Geschichte und Geschichten

Ein neues Spiel und ein neuer Film erzählen von der (Vor-)Geschichte der Vereinigten Staaten und revidieren die Gräuel des Kolonialismus

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In ihren Fiktionen erfinden sich Kulturen beständig selbst. Besonders deutlich wird dies bei einem Blick auf die US-amerikanische Medienproduktion, in welcher Gründungsmythen von je her zu den stabilsten Genre-Motiven zählen und das Manko narrativ zu überbrücken versuchen, dass die USA keine Geschichte haben, die älter als 500 Jahre ist.

In D. W. Griffiths Film „Birth of an Nation“ aus dem Jahre 1915 wird – der Titel suggeriert es bereits – kein geringerer Versuch unternommen, als der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika einen Gründungsmythos angedeihen zu lassen. Neben und nach Griffiths stilbildendem Klassiker hat sich vor allem das Western-Genre bemüht, dieser Tradition zu folgen und den Landnahme-Prozess durch stetige Westwärtsbewegung zu einer großen Erzählung von Freiheit, Eroberung und Selbstfindung umzudeuten. Dass dabei die Nebenwirkungen der Kolonialisierung oftmals unerwähnt blieben, war so auffällig, dass der spätere Western diese Ambiguität aufgegriffen und etwa den Genozid an den nordamerikanischen Ureinwohnern zu einem kritischen Statement der Genre-Geschichte umformuliert hat. Auch jüngere Versuche der Selbstmythifizierung versuchen diese berücksichtigen und gehen dabei zwei Wege: Zum Einen koppeln sie die große Erzählung der Nation an kleinere Narrationen der heldischen Selbstfindung (und konstruieren auf diese Weise Identifikationspotenzial); zum Anderen versuchen sie die Wunde der Kolonialisierung zu schließen, indem sie die konflikthaften Geschichten von Kolonialisten und Kolonisierten zu einer einzigen amalgamieren.

„Das Vermächtnis des geheimen Buches“ Bild: Buena Vista

Eine zentrale Rolle spielt dabei die Umdeutung der historischen Kolonialismus-Motive. Hatte die Reiseliteratur seit Kolumbus schon immer davon gesprochen, dass es das vorrangige Ziel sei, den Wilden die Zivilisation zu bringen, sie zu christianisieren und deren Land durch Einverleibung in die Kolonialterritorien zu „kultivieren“, so werden diese Motive im Rückblick und angesichts der deutlicher vernehmbaren kritischen Reiseberichte zunehmend als Vorwand entlarvt. (Ein Beispiel hierfür ist Bartholomé de las Casas, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts Schutzrechte für die Indigenas in Venezuela erwirkte, als er vom Treiben der Conquistadoren berichtete. Fest stand nun, dass es vor allem darum ging, den Landhunger der europäischen Nationen zu stillen und deren Sucht nach Reichtum – vor allem nach Gold. Die vermeintlichen Goldschätze – teils den Fantasien der Eroberer entwachsen, teils aus Missverständnissen bei der Kommunikation mit den Ureinwohnern herrührend – beflügelten die Eroberer zu immer ausgedehnteren Reisen in immer entlegenere Gebiete Nord- und Südamerikas mit immer grausameren Blutbädern, denen ganze Völker zum Opfer fielen. Dieses heute allgegenwärtige Wissen um die wahren Ziele des Kolonialismus wird in den Fiktionen abermals umgedeutet – nun nicht mehr zum Kaschieren der Grausamkeiten, sondern zur Installation eines eigenen, positiven Gründungsmythos der „einen Geschichte“. Jon Turteltaubs neuer Film „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ ist ein lupenreines Beispiel für diese Strategie.

Das Vermächtnis des geheimen Buches

Der Held Ben Gates (Nicholas Cage) spielt darin die Rolle eines Archäologen, der zunächst nur darum bemüht ist, das Image seiner Familienchronik sauber zu halten: Am Ende eines Vortrags über das Attentat auf Abraham Lincoln, bei dem sein Urgroßvater sein Leben gelassen hatte um eine groß angelegte Verschwörung zu verhindern, meldet sich aus der letzten Zuhörerreihe ein Mann namens Mitch Wilkinson (Ed Harris), dessen Vorfahr einer der Verschwörer gewesen sein soll. Wilkinson ist im Besitz eines Dokuments, dass belegt, dass Gates Urgroßvater ebenfalls zu den Verschwörern zählte. Doch auf dem Dokument finden sich auch ominöse Zahlenketten, die zusammen mit einem Erinnerungsfragment von Gates Vater (John Voigt) eine Schatzsuche auslösen, die Gates, dessen Ex-Frau Abigail (Diane Kruger) und seinen Mitarbeiter Riley (Justin Bartha) quer über alle Kontinente führt. Ziel ist zunächst ein mysteriöses Buch, das nur den Präsidenten der USA bekannt ist und in welchem alle Nationalgeheimnisse bewahrt sind (von der Wahrheit über das Kennedy-Attentat über die gefakte Mondlandung bis hin zum Geheimnis um die „Area 51“). Gates gelingt es, das Buch zu finden, in dem er entdeckt, dass sein Urgroßvater – und der Urgroßvater Wilkinsons – in Wirklichkeit Teilnehmer einer viel umfangreicheren Verschwörung bzw. deren Aufdeckung gewesen sind: Der Wahrheit über die heilige indianische Stadt „Cibola“, die vollständig aus Gold bestehen soll.

„Das Vermächtnis des geheimen Buches“ Bild: Buena Vista

„Das Vermächtnis des geheimen Buches“ koppelt seine Abenteurer-Geschichte auf recht ausgeklügelte Weise an die Geschichte der USA. Gates und sein Ahn sind Stellvertreter für die neuen, patriotischen Helden, die die Wahrheit mit allen Mittel suchen – selbst wenn sie dafür den Präsidenten der USA (Bruce Greenwood) entführen müssen. Auch wenn diese Wahrheit dazu geeignet ist, 500 Jahre offizieller Geschichtsschreibung zu revidieren, darf sie um keinen Preis verborgen bleiben. „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ ist jedoch kein kritischer Film über die Kolonialismusgeschichte, sondern ein „heilsamer“, der aus einem Bündel von Verschwörungstheorien und Mythen eine „große Erzählung“ zaubert. Die von Gates und Wilkins gesuchte Stadt „Cibola“ gehört nämlich zu jenen mysteriösen „Sieben Städten aus Gold“, die ein wichtiges Motiv in der nordamerikanische Kolonialisierung spielten.

Sieben Städte und ein Land aus Gold

Mitte des 16. Jahrhunderts hatte der spanische Konquistador Francisco Vásquez de Coronado das Gebiet um New Mexiko nach den bereits im 12. Jahrhundert in Sagen auftauchenden „Sieben Städten aus Gold“ durchsucht und war im Gebiet der Zuni-Indianer (dem heutigen New Mexiko) auf Aussagen gestoßen, die ihm den Standort von „Cibola“ suggerierten. Seine Suche blieb erfolglos – nicht jedoch sein Verlangen nach Gold, weshalb er sich gleich im Anschluss aufmachte, das mythische Goldland „Quivira“ zu entdecken. Die Suche nach Goldländern war ein in der Kolonialgeschichte nicht selten vorkommendes Motiv für Entdeckungsreisen, sollten doch gerade Goldfunde die Geldgeber der Expeditionen von deren Sinnhaftigkeit überzeugen und den Ursprungsländern Mittel zum Ausbau der Kolonien und zur Finanzierung der Regierungen bringen. Daraus erklärt sich auch die Verbissenheit, mit der an solchen Mythen festgehalten wurde und die Brutalität, mit der die Conquistadoren selbst den kleinsten Hinweisen auf solche Orte nachgingen.

„Das Vermächtnis des geheimen Buches“ Bild: Buena Vista

Eine besonders bekannte Goldland-Suche ist die nach „Eldorado“, die quasi das südamerikanische Pendant zum „Cibola“-Mythos bildet. Die Sage von „Eldorado“ ist wahrscheinlich sogar die Haupttriebfeder der Konquista Südamerikas gewesen. Basierend auf einem alten Brauch des Anden-Volks der Muisica, nach der jeder neue Herrscher Goldgeschenke in einem See versenkt hat und hernach selbst mit Goldstaub überzogen wurde, muss bei den spanischen Conquistadoren der Eindruck von sagenhaftem Goldreichtum entstanden sein. Anders als bei „Cibola“ schwankten die Erzählungen um den Umfang von „Eldorado“: Von einem Goldschatz über eine versunkene Stadt bis hin zu einem ganzen Königreich reichen die Legenden. Die längste und heute bekannteste Suche nach „Eldorado“ unternahm Mitte des 16. Jahrhunderts der Spanier Gonzalo Pizzaro, der zusammen mit seinem Bruder Francisco Pizzaro halb Südamerika eroberte.

(Noch) nicht kartografiert

Der Entdeckung von „Eldorado“, das hier auf das Maß einer Goldstatuette geschrumpft ist, nimmt sich das Videospiel „Uncharted: Drakes Schicksal“ (Naughty Dog/Sony 2007) an. Die Handlungsparallelen zu Turteltaubs Film sind verblüffend und vielleicht ein Hinweis darauf, dass derartige Narrationen dasselbe Motiv zum Ursprung haben. Auch in „Uncharted“ ist der Held (Nathan Drake) unterwegs, um nach seinem Vorfahr Sir Francis Drake (Informationen und Bilder im Booklet zum Spiel legen die Identität mit Gonzalo Pizzaro mehr als nahe) zu suchen, der in den 1580er Jahren im Amazonas-Gebiet bei der Suche nach „Eldorado“ verschwunden war. Zusammen mit der Journalistin Elen Fisher und dem Abenteurer Victor Sullivan schlägt sich Nathan Drake durch die unterschiedlichsten Abenteuer- und Kampf-Episoden. Er wird nämlich ebenso wie Ben Gates von einem Neider verfolgt, der den Goldschatz von „Eldorado“ für sich beansprucht und das Entdecker-Talent Drakes dazu ausnutzt, diesen an sich zu bringen – ähnlich wie Wilkinson auch Gates für sich suchen lässt.

Die Analogien zwischen Film und Spiel erstrecken sich ebenso auf deren Erzählstrategie und Dramaturgie: Im Spiel nimmt man die Rolle Nathan Drakes ein, so wie die Identifikationsfigur im Film Ben Gates ist. Man selbst schreitet also quasi im Hier und Jetzt die Geschichte und Mythologie ab, sucht und findet Hinweise und füllt weiße Flecken auf der „Landkarte der Geschichte“. „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ verfährt dramaturgisch schon beinahe wie ein Adventure-Game, wenn die Figuren sich von Clue zu Clue hangeln müssen, zwischendrin waghalsige Abenteuer und gefährliche Gefechte absolvieren. Das Spiel montiert die interaktiven Sequenzen an Cut-Scenes, die – eher selten – als dramaturgisch überaus gelungen bezeichnet werden können. Ziel beider Narrationen ist es, den Helden zum Goldschatz zu führen, ihn dabei ein Stück von sich selbst entdecken zu lassen (eine idealtypische Variation des so genannten Monomythos und schließlich im geborgenen Schatz etwas viel Größeres als dessen materiellen Wert zu offenbaren.

„Der wahre Schatz liegt im Innern“

Mit diesen Worten beschreibt Drake den Wert der gefundenen Goldstatue „Eldorado“. Sie beherbergt nämlich die mumifizierte Leiche eines Inka-Königs, die, sobald die Statue geöffnet wird, tödliche Keime abgibt (eine andere Entdecker-Verschwörungstheorie. Die Keime verwandeln jeden, der mit ihnen in Kontakt kommt, in Zombies. Demzufolge wimmelt der Ort auch von untoten spanischen Conquistadoren, die Drake das (Über)Leben schwer machen. Er begreift jedoch schnell: Sein Urahn wollte „Eldorado“ keinesfalls entdecken, sondern es sogar verbergen, um diesen Fluch nicht in die Welt gelangen zu lassen. Mithin steht er nicht nur am Ende einer Familie von Entdeckern, sondern sogar von Rettern und Sir Francis Drake hat mit seiner Verbergungsstrategie beachtliches geleistet: der westlichen Zivilisation und den Ureinwohnern auf dem südamerikanischen Kontinent eine keimfreie gemeinsame Zukunft beschert.

Uncharted

In „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ leistet Ben Gates ganz ähnliches: Er entdeckt „Cibola“, das (ein paar hundert Kilometer nach Norden verrückt) unter dem Wahrzeichen der US-amerikanischen Demokratie, dem Mount Rushmore, verborgen ist. Mit dieser Entdeckung gelingt es ihm nicht nur, die Ehre seiner Familiengeschichte zu retten und nebenher seine eigene Familie zu restaurieren (er kommt mit seiner Exfrau zusammen und versöhnt seine seit Jahrzehnten zerstrittenen Archäologen-Eltern), er schließt die „offenen Adern Nordamerikas“, indem er den indianischen Mythos von „Cibola“ an die US-amerikanische Geschichte der Demokratie anschließt. „Cibola“ war – das wird im Film explizit gesagt – nämlich vorsätzlich unter Mount Rushmore verborgen worden, um den Ureinwohnern ihre mythologische Vergangenheit zu stehlen. Die Wiederentdeckung soll nun beide Kulturen miteinander versöhnen, so der Film-Präsident.

Erfundene Geschichte(n) auf höchstem Niveau

Spielfilm und Videospiel werden hier über ihre narrativen Analogien und Homologien miteinander vergleichbar. Beide arbeiten am selben Projekt, der Revidierung von Geschichte, wenn auch mit unterschiedlichen Ästhetiken. „Das Vermächtnis des geheimen Buches“ ist ein „typisches“ Disney-Bruckheimer-Cage-Projekt. Wie der Vorgängerfilm Das Vermächtnis der Tempelritter setzt Turteltaubs Sequel zuvorderst auf Schauwerte. Der Film ist aufpoliertes Familienkino und stellt sich in die Tradition von Abenteuerfilmen wie der Quatermain- und Indiana-Jones-Reihe. Dass sich über derartige Großproduktionen ideologische Projekte besonders gut verkaufen lassen, ist seit Griffith Filmen bekannt. Im Kleinen besticht der Film durch einen recht charmanten Humor und gut (weiter)entwickelte Charaktere.

Uncharted

Über solche verfügt auch „Uncharted: Drakes Schicksal“. Wie selten bei einem Videospiel hat man das Gefühl, es mit plastischen Charakteren zu tun zu haben. Vor allem die Cut-Scenes bauen die Geschichten um die Figuren glaubwürdig aus. Das „Mehr“ an Charakter- und Handlungsplausibilität (letztere bricht mit dem Auftauchen der Zombies natürlich etwas ein) wird paradoxerweise gerade durch ein Weniger an grafischem Realismus unterstützt. Zwar sind die Ambientes, durch die sich Drake und seine Freunde schlagen, von selten gesehener Komplexität und Schönheit (gerade die Übersichten über den Dschungel im ersten Drittel suchen ihresgleichen im Medium), die Figuren selbst sind jedoch eher comichaft ausgestaltet. Das vermeidet zum einen den unangenehmen Effekt (als uncanny valley bekannt, der immer dann auftritt, wenn anthropomorphe Avatare besonders realistisch aussehen und agieren sollen, zum anderen kennzeichnet es die Narration aber stets auch als virtuelles Konstrukt und ist in gewissem Sinne damit „ehrlicher“ als der Film.