Auf Pilgerfahrt ins virtuelle Mekka

Die muslimische Welt in Second Life

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Vor kurzem endete die diesjährige Hajj – die Pilgerfahrt der Muslime nach Mekka, der jeder Gläubige ein Mal im Leben absolvieren muss, sofern seine Mittel dazu ausreichen. Und da die gesamte Familie oder sogar der ganze Stamm bereit ist zusammenzulegen, um seinen verdienten Mitgliedern die Reise zu finanzieren, drängten sich auch in diesem Jahr wieder über zwei Millionen Muslime aus aller Welt um die Heilige Kaaba in Mekka. Es war ein guter Anlaß um einmal nachzuforschen, wie sich der Islam in SECOND LIFE präsentiert und ob man auch dort eine Hajj absolvieren kann.

Schon vor Monaten waren Gerüchte über die Präsenz einer Gruppe namens SL Liberation Army aufgekommen, bei der es sich um radikale Islamisten handeln sollte. Ich hatte meinen Avatar daher losgeschickt, um nach dieser Gruppe zu suchen, da ich sie interviewen wollte. Vielleicht konnte es ja sogar gelingen, den gesamten islamischen Dschihad in die virtuelle Welt zu verlegen, wo nach Herzenslust Moscheen gebaut und sogar problemlos ein islamischer Staat gegründet werden könnte. Denn nicht zuletzt würde damit eine begrüßenswerte Entlastung der Spannungen innerhalb der realen Welt einhergehen.

Im Laufe mehrerer Wochen, in denen ich meinem Ziel allerdings keinen Schritt näher gekommen war, bestätigte sich zwar die nominale Existenz diverser Liberation Armys bzw. Fronten in der virtuellen Welt, Dschihadisten mit tatsächlichen Aktionen fanden sich jedoch keine. So gibt es beispielsweise die SL Liberation Front (mit 67 Mitgliedern), eine Autistic Liberation Front (91 Mitglieder) oder gar die vollmundige Global Liberation Army (3 Mitglieder), doch mit dem Islam hatten sie allesamt nicht das Geringste zu tun. In einer Welt, in der es sogar die furchterregende VAF (= Virtuelle Armee Fraktion) auf nur gerade mal sechs Mitglieder bringt, scheinen sich ernsthaft Militante nicht besonders wohl zu fühlen.

Meine Suche war trotzdem nicht erfolglos, denn in ihrem Verlauf gelang es mir, einen umfassenden Einblick in die Präsenz der islamischen Welt samt ihren virtuellen Moscheen in Second Life zu gewinnen. Es ist natürlich nicht leicht herauszufinden, wer tatsächlich hinter den ganzen Bauten steckt, die den Avataren selbstverständlich stets offenstehen – doch das eine oder andere ließ sich durch eine zusätzliche Google-Recherche im arabischen Netz eruieren. Oder im Zuge von Begegnungen – bei denen ich aber auffallend oft in die Rolle des Mentors schlüpfen mußte:

[13:36] Lieve Ferranti: it is the first time I enter a Mosque
[13:36] You: Come upstairs, here is a good place to sit
[13:37] You: Take a seat
[13:37] Lieve Ferranti: may I take place here?
[13:38] You: Welcome. I make a nice fotos of us ;-)

Begonnen hatte ich mit den Koordinaten Qoheleth (84, 240, 24), wo ich meine erste Moschee fand – die Aisha bint abi Bakr-Moschee –, überraschenderweise in direkter Nachbarschaft eines japanischen Shinto-Schreines und nicht weit entfernt von einer Kirche, in der regelmäßige Bibel-Lesungen erfolgen. Zumindest auf dieser Ebene ist SL ein pluralistisches, obwohl auch noch weitestgehend leeres Pflaster.

Die Aisha bint abi Bakr-Moschee

Während des Fastenmonats Ramadan hatte man neben der Moschee ein großes Zelt aufgestellt, in dem sich zum Fastenbrechen die Tische unter den Köstlichkeiten bogen, die hier offeriert wurden.

Es war bemerkenswert, dass sich in der näheren Umgebung der Moschee fast immer irgendwelche weibliche Avatare herumdrückten, die von einer Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung angetrieben wurden. Wie zum Beispiel die 29-jährige Lieve aus Belgien:

[14:42] You: WHY you want to become muslim?
[14:42] Lieve Ferranti: I am interested
[14:43] Lieve Ferranti: do they accept lesbian girls?

Am Eingang der Moschee besteht für weibliche Avatare die Möglichkeit, sich einen kostenlosen Umhang gegeben zu lassen, um den Gebetsraum angemessen bekleidet aufzusuchen. Im Vorraum plätschern beidseitig Brunnen, wie sie die Gläubigen für die rituellen Waschungen benötigen, während im Raum selbst Teppiche mit Animationbällchen verteilt sind. Auf einigen der Teppiche kann man Bittgebete, auf anderen die Standardgebete vollziehen. Tatsächlich führen die Avatare die traditionellen Bewegungen fehlerlos durch, sogar die abschließende Verabschiedung mit der Kopfwendung zuerst nach rechts und dann nach links fehlt nicht.

Den einzigen Wandschmuck bildet eine über der Erdkugel schwebende Anrufung Gottes in arabischen und englischen Schriftzeichen. Im Hintergrund wird derweil eine der 114 Suren des Korans melodisch rezitiert. Außerdem gibt es kostenlose Downloads des Korans in englischer und französischer Übersetzung.

Züchtig bekleidet, ängstlich und doch neugierig: Lieve

Lieve fürchtet zwar um ihre sexuelle Freiheit – ist aber gleichzeitig so sehr an der Religion interessiert, dass sie sich bereitwillig umkleidet und sich dann neben mir zu einem Gebet niederlässt. Natürlich hatten wir uns zuvor auch die Schule ausgezogen, wie es sich bei einem Moscheebesuch ziemt. Ich versuche, ihre Bedenken zu zerstreuen und erkläre ihr, dass man sich höchstens vor ein paar wenigen Extremisten in ALLEN Religionen und Interessenverbänden fürchten müsse.

[14:51] Lieve Ferranti: I feel afraid of them, perhaps I am wrong
[14:52] You: yes, you told me. And you are right – to be afraid of SOME of them
[14:52] Lieve Ferranti: when I see what happens in the world
[14:53] Lieve Ferranti: robberies, attacks...
[14:53] Lieve Ferranti: kidnapping
[14:53] You: But 99 % live in peace – as all we others want and do

Zumindest in der virtuellen SL-Welt ist dies ganz sicher der Fall. Trotz der sogar innerhalb der Moschee umherfliegenden zwitschernden Vöglein wurden in die dezente Sammelschale am Ausgang bisher erst 50 L$ geworfen. Eine Finanzierung militanter Kräfte wäre damit kaum zu schaffen. Im realen Leben lässt sich mit solch einem Betrag noch nicht einmal eine Platzpatrone kaufen.

Viel gruseliger wirkt dagegen ein neben der Moschee aufgestelltes Zelt mit seinen hölzern animierten Kamelen, das sich als Werbemedium für einen Videostream entpuppt. Und noch befremdlicher erscheint ein seltsames, über der Moschee schwebendes Objekt, das stark an ein Überwachungsauge erinnert. Leider steht nicht darauf, welcher Nachrichtendienst dieses Teil hergestellt und hier installiert hat.

Aug’ in Aug’ mit dem Überwachungsangriff

Bei meinem dritten Besuch treffe ich dann sogar die Erbauerin der Moschee. Die in Frankreich lebende Marokkanerin, deren Avatar (Aisha7 Runo) eher einem schwarzen Kirchenmäuslein gleicht, gehört zu jenen Muslimen, die Second Life ebenso ernst nehmen wie die Vermieter der Grundstücke oder die vielen sich hier exzessiv auslebenden Modedesigner. Während wir gemeinsam auf dem Dach ihrer Mosche stehen, erfahre ich eine Menge über die verschiedenen muslimischen Gruppen und Initiativen, die sich bereits in SL tummeln.

Von Aisha erhalte ich auch die Koordinaten der IslamOnline.net-Insel (31, 64, 22), wo sie am Aufbau eines islamischen Zentrums mitwirkt. Man habe bereits einen Teil Mekkas fertiggestellt, was mich brennend interessiert. Ein Besuch ist sehr einfach, denn anders als in der wirklichen Welt muss ich mich weder mit den Saudis wegen eines Visums herumschlagen, noch brauche ich die Kontingentierung zu fürchten oder ein teures Flugticket zu lösen. In Second Life lässt man sich teleportieren – von einem Server zum nächsten.

Recherchen auf dem Moscheedach

Das "The Haj Information Center", in dem man landet, ist ein offener Seminarraum mit bequemen Sesseln. Auf einer großen Informationstafel sind die Zeiten angegeben, zu denen hier Vorträge gehalten werden. An einer anderen Wand steht die al-Fatiha, die "eröffnende" erste Sure des Korans in Englisch. Neben der nach Mekka führenden Straße gibt es kostenlose "Haj tools" in geschmackvoll grünen Taschen. Dahinter Umkleidekabinen – nach Geschlechtern getrennt.

Von Mekka selbst ist der innere Bezirk mit der Heiligen Kaaba, die auf den Stammvater Abraham zurückgehen soll, akribisch und fremdengerecht nachgebildet. Die diversen Infopunkte und Richtungspfeile stören zwar die Ästhetik, scheinen aber notwendig zu sein um die Aussage der von Khawla Masala gegründeten Gruppe zu bestätigen:

Assalam alaikom...
on this group we'll be announcing events of islamonline.net that are to be held on islamonline dot net island. Our current project is virtual mekka including all haj parts. It's educational, not meant to be real haj at all.

Doch davon lasse ich mich nicht abschrecken. Ich empfinde es im Gegenteil als unglaublichen Luxus, das gesamte Gelände alleine für mich zu haben, und verbringe deshalb gleich mehrere Tage dort, in denen mein Avatar auf den überall großzügig verteilten Teppichen meditiert oder sich über Nacht in einem der im Nebental postierten Pilgerzelte zum Schlafen niederlegt.

Im gepixelten Pilgergewand

Das virtuelle Mekka beinhaltet noch weitere Moscheen, verschiedene Zeltreihen, sowie breite und leere Straßen. Eine nette Geste sind die überall verteilten Trinkwasser-Kühlbehälter. Es fehlen weder die beiden Hügel al-Safa und al-Marwa, zwischen denen der Gläubige hin und her laufen muss, noch die drei Säulen, an denen symbolisch der Satan gesteinigt wird. Sogar eine Schafpferch mit Opferlämmern gibt es. Und es gibt – leider noch völlig leere – Basare.

Was in der Realität jedoch nur wenigen der zwei Millionen Pilgern gewährt ist, konnte ich hier in aller Ruhe auskosten: Das segensreiche Küssen des in silber gefaßten heiligen schwarzen Ecksteins der Kaaba.

Vermutlich ein Meteorit: Der schwarze Stein

Ich bin jetzt also ein hajji – jemand, der die Pilgerreise nach Mekka gemacht hat. Und solange es keine fetwa gibt, die eine virtuelle hajj als ungültig erklärt... nun, solange verteile ich dankbar Süßigkeiten an meine Besucher, die mich nach meiner erfolgreichen Rückkehr beglückwünschen kommen – ganz so wie in der realen Welt der muslimischen Glaubensgemeinschaften.

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