Der Call-Center-Agent, die Detektive und das Boxenluder

Justizposse um eine freche Website und eine verschlüsselte Festplatte

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Als Markus L. 1999 in einem Münsteraner Call-Center als Telefonagent anfing, machte ihm die Arbeit großen Spaß. Nach dem Platzen der New-Economy-Blase jedoch fiel das Preisniveau bei Call-Centern auf bis zu 40%, sodass viele der einst florierenden Betriebe am Kostenfaktor zu sparen begannen.

Auch sein Arbeitgeber, die Firma B., machte nun enge Zielvorgaben wie Quoten für Vertragsabschlüsse etc., die er kontinuierlich erhöhte. Gearbeitet wurde teilweise in ungeeigneten Räumen ohne Zwischenwände, sodass die Telefonate zwangsläufig in Brüllerei ausarteten. L. beobachtete, wie viele der Kollegen unter dem Druck der oft schwer erreichbaren Zielvorgaben litten, welche bei Nichterreichen etwa durch Kündigung sanktioniert wurden. Insbesondere störte er sich 2004 an den ihm zu dürftig erscheinenden Pausen für Bildschirmarbeit und brachte auch ähnliche Arbeitsschutzthemen zur Sprache. Da der Betriebsrat seinen Eingaben nicht mit dem gewünschten Nachdruck nachkam, suchte er selbst mehrfach höflich das Gespräch mit der Firmenleitung – letztlich erfolglos.

Freche Website

Ungleich weniger höflich meldete sich eine anonyme Website zu Wort, die nicht nur die Zustände bei B. anprangerte, sondern auch beleidigend krakeelte. Der oder die unbekannte(n) Betreiber nannte(n) sich „Violante“, „The Punisher“, „Boxenluder“ und „Wanderprediger“. In einer lokalen Szenezeitschrift erschienen simulierte „Stellenanzeigen“, in denen satirisch für Arbeitsplätze bei B. unter den kritisierten Umständen „geworben“ wurde.

B. fand das nicht witzig, beauftragte EDV-Spezialisten damit, die Bösewichte zu identifizieren und stellte bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige. In Verdacht geriet L., der höflich wie offen sein Anliegen vertreten hatte. Aufwändige Nachforschungen der Staatsanwaltschaft bei seinen Emailprovidern etc. blieben allerdings ergebnislos. B. heuerte auch Privatdetektive an, die anhand der Niks auf zwei weibliche und zwei männliche Täter folgerten. Nach vierwöchiger Observation von L., welche sich B. laut eigenen Angaben bis dahin 50.000,- Euro Kosten ließ (L. verdiente damals 260,-Euro im Monat), präsentierten die Privatschnüffler der Staatsanwaltschaft vier „Verdächtige“, jedoch keine konkreten Beweise.

Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren schon eingestellt, als B. plötzlich mit einer angeblich auf das Jahr 2004 datierenden anonymen Email aufwartete, in der Mitarbeiter dazu aufgefordert worden seien, Missstände an L. zu melden. Die Email, welche L. in Misskredit brachte, ließ sich zwar nicht zurückverfolgen, soll aber Anlass gewesen sein, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.

Im August 2005 kam es in Münster zu vier Hausdurchsuchungen, eine schwächer begründet, als die andere:

  1. Bei L. selbst, der nebenher eine Klitsche für IT-Sicherheit betrieb, wurden fünf Rechner beschlagnahmt, darunter drei seiner Kunden (die er nun los ist). Einer der fremden Rechner wurden ihm kürzlich wieder zurückgegeben – er hat wegen des technischen Fortschritts im IT-Sektor nach über zwei Jahren nur noch Schrottwert. Der Tatverdacht wurde unter anderem damit begründet, dass L. bzw. eine Bekannte auf Versammlungen mitgeschrieben hätten und über diese Versammlung detailliert auf der anonymen Internetseite berichtet wurde.
  2. Bei einer L. bis heute persönlich unbekannten Frau X wurde ebenfalls eine Hausdurchsuchung durchgeführt und deren Rechner beschlagnahmt - samt aktueller Magisterarbeit. Grund: Die Detektive hatten L. mit einer Bekannten beobachtet, der er einen reparierten Computer nach Hause brachte. Vielleicht war sie „Violante“? Oder gar das „Boxenluder“? In dem 25-Parteien-Haus wohnte auch Frau X, von der die Detektive herausfanden, dass sie 5 Jahre zuvor eine Zeit lang bei B. gejobbt hatte. Sie musste L. Begleiterin gewesen sein! Hätten die Detektive oder die Ermittler den Namen der Frau X gegooglet, so wäre ihnen schnell ein Foto von X aufgefallen, das nicht die geringste Ähnlichkeit zur Bekannten des L. aufwies, was spätestens bei der Hausdurchsuchung hätte auffallen müssen.
  3. Eine Kollegin, die ebenfalls bei der Firma B. beschäftigt war, hatte während einer Versammlung angeblich neben L. gesessen. Eindeutig: Sie musste das „Boxenluder“ sein“!
  4. Ein Denunziant hatte aus eigenem Antrieb gemeldet, in der „WG" des „Jurastudenten" L. wohne der Kollege M., der sich über den Stress beklagt hätte (M. ist heute dauerhaft arbeitsunfähig). Weder war L. Student, noch wohnte M. in dessen WG, was spätestens bei der Koordination der Hausdurchsuchungen hätte auffallen müssen. Auch er war nun seinen Rechner los.

Eifriger Staatsanwalt

Bei der Hausdurchsuchung des L. war der Osnabrücker Staatsanwalt sogar persönlich vor Ort gewesen. Wie bitte? Staatsanwaltschaft Osnabrück? Der Fall spielte doch im westfälischen Münster bzw. in Malaysia, China und Indien, wo sich die Server offenbar befanden.

  1. Normalerweise werden entsprechende Fälle an die Staatsanwaltschaft vor Ort abgegeben. Auch die Staatsanwaltschaft Osnabrück hält das erfahrungsgemäß so.
  2. Auch sonst ist es auffällig, dass die Staatsanwaltschaft bei bloßen Beleidigungsdelikten einen solchen Diensteifer entwickelt und auf so vager Grundlage zu solch drastischen Mitteln wie Hausdurchsuchung und Beschlagnahme greift.
  3. Bei Beleidigungsdelikten werden die Anzeigeerstatter regelmäßig mangels öffentlichem Interesse an Strafverfolgung auf den Privatklageweg verwiesen. Hier jedoch begründete die Staatsanwaltschaft öffentliches Interesse zunächst mündlich damit, dass die Taten im Internet begangen worden seien.

Spötter weisen darauf hin, dass Niedersachsens Ministerpräsident Wulff bei B. ein gern gesehener Gast ist (der bei einer Weihnachtsfeier sogar einmal persönlich neben L. gesessen hatte) und Staatsanwälte nun einmal politische, also weisungsgebundene Beamten sind - die in Osnabrück solche Niedersachsens. Der Pressesprecher der Osnabrücker Staatsanwaltschaft schloss allerdings gegenüber Telepolis eine politische Einflussnahme aus. Da der Firmensitz in Osnabrück liege, sei dies eben ein Tatort. Und bei medienrechtlich relevanten Fällen sei ein öffentliches Interesse an Strafverfolgung eher zu bejahen. Ansonsten wolle er keine Stellung nehmen.

Während L. selbst bei Waldspaziergängen seine Überwacher nicht bemerkt hatte, postierten sich die Detektive nun ganz offen und warteten selbst bei brütender Hitze stundenlang vor der Firma. L. empfand dieses Nachsteigen als zermürbenden Psychoterror.

Als L. das Vertrauen zum Betriebsrat verlor, kandidierte er schließlich selbst, woraufhin die Firma ihm fristlos kündigte. Nach einem über zwei Instanzen geführten Arbeitsrechtsstreit wurde aufgrund der Bedenken des Richters an der Rechtmäßigkeit der Kündigung ein für L. günstiger Vergleich geschlossen.

Die Website verschwand irgendwann. Der Denunziant, der L. und seinen Kollegen anzuschwärzen versucht hatte, war übrigens schnell aufgeflogen. Wegen des nun angespannten Betriebsklimas wurde er nacheinander an verschiedene Standorte in Deutschland versetzt, zu denen ihm die Nachricht seines Fehltritts jedoch jedes mal folgte.

Feste Platten

Das Ende 2004 begonnene Strafermittlungsverfahren dauert noch immer an. Gefunden wurde auf keinem der beschlagnahmten Rechnern etwas belastendes. Beim eigenem Rechner des L. schon deshalb nicht, weil er die Festplatte solide mit einem 60-stelligen, blind einzugebendem Passwort geschützt hatte. Zwar hatten ihn die Beamten bei laufendem Rechner angetroffen, jedoch war es L. gelungen, durch „hilfsbereites" Herunterfahren die Festplattenkodierung auszulösen. Seinen Streich trug L. auf dem inzwischen legendär gewordenen Seminar von Rechtsanwalt Udo Vetter („Lawblog“) auf dem 23. Chaos Communication Congress vor (36. Minute).

Der im August 2005 beschlagnahmte eigene Rechner des L. und der eines Ex-Kunden sind noch immer bei einem Forensiker, der sich Hoffnungen auf ein Entschlüsselungserlebnis macht. Man möchte es ihm jedoch nicht wünschen: Der Mann würde mehr als frustriert sein – laut L. befindet sich auf dem Rechner nicht die kleinste strafrelevante Information.

Kollege M. hat seinen Rechner noch immer nicht wieder. Die Untersuchung der Festplatten hatte sich hingezogen, weil zunächst Kopien erstellt werden mussten. Die Festplatten mit einer Kapazität von 80 und 200 Gigabyte überstiegen jedoch die Möglichkeiten der hartnäckigen Ermittler, deren größter Speicher mit 10 Gigabyte überfordert war. Das Nachrüsten erwies sich als Fehlinvestition, da auf den Rechnern nichts strafbares zu finden war. Man hatte M. zu verstehen gegeben, dass er die beschlagnahmten Computer längst wiedergesehen hätte, wenn er den Schlüssel für die PGP-Dateien zur Verfügung gestellt hätte. Letztere wurden bislang offenbar ebenfalls nicht geknackt.

Während die Ermittler etwa im Sommer 2006 erfolglos über den beschlagnahmten Rechnern schwitzten, wurden bei B. mehrfach Krankenwagen gesichtet: nach Angaben des Betriebsrats waren insgesamt sechs Call-Center-Agenten in den Räumen zusammengeklappt.