Die Gemeinschaft zu ihrer Wahrheit bringen

Der philosophierende Schriftsteller Maurice Blanchot liefert ein höchst eigenwilliges Modell sozialer Beziehungen

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Die Entgegenstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft hat in der deutschen Soziologie lange Tradition. Es war Ferdinand Tönnies, der Ende des 19. Jahrhunderts, als Verstädterung und Industrialisierung die Menschen zur zweckrationalen Lebensgestaltung zwangen, und Atomisierung und soziale Isolierung sie befielen, die beiden Begriffe zu Grundformen des menschlichen Zusammenlebens erklärt und sie zur Grundlage einer allgemeinen Soziologie erhoben hatte.

Leuchtende Einsamkeit, Leere des Himmels, aufgeschobener Tod: Desaster

Maurice Blanchot, L’écriture du désastre

Gefühlsintensität auf Zeit

Spiegelt Gemeinschaft emotionalen Zusammenhalt und innige Verbundenheit der Menschen wider, wird Gesellschaft in erster Linie durch Interessen und von „Willkür“ geprägt. Trotz aller sozialer Verbindungen (Rollen, Ämter, Verträge ...) bleiben die Menschen hier getrennt, während dort laut Tönnies eine „vollkommene Einheit menschlichen Willens“ herrscht, die sich „trotz aller individueller Unterschiede erhält“. Nur wo Seele zu Seele findet, Geist zu Geist; nur wo Zusammengehörigkeit um ihrer selbst und nicht um eines Zweckes willen gesucht wird; und nur wo aus dem Ich und Du ein Wir hervorgeht, kommt es zur echten Gemeinschaftsbildung.

Maurice Blanchot

In diesem Sinne ist Gemeinschaft von Anfang an von einer Irrationalität geprägt, die der Welt des Kalküls, der Buchführung und des Geldhandels unversöhnlich gegenübersteht. Im Reich der Soziabilitäten nimmt „Gemeinschaft“ trotz hohen Intensitätsgrades aber nur eine Mittelstellung ein. Trägt die „Masse“ das schwächste Wir-Potential in sich, stiftet die „Kommunion“ noch stärkere Gefühlsbindungen als die „Gemeinschaft“.

Gemeinschaft gründet aber nicht nur in „ursprünglichen“ oder „natürlichen“ Beziehungen, auf Verwandt- oder Nachbarschaften, Lieb- oder Freundschaften, sondern ist auch Voraussetzung sozialhistorischer Gebilde, die sich im gemeinsamen Tun, bei der Jagd, der Arbeit oder im Verein einstellen. Dies zeigt, dass auch Gemeinschaften dem zeitlichen Wandel unterliegen. Gleich, ob sie aus der Not, dem Glauben oder der räumlichen, seelischen oder geistigen Nähe heraus geboren werden, lösen sie sich auf, wenn Ansichten, Einstellungen und Bedürfnisse sich ändern, es zu längeren Zeiten der Trennung kommt oder Konflikte unter entstehen. Damit ist bereits grundsätzlich angedeutet, dass Gemeinschaft auch als frei bewegliche Merkmale von Beziehungen gedacht werden kann, und nicht nur als Substanz oder Struktur.

Vorschein oder Verfall

Deshalb spielt der Gemeinschaftsbegriff in der aktuellen Soziologie auch keine große Rolle mehr. Und das nicht nur wegen seiner diffusen Mehrdeutigkeit, wie das im Gebrauch der Interessen-, Staaten-, Währungs- oder Wertegemeinschaft bereits anklingt, die Zweckhaftes und Regulatives mit mitmenschlichen Beziehungen vermischen. Für soziale Formen, die von Intensitäten zusammengehalten werden und messbare Grade sozialer Verbundenheit liefern, haben Soziologen daher Bezeichnungen wie „Intim- oder Primärgruppe“ gefunden.

Sondern vor allem auch wegen seiner unrühmlichen Rolle, die er in der deutschen Geschichte gespielt hat. Weil die deutsche Tradition Gemeinschaft mit Kultur und Zivilisation verknüpft hat, begünstigt sie sozialromantische Bewegungen und kulturpessimistisches Gedankengut. Dies führte dazu, dass sie alsbald zum Ideal und Wunschbild zukünftiger Sozialgestaltung verklärt wurde.

Gemeinschaft ist dann nicht mehr bloß eine mögliche Form menschlichen Zusammenlebens, sondern bezeichnet die Stufe oder Etappe einer sozialgeschichtlichen Wirklichkeit. Je nach Perspektive, Ideologie oder Kulturbildung kann sie als Verfallsprozess geschildert, nostalgisch beschworen oder als endgültiger Verlust beklagt werden. Oder sie kann als möglicher Endpunkt einer sozialen Entwicklung gedeutet werden, die in eine bestimmte Richtung weist. Die „Weltgesellschaft“, die durch anonyme und abstrakte Beziehungen der Macht, des Geldes und der Technik zusammengehalten wird, einerseits, die „Volksgemeinschaft“, die Heterogenitäten beseitigt, den sozialen Wandel hemmt und eine mythische Verbundenheit unter den Volksgenossen stiftet, andererseits, sind sozusagen nur die zwei Seiten einer Medaille. In dem einen Fall sorgt die Gesellschaft dafür, dass Gemeinschaft stetig verfällt; im anderen Fall gebärdet sich die Gemeinschaft als Zerstörerin der Gesellschaft.

Neue Heimat

Dass der Gemeinschaftsbegriff kurzzeitig in Gestalt des Kommunitarismus in der politischen Theorie überwintert hat, kann kaum überraschen. In Reaktion auf die extrem individualistischen 1980er Jahre, der Ära der Reaganomics und des Thatcherismus, erinnerte man sich wieder daran, dass es auch so etwas wie eine Allgemeinheit oder ein Gemeinwohl gibt. Menschen sind nicht bloß Konsumenten, Wähler oder Arbeiter, die sich selbst der nächste sind und eigene Interessen verfolgen, sondern eben auch Mitglieder von Familien und Gemeinschaften, die sich um Nachbarn kümmern und Verantwortung für den anderen tragen. Nur in Gemeinschaften, meinte man, lebten die Menschen länger, glücklicher und gesünder. Eine gute Gesellschaft ist, wenn Menschen sich gegenseitig ermutigen, füreinander Sorge tragen und sich nicht bloß auf die Politik verlassen. Mittlerweile gelten solche wertgeladene, kommunitaristische Ansätze in der Politik wieder als blasiert und überlebt.

Und es verwundert auch nicht, dass der Gemeinschaftsgedanke in der Literatur und Philosophie seine ursprüngliche Bedeutung bewahrt hat. Anders als in den modernen Wissenschaften ist dort der berechnende Verstand noch wenig, der Wunsch nach geistiger und seelischer Nähe dafür umso stärker ausgeprägt. Sieht man sich bei Dichtern und Denkern etwas genauer um, dann wird man feststellen, dass die Idee der Gemeinschaft dort sogar ab und an zu neuen Ehren gekommen ist.

Beispielsweise bei Giorgio Agamben vor ein paar Jahren, oder dem Straßburger Philosophen Jean-Luc Nancy Anfang der 1980er. Malt der eine das Schreckgespenst einer „kommenden Gesellschaft“ an die Wand, die bald nur noch von subjektlosen Gestalten und Akteuren bevölkert wird, skizziert der andere eine Gemeinschaft, die „undarstellbar“ ist, zu der man qua Geburt, Herkunft oder Kultur ungefragt dazugehört. Wen der Philosoph da anspricht, ist die Menschheit selbst. Sie stellt bestimmte Ansprüche an den Einzelnen und legt ihm gewisse Pflichten auf.

Realisierung als Verlust

Maurice Blanchot, Denker des Extremen und Wanderer zwischen Rechts und Links, reagiert auf Nancy, indem er dessen „Gemeinschaftsforderung“ mit der kommunistischen Idee einer sich selbst genügenden Gesellschaft verknüpft. Warum er das tut, wird auch nach der Lektüre nicht so recht klar. Zum einen beansprucht der Kommunismus eine „gesellschaftliche“ Kraft und Bewegung zu sein, es kommt also auch dort zu Mischformen. Zum anderen liefert die Geschichte ihm selbst nur zwei Belege, die dieses Prädikat verdienen. Der Mai 68, als Studenten, Arbeiter und Intellektuelle ohne Ansehen von Bildung, Geschlecht oder Klasse sich plötzlich zu einer spontan-explosiven Kommunikation zusammenfinden. Sowie ein Trauergeleit, bei dem eine anonyme Menge von Leuten ihren Toten stellvertretend für das gesamte Volk die letzte Ehre erweist.

In beiden Fällen will Blanchot „eine noch nie gelebte Art von Kommunismus“ ausfindig gemacht haben. Indem sie nur zusammenkommen, um sich danach augenblicklich gleich wieder zu verlieren, vollziehen sie, die Revoltierenden in Paris und die Trauernden von Charonne, trotz aller sie trennender Unterschiede die Gemeinschaftsforderung, ohne dabei in jenen „ungesündesten Totalitarismus“ zu verfallen, der zu Blutbädern in Asien, im Osten Europas oder in Mittelamerika geführt hat.

Wahre Gemeinschaft

Dieses eigenwillig-negative Gemeinschaftsbild, das der Dichterphilosoph entwickelt, bleibt zunächst rätselhaft, dunkel und mysteriös. Wie hat man sich eine Gemeinschaft vorzustellen, die sich gerade durch ihre Auflösung realisiert? Etwas klarer wird der Gedanke, wenn man sie mit dem mystischen Gemeinschaftserleben Georges Batailles konfrontiert, die dieser am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in Frankreich ausprobiert.

Enttäuscht vom marxistischen Versprechen und gescheitert mit seinen surrealistischen Eskapaden, wollte der alte Freund und Kumpel Blanchots eine neue, aus der dionysischen Revolte heraus geborene „sakrale Gemeinschaft“ gründen, die zur profan-weltlichen ein starkes Gegengift bildet. Acephale, eine Art Geheimbund, der sich um einen kopflosen Dämonen schart, sollte diese Intimität des Seins unter den Mitgliedern stiften, die der aufkommenden Blut- und Bodengemeinschaft des Faschismus eine überzeugende spirituelle Alternative entgegenstellt.

Durch das Zelebrieren feierlicher Riten, die einmal im Monat bei Neumond in einem Wald stattfanden, versprach sich Bataille die Reanimation des Heiligen. Ziel der Gemeinschaft war es, eine kopf- und hierarchielose Gesellschaft, ohne Staat, Partei oder Führer zu initialisieren. Transzendiert werden sollte alles, was den Bestand der profanen Gesellschaft sichert: die Arbeit, die Vernunft, das Individuum, die Sorge ums Dasein, das Nützlichkeitsdenken.

Tanz den kopflosen Dämon

Um die kommunielle Einheit herzustellen und gemeinsame Kräfte zu bündeln, war geplant, die Wahlgemeinschaft durch ein freiwilliges Menschenopfer zu besiegeln. Opfern bedeutete hier, geben, nicht töten; und sich mit Acéphale zu verbünden hieß, das Subjekthafte auf- und preiszugeben und sich von der Gemeinschaft als solcher „kurieren“ zu lassen. Laut Roger Caillois hatte man dafür auch schon jemanden gefunden, nämlich Laure, die Freundin Batailles, die später selbst Hand an sich legte. Auch hatte man bereits ein Zeugnis vorbereitet, das den Täter vor der Justiz entlasten sollte. Schließlich fehlte aber der Mut, und man zog es vor, das Ritual an einem Tier zu vollziehen. Ob es jemals dazu kam, wann und wie es erfolgte, ist wegen der Verschwiegenheit, zu der sich die Mitglieder verpflichtet haben, nicht übermittelt.

Fast ein halbes Jahrhundert nach dem Scheitern des Projekts betrachtet Blanchot das Tun seines Freundes mit äußerster Skepsis. Obwohl er selbst den Ideen des Freundes damals nahe gestanden ist und seine religiös-mythischen Motive geteilt hat, will er anno 1983 in Batailles erneuten Gemeinschaftsversuch nur noch Restbestände an Metaphysik erkennen. Weder glaubt er an ein Wir, das durch ein gemeinsames Menschenopfer entsteht, noch an jene kommunielle Verschmelzung, die beim exstatischen Tanz zwischen Selbst und Anderem eintreten soll. Einheitsstiftung wie qualitativer Umschlag in eine „wahre Gemeinschaft“ rufen bei Blanchot nur noch Befremden hervor. Der Gemeinschaft wohnt, davon ist er überzeugt, kein Heilsversprechen inne. Sie führt nicht zur Seligkeit, sondern schnurstracks zum Tod.

Im Antlitz des Anderen

Gerd Bergfleth macht in seinem überaus üppigen Kommentar dafür zunächst Jacques Derrida verantwortlich. Die Dekonstruktion habe Blanchots Denken ruiniert. Indem es „Metaphysik durch Trivialitäten ersetzt“ hat, habe es Blanchot vom rechten Weg abgebracht. Seitdem lasse es keinen Mythos mehr zu, der die heiligen und letzten Dinge der Menschen zum Ausdruck bringt. Wo früher einmal Erfahrung, Ursprung und Präsenz standen, residieren jetzt „derrida-like“ Nichterfahrung, Differenz und Absenz.

Den Rest besorgt danach Emmanuel Lévinas, nach Bataille Blanchots zweitem großem Freund. Dieser eröffnet ihm, wie Bergfleth in sarkastischem Unterton bemerkt, den Weg „von Athen nach Jerusalem“. Fortan widmet Blanchot sein Augenmerk nur noch auf kleine Gemeinschaftsformen, auf Paare und Freundschaften. Im Zentrum des Denkens steht nicht mehr jenes thymotische Begehren, das sich todesbereit in den Kampf wirft, um im Anderen soziale Anerkennung und sein Selbst zu erfahren, sondern der ungespiegelte Andere, der in seiner Äußerlichkeit unaufhebbar ist und von dem das autonome Subjekt sich allein durch seine Existenz bereits bedroht und in Frage gestellt fühlt.

Damit wird die Gegenseitigkeit von Selbst und Anderem, auf dem jede echte Gemeinschaft, jedes Wir beruht, negativ beantwortet. Denn mit der Einführung eines „Unbeugsamen“, der das Subjekt einschränkt und zum Dienst am Anderen verpflichtet, hört die Beziehung des Menschen zum Menschen auf, „eine Beziehung des Gleichen zum Gleichen zu sein.“ Mit der Einführung eines Außen, das nach alttestamentarischer Lesart wahlweise die Offenbarung, das Gesetz oder Gott sein kann, setzt sich eine Gesellschaftsform, „die man kaum noch wagen wird, ‚Gemeinschaft’ zu nennen.“

Fehlen und Verfehlen

Der Ort, an dem das Gemeinschaftsverlangen sich als Illusion erweist, ist der Tod. Im Sterben des Anderen, vornehmlich eines Freundes oder einer Geliebten, erfährt das Subjekt hautnah seine Endlichkeit. Den Tod des Anderen anzunehmen, ihn mit dem Freund zu teilen und dabei wie den eigenen zu betrachten, bringt das Ich zwar außer sich, aber auch der Möglichkeit der Erfahrung von Gemeinschaft nahe. Jedoch nur kurzzeitig. Nach dem Tod stellt sich das Gefühl des eigenen Verfehlens wieder ein, jene Einsamkeit, die grundlegendes Motiv von Blanchots Schreiben ist und Menschen verbindet.

Wird Gemeinschaft dermaßen tief gelegt, muss jede Möglichkeit von ihr zur Farce werden. Die Gemeinschaft ist das Unmögliche. Sie scheitert nicht an gesellschaftlichen Bedingungen (Regeln, Normen, Kommunikation), die ihr Gelingen sabotieren; sie scheitert vielmehr an ihrer eigenen Maßlosigkeit, am subjektiven Begehren nach Verständigung, Versöhnung oder emotionaler Verbundenheit mit dem Anderen. Der Mensch ist, wie die philosophische Anthropologie von Scheler über Gehlen bis zu Lacan zeigt, nur das, was ihm fehlt.

„Uneingestehbar“ bedeutet in diesem Zusammenhang, zuzugeben, dass es am Begriff der Gemeinschaft nichts zu enthüllen oder gar zu demaskieren gibt. Darum kann und ist er bislang weder „entehrt“ noch „verraten“, höchstens „nicht angemessen“ behandelt worden. Warum das so ist, wird sofort einsichtig. Gemeinschaft scheint nur im Fehlen und in ihrem Verfehlen auf. Das ist gemeint, wenn Blanchot sie zur Wahrheit bringen will.

Den Riss seinlassen

Was die Menschen trotz aller Unterschiede eint, ist der Mangel. Paradoxerweise vertieft er sich in dem Maße, wie er zu stillen versucht wird. Wer dem Begehren nachgeben und dem Mangel ein Ende bereiten will, verschärft nur das menschliche Ungenügen. Darum gilt es, den Riss, die Kluft und den Abgrund, der die Menschen trennt, die Zerrissenheit, die sie durchzieht, auszuhalten und auf „Totalisierungen“ in welch wohlmeinender Absicht auch immer tunlichst zu verzichten. Es gilt laut Blanchot, die „Werklosigkeit“ allen Werkens zu akzeptieren und sich einzugestehen, dass „unmittelbar verwirklichte Utopien“ ohne Zukunft und ohne Gegenwart bleiben. Die Erfahrung gemeinsamer Einsamkeit und Fremdheit, die Blanchot mit seinem Freund Bataille erlebt hat, unterstützt diese Haltung. Sie schützt vor politischem Missbrauch und öffnet bei rechtem Gebrauch unbekannte Räume individueller Freiheit.

Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Gerd Bergfleth, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2007, 184 Seiten, € 14,80 / sFr 25,80