Operation Heiße Luft

Der angeblich "riesige Kinderporno-Skandal" unter dem Code-Namen "Operation Himmel" hat sich als Operation Heiße Luft erwiesen. Das Reizwort "Kinderpornografie" verführt deutsche Medien häufig zu einer kruden Mixtur aus Halbwahrheiten, urbanen Märchen und glatten Falschmeldungen

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Bei hoch emotionalisierten Themen wie "Kinderpornografie bei [bitte selbst ausfüllen]" werden journalistische Standards oft genug missachtet. Man sollte erst etwas publizieren, wenn man die Fakten überprüft hat. Das Statement eines Polizei- oder Justizpressesprechers ist keine Tatsache, die man ohne weitere Recherche einfach übernehmen könnte. Das hat sich jetzt bei der Operation "Himmel" wieder bewiesen: Viel heiße Luft und wenig dahinter.

Der öffentliche Diskurs verwandelt sich aber allzu schnell in bloße Moraltheologie mit hysterischen Untertönen. Die Schlagzeilen Großer Skandal! Noch größerer Skandal! Größter Skandal! (Reuters) garantieren kurzfristig Aufmerksamkeit, kombinieren die voyeuristische Lust mit dem sanften Gruseln über Sex and Crime und das Böse im Internet und hinterlassen bei den Rezipienten ein hilfloses Gefühl. Oder man bewundert kritiklos die rastlosen Strafverfolgungsbehörden, die angeblich bis zur Erschöpfung gegen eine übermächtige Hydra von Kriminellen im Internet kämpfen - nach dem Motto: Die tun was.

Bei der "Operation Himmel" existieren nur drei Quellen, von denen alle anderen Medien - auch die Falschinformationen - abgeschrieben haben: Der MDR (Größter Fall von Kinderpornografie in Deutschland, 29.12.2007), Spiegel Online (Riesiger Kinderporno-Skandal schockiert Deutschland, 24.12.) und die ARD (Großangelegte Aktion gegen Kinderpornografie, 25.12.). Zentrale These ist der mehrfach variierte Satz bei Spiegel Online:

Ein Sprecher des bayerischen LKA hatte (...) erklärt, Kinderpornos seien auf dem Server eines Berliner Internet-Anbieters deponiert worden. Dieser Anbieter, laut der ARD, Strato, habe dann die Polizei eingeschaltet, weil ihm ein enormer Datentransfer auf den Servern auffiel.

Der Provider hat das dementiert:

Bei solchen Routineuntersuchungen werden in der Regel keine Inhaltsanalysen vorgenommen, im Einzelfall kann dies jedoch notwendig sein. Sofern Strato-Mitarbeitern durch solche Analysen oder insbesondere durch Hinweise Dritter strafrechtlich relevante Inhalte bekannt werden, prüfen wir eine Anzeigeverpflichtung und eine Einschaltung der Behörden im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen.

Laut der Süddeutschen handele es sich offenbar "um ein Missverständnis".

Dennoch taucht die strittige Behauptung der ARD ohne weitere Recherche in zahlreichen Artikeln auf, als sei das schon bewiesen. Einer hat also gelogen: Peter Burghardt, der Sprecher des bayerischen LKA, oder Carsten Zorger, der Sprecher von Strato - ein Grund, hier weiter zu recherchieren. Aber das macht niemand. Wie sollte man denn von einem "auffälligen Datenverkehr" bei einem Provider auf 12.000 Verdächtige "in 70 Staaten" kommen? Niemand wagt heute noch zu behaupten, Strato hätte Kinderpornografie gehostet. Das wäre ohnehin extrem unwahrscheinlich und spräche zudem für eine kaum noch vorstellbare Dummheit der Täter. Schon seit Mitte der neunziger Jahre ist auch den Ermittlungsbehörden bekannt, dass derartige – in Deutschland strafbare - Angebote auf passwortgeschützten Web- oder FTP-Servern und, wenn überhaupt, dann im Ausland liegen. Jedem hätte auffallen müssen, dass die These der ARD entweder etwas Falsches suggeriert oder technisch unsinnig ist.

Laut Reuters habe der bayerische LKA-Sprecher Peter Burghardt gesagt, die Dimension des Skandals sei enorm. "So was ist uns noch nicht untergekommen." Entweder ist Burkhardt von den Ermittlern falsch über die Fakten informiert worden oder er hat bewusst nicht ganz die Wahrheit verbreitet. Man kann jedoch verlangen, dass der Pressesprecher eines Landeskriminalamts über die Rechtslage und die Fakten bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren seiner Behörde annähernd vertraut ist. Die Empörung kann nicht echt gewesen sein. Mittlerweile ist klar, dass die "Operation Himmel" nur wenig zutage gefördert hat, was strafrechtlich überhaupt relevant ist.

Auch die reißerischen Überschriften haben sich allesamt als falsch erwiesen. Vom "größtem Skandal" kann man ohnehin schon deshalb nicht sprechen, weil bei der Operation Marcy im Jahr 2003 sogar von 23.000 Verdächtigen die Rede war. Auch hier spielen einige Medien bei der Berichterstattung eine fragwürdige Rolle, da - laut der Zeitschrift Gigi - einige der sichergestellten und im Fernsehen gezeigten "Tatmittel" in Bibliotheken öffentlich zugängliche und legale Bücher waren. Irrtümer nimmt aber kaum jemand zum Anlass, die eigene Berichterstattung zu relativieren oder die Rezipienten darüber aufzuklären, dass der "größte Skandal" keiner war, sondern dass es sich um eine klassische Zeitungsente handelte. Ein Regret the Error wäre angebracht, ist aber in Deutschlands Medien die große Ausnahme.

Der Tagesspiegel spekuliert immerhin - jedoch ohne Beweise -, wie das fragliche strafbare Material hätte angeboten und abgerufen werden können:

Wahrscheinlich wählten die Beteiligten ein Verfahren, bei dem eine eigentlich harmlos klingende Internetadresse über Chatforen oder Mailinglisten bekannt gemacht wird. Diese Adresse verweist dann auf eine private Seite, die bei einem Internetanbieter angelegt wurde. Von dort aus können sich Interessenten Filmdateien kostenlos herunterladen. Diese werden allerdings verschlüsselt. Sie lassen sich erst dann öffnen, wenn zuvor gegen Bezahlung ein entsprechendes Passwort erworben wurde.

Wann Internetadressen "harmlos" klingen, darüber kann ebenso gerätselt werden: hardcoreporn_for_adults.com etwa oder bluemchensex.biz?

Spiegel Online schlägt eine andere Methode vor:

Um die illegalen Filme von den Servern an die Interessenten zu bringen, nutzten die Anbieter offenbar Chatforen im Internet, dem Usenet oder einfach E-Mails.

Auch das ist - so vage formuliert - ganz einfach Unfug. E-Mails mit kinderpornografischen Anhängen (unverschlüsselt!) sind ein urbanes Märchen wie die präparierten Leckbildchen, die auf Schulhöfen verteilt worden seien, um Schüler drogenabhängig zu machen. Die meisten Straftaten im Zusammenhang mit Kinderpornografie werden seit Jahren per Internet Relay Chat begangen. Dort kann man sicher und unbeobachtet Daten austauschen, ohne dass das zurückverfolgt werden könnte. Filesharing-Dienste, die etwa über Tor anonymisiert werden, kommen dazu. Deshalb verfehlt die Forderung des Mediendesigners und hauptberuflichen "Jugendschützers" Friedeman Schindler nach Zensur des World Wide Web und "dass etwa die Betreiber von Chat-Rooms ein hohes Schutzniveau realisieren, damit nicht der Chat zur Anbahnung von Kontakten der Szene genutzt werden kann", das Thema, ist bloßer Lobbyismus für die eigene Sache und technisch abwegig..

Pornografie wird unterschiedlich definiert

Viele deutsche Medien suggerieren in ihrer Berichterstattung missverständlich, es gebe Websites, auf denen jemand zufällig oder per Google Kinderpornografie finden könnte. Das ist so nicht richtig: Eindeutige Kinderpornografie ist so gut wie in jedem Land der Welt mit einem funktionierenden Rechtssystem verboten. Anonyme Websites, die keinem Provider zugeordnet werden könnten, gibt es aber nicht. Die Strafverfolger könnten also prinzipiell immer nachprüfen, wer eventuell Verbotenes hostet. Man sollte auch nicht unterschlagen, dass es dem US-amerikanischen FBI erlaubt ist, Lockspitzel-Angebote ins Netz zu stellen, also selbst strafbare Handlungen zu begehen und kinderpornografische Angebote zu verbreiten, um Kriminelle damit zu fassen. Das geschah etwa bei der "Operation Landslide", die 1999 in den Medien als "der größte Schlag gegen die kommerzielle Kinderpornografie aller Zeiten" bezeichnet wurde.

Der bloße Besitz von Bildern, auf denen eindeutig Pornografie mit Kindern - also sexueller Missbrauch - gezeigt wird, ist jedoch nicht in allen Ländern - auch nicht in Europa - mit Strafe bedroht. Pornografie wird in vielen Ländern und Kulturen ohnehin ganz unterschiedlich definiert. Meldungen, es gebe bei einem Fall Verdächtige in sehr vielen Ländern weltweit, haben also wenig Aussagekraft.

In Deutschland ist es sogar verboten, Fotos oder Texte zu besitzen, die ein nur "wirklichkeitsnahes" Geschehen zeigen; in den USA hingegen sind Schriften, die in Deutschland Tonträgern und Daten in dieser Hinsicht gesetzlich gleichgestellt sind, ganz ausgenommen, auch Abbildungen, die keine reale oder keine mit einer realen Person identifizierbare Person zeigen. Pornografisches Material mit "kindlich" aussehenden Mangas oder Avataren sind also in den USA erlaubt.

Der kleine Medienhype über Kinderpornografie in Second Life, vom Politmagazin "Report Mainz" am 7.05.2007 angestoßen, berücksichtigt zum Beispiel weder die unterschiedliche Gesetzeslage in den USA - dort, also auch in Second Life, war das Rollenspiel legal - noch die Tatsache, dass im besagten Fall in Second Life überhaupt keine Kinder beteiligt waren. Die mehr als fragwürdigen Behauptungen von "Report Mainz", die abgefilmten Szenen mit scheinbar minderjährigen Avataren würden sich "ins Gehirn brennen" und Pädokriminelle zu weiterem Tun anstacheln, sind durch wissenschaftliche Untersuchungen nicht belegt. Die journalistische Grundregel, mindestens zwei unabhängige Quellen zu befragen, wurde ohnehin missachtet. Es steht bei der Berichterstattung über diese heikle Thema oft vorab schon fest, was als allgemeines moraltheologischen Fazit gewünscht wird: Das Böse wird immer mehr im Internet und ist überall.

Auch bei der "Operation Himmel" spielten die Medien eine zentrale Rolle: Das Sat.1-Magazin "Akte", vor allem "Schlüsselfigur" Ronald Matthäi, der nach Angaben des Magazins mit den Ermittlungsbehörden zusammenarbeitet, scheinen eine wahre Obsession entwickelt zu haben, das Thema zu skandalisieren. "Akte" geriert sich selbst als quasi-strafverfolgende Institution. Diese Attitüde widerspricht auch dem meistzitiertem Satz Hans-Joachim Friedrichs' und dem unwidersprochenen Credo des deutschen Journalismus: "Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache".

Was ist strafbar?

Nach der Operation Mikado wurde sogar eine Anzeige bei der Staatsanwalt Dessau gegen die Redaktion von "Akte" gestellt:

Ein Mitarbeiter der Akte-Redaktion übergab Oberstaatsanwalt Vogt Anfang 2006 Ausdrucke von kinderpornografischen Websites und machte sich damit strafbar, da er das illegale Material in seinem Besitz hatte. (...) Weiterhin habe ein Filmteam die Beamten bei den anschließenden Hausdurchsuchungen begleitet und dabei u.a. kinderpornographisches Material abgefilmt.

Wenn man zum Beispiel der Website des LKA Bayern glaubt, ist das strafbar. Law Blog sieht das anders:

Die bloße Tatsache, (zahlender) Kunde eines Kinderpornoanbieters zu sein, führt übrigens noch nicht notwendig zur Strafbarkeit. Das liegt am Gesetz selbst. § 184 b Abs. 4 Strafgesetzbuch stellt nicht jeden Kontakt mit Kinderpornografie unter Strafe.

Dort steht wörtlich, die Verbote gälten nicht für "Handlungen, die ausschließlich der Erfüllung rechtmäßiger dienstlicher oder beruflicher Pflichten dienen".

Auch über das "zielgerichtete Surfen" war man sich bei der "Operation Himmel" nicht einig. Oberstaatsanwalt Peter Vogt meint laut Netzeitung:

Schon wenn zielgerichtet mit bestimmten Begriffen nach Kinderpornografie gesucht werde, macht man sich strafbar.

Wie diese Suchworte und vom wem gerichtsfest festgestellt und gespeichert werden könnten, darüber schweigt man sich aus. Auch diese Behauptung ist schlicht Unsinn. Der Anwalt eines Betroffenen wird auf Law Blog zitiert:

Einige Ermittler gaben sogar zu Bedenken, dass man auf solche Seiten beim Surfen auch "zufällig" gelangen könne. Sie forderten, dass bei Verzeichnisseiten zumindest die Vorschaubilder angeklickt und die eigentlichen Fotos geöffnet werden müssten. Ansonsten gebe es keinen Beleg dafür, dass sich der Nutzer überhaupt für Kinderdarstellungen interessiert. Leider scheint es aber auch Behörden gegeben zu haben, die solche Anforderungen nicht stellten. (..) Als Konsequenz aus der Aktion "Himmel" kann man wohl nur dazu raten, Sexseiten überhaupt nicht mehr anzusurfen. Zu groß ist die Gefahr, dass (...) schon der Besuch auf legalen Seiten einen "Anfangsverdacht" bei den Fahndern auslöst.

Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger erklärte am 11.01.2007:

Es muss davor gewarnt werden, durch den guten Zweck der Bekämpfung der Kinderpornografie jedwedes Mittel als geheiligt anzusehen.

Das ist ein Satz, der vor allem bei der Berichterstattung über das Thema Kinderpornografie im Internet in Zukunft von den Medien beherzigt werden sollte. Die Behauptung Sven Karges, des Leiters für den "Bereich Illegale Inhalte" beim Verband der deutschen Internetwirtschaft (Eco), der gesagt haben soll, die 12.000 Kinderporno-Verdachtsfälle seien die "Spitze eines Eisbergs", hat also mit der Realität rein gar nichts zu tun.

Und noch eine gute Nachricht, die aber kaum jemand verbreiten wird, weil sie der gefühlten Sicherheitslage des durchschnittlichen Medienkonsumenten widerspricht: Die Zahl der Sexualdelikte gegenüber Kindern sind seit 1970 rückläufig, die Aufklärungsquote im Vergleich zu ähnlichen Straftaten sehr hoch.

Klaus Wichmann, Staatsanwalt aus Halle, sagte der Tagesschau in genau der Sendung, in der von einem "riesengroßen Skandal" die Rede ist, besonnen und ganz richtig: Die Zahl der Täter sei gleich geblieben, nur könne man heute besser ermitteln. Die Steigerung der Ermittlungserfolge um 56 Prozent im letzten Jahr beweist genau das - wie bei jeder polizeilichen Kriminalstatistik - und nicht, dass es mehr Straftaten gibt. Es besteht also kein Grund zu der Annahme, in Zukunft werde man "immer mehr" Kinderpornografie im Internet finden.