunnitischen Beratern instrumentalisiert worden ist. Als plausibles Indiz ist hier die subtile Botschaft, nämlich "der Rettungsanker sunnitischer Islam" für das arme, vom alevitischen Inzest-Papa missbrauchte Kind. (Motto: "Lieber Kopftuch, als von Papa missbraucht zu werden"). Der Schwiegersohn, ebenfalls ein anständiger Sunnite - klar, was sonst? -, war hier ein durchweg gläubiger und integrer Mann. Applaus! Bravo! DITIB und Milli Görüs danken! Soviel Propaganda vom deutschen Fernsehen ist mehr als man zu träumen wagte.

Mit vertauschten Rollen - der Vater und Mörder ein gläubiger Muslim und Sunnit - und der integre Schwiersohn ein Alevit - das hätte in der muslimischen Community einen kollektiven Aufschrei der Empörung gegeben, der bis in die Medien der Türkei geschwappt wäre. Der Tatort Angelina Maccarones sucht sich leider den bequemsten Weg: Man eckt nur bei denen an, die die schwächste Lobby besitzen. Man darf daher gespannt sein, wann der Plot von Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod in einen Tatort einfließt. Ein reicher Jude und Immobilienspekulant, der ein Strichmädchen tötet: "Das kann überall auf der Welt passieren, egal ob deutsch" oder israelisch - oder türkisch.