Evolution des Altruismus

Der Biologe Edward Wilson macht sich für die Wirksamkeit der Gruppenselektion bei der Entwicklung arbeitsteilig organisierter Insektenkolonien stark

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Der Biologe und Entomologe Edward O. Wilson hat den vor allem bei seiner Übertragung auf den Menschen umstrittenen Begriff der Soziobiologie für die Erforschung des evolutionären Sozialverhaltens einer Art eingeführt (Die genetisch-kulturelle Ko-Evolution). Während er in seinem gleichnamigen Buch argumentierte, dass die Verwandtenselektion die treibende Kraft hinter der Entstehung von kooperativen Sozialverbänden ist. Dabei helfen Individuen einer Art ihren Verwandten bei der Fortpflanzung, wodurch auch ihre Gene weiter gegeben werden, wenn sie selbst keine Nachkommen haben. Modell dafür sind die Insektengesellschaften, besonders jene wenigen, bei denen Eusozialität entstanden ist.

In dem Artikel "One Giant Leap: How Insects Achieved Altruism and Colonial Life", der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift BioScience erschienen ist, entwickelt nun Wilson mit einem etwas anderen Ansatz eine Theorie, wie sich bei manchen Hautflüglern (Hymenoptera) wie Ameisen, Bienen oder Wespen evolutionär die Bildung von Kolonien mit Arbeitsteilung zustande gekommen sein könnte. Wilson nimmt an, dass die Eusozialität sich als Verteidigungsstrategie von Nestern herausgebildet hat, die in der Reichweite von dauerhaften Nahrungsquellen liegen. Sie kommt allerdings bei Insekten nur selten vor. Gerade zwei Prozent der Insektenarten haben sie entwickelt, die aber stellen den Großteil der Insekten-Biomasse. Die Strategie hat sich also als besonders erfolgreich erwiesen, da organisierte Gruppen Individuen und große organisierte Gruppen kleineren beim Kampf um die Ressourcen überlegen sind. Wenn die Strategie des reziproken Altruismus aber so erfolgreich ist, entsteht die Frage, warum sie nur selten entstanden ist.

Eusozialität, bei der sich eine asexuelle Arbeiterkaste um die Aufzucht von Nachkommen der reproduktiven Kaste kümmert, entstehe durch vorangehende Anpassungsschritte, die auch andere Insektenarten auszeichnen und die Grundlage für die notwendige phänotypische Flexibilität für eine arbeitsteilige Organisation bilden. Dazu gehöre die Versorgung der Larven (wodurch eine Bindung an den Ort entsteht), Treue zum Nest, eine Neigung zum dominanten Verhalten und die situative Auswahl von Aufgaben. Um Eusozialität zu erreichen, müsse dann nur noch eine einzelne genetische Veränderung bei der Königin eintreten. Besitzt diese und ihre Nachkommen ein Allel, dann sorge dies für die notwendige Bindung an das Nest. Die Selektion auf der Gruppenebene wirke gleichzeitig auf die beiden genetischen Grundlagen, während die Verwandtenselektion keine bedeutsame Rolle spiele, bei der die natürliche Selektion auf verwandte Individuen, nicht auf die gesamte Kolonie wirkt.

Für seine These, dass nur ein kleiner genetischer Schritt ausreicht, um eine Kolonie mit den erwähnten Voraussetzungen den Riesenschritt zur Eusozialität machen zu lassen, führt Wilson eine Reihe von neueren Forschungsergebnissen an, die die vorhandene Flexibilität bei vielen Insektenarten belegen. Selten ist nach Wilson deswegen Eusozialität entstanden, weil die richtige Kombination der genetisch determinierten Verhaltenseigenschaften nur selten zustande kommt und sich dann auch nur selten gegen die direkte Selektion auf individueller Ebene durchsetzt. Das hat dann auch den Vorteil, dass ein höherer Grad an genetischer Variation als bei der Verwandtenselektion möglich wird, was für größere Fitness des Kollektivs durch Arbeitsteilung oder Resistenz gegenüber Krankheiten sorgt. Dass Verwandtenselektion keine große Bedeutung hat, sieht Wilson auch durch Forschungen bestätigt, die gezeigt haben, dass die Erkennung der Nestmitglieder durch den Geruch erst in den ersten Tagen des Erwachsenseins erfolgt.

Wilson setzt damit den schon lange schwelenden Streit zwischen den Anhängern der individuellen Selektion (und deren Erweiterung auf die Verwandtenselektion) und denen der Gruppenselektion fort (Biologie, Evolution und das globale Gehirn). Dazwischen steht die Theorie vom reziproken Altruismus, die einmal mehr in die eine oder in die andere Richtung neigen kann (Birds of a feather).