Spielerlebnis für Hartgesottene

Das Freeware-Roguelike "Dwarf Fortress" ist ein Spieljuwel wie aus einem bizarren Paralleluniversum: Eines der komplexesten, süchtigmachendsten und interessantesten Spiele unserer Zeit - mit Zugang nur für Leidenswillige

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Was fängt ein aktuelles PC-Spiel mit der geballten Rechenleistung moderner Computer an? Die offensichtlichste Antwort – siehe „Crysis“, „Bioshock“ oder „World in Conflict“: Es präsentiert eine fotorealistische Spielwelt, die kaum mehr von der Realität zu unterscheiden ist. Während in den letzten Jahren die Grafikleistung tatsächlich enorme Sprünge vollzogen hat, stagniert allerdings etwa das altehrwürdige Feld der KI-Programmierung auf mittelmäßigem Niveau; gerade mal die Programmierung einer realistischen Physik lässt sich als große aktuelle Leistung abseits der reinen Oberflächenverschönerung konstatieren. Doch es geht auch anders.

Wer sich von der schlichten Grafik und der komplexen Bedienung nicht abschrecken lässt, kommt in den Genuss eines echten Ausnahmespiels

Slaves to Armok II: Dwarf Fortress, ein Freeware-Spiel von Bay12games, geht einen anderen Weg – und das so konsequent, dass sich tatsächlich, wie von einem staunenden Reviewer treffend angemerkt, der Gedanke an eine Parallelwelt aufdrängt, die mit den herrschenden Gesetzen der Computer- und Videospielbranche wenig gemein hat. Satte 20 Minuten werden auch aktuellste Prozessoren gequält, bis das Spiel beim ersten Start eine komplette Fantasywelt generiert hat. Immerhin werden unter anderem Erosion, der Verlauf von Flüssen, geologische Ablagerungen und zudem noch eine tausendjährige Fantasy-„Geschichte“ generiert, um eine stimmige, insgesamt einige 1000 Quadratmeilen umfassende Welt zu erstellen, in der man im „Adventure Mode“ entweder herumwandern oder, sozusagen als Hauptspiel, eine ausgefeilte Aufbaustrategiesimulation spielen kann, als Mentor einer wachsenden Gruppe von nicht direkt steuerbaren Zwergen, die sich als Pioniere auf einem sorgfältig ausgewählten Fleckchen irgendwo in der riesigen Welt ein neues Heim bauen sollen.

Eine gewaltige Aufgabe, denn vieles muss bedacht werden: Die Zwerge können als Steinmetze, Holzfäller, Minenarbeiter, Köche, Fischer, Jäger, Milizionär, Bierbrauer, Juwelenschleifer, Bauern, Schmiede und vieles mehr eingesetzt werden, sie müssen Handel treiben, sich verteidigen und expandieren – die nötige Infrastruktur und Ressourcen vorausgesetzt. „Dwarf Fortress“ spielt sich wie eine inspirierte Mischung aus „Sims“, „Sim City“, „Civilization“, „Siedler“ und Echtzeitstrategie – mit zwei deutlichen Unterschieden. Zum einen überrascht das Spiel durch seine unglaubliche Komplexität und immer wieder überraschende Detailverliebtheit – und zum anderen, und hier scheiden sich die Geister, wird es vollständig durch ASCII-Zeichen visualisiert. Mit anderen Worten: Es gibt nichts, was man guten Gewissens im gängigen Wortsinn als Grafik bezeichnen könnte – Nethack und andere Roguelikes lassen grüßen. Immerhin wurde „Dwarf Fortress“ allerdings vor kurzem von den Usern von ASCII-Dreams zum „Roguelike des Jahres“ gewählt.

Wer jetzt schon angesichts der vermeintlichen Augenqual müde abwinkt, versäumt eines der faszinierendsten und vielseitigsten Spiele der letzten Jahre. Denn ein Blick in die Foren der fanatischen Fangemeinde von „Dwarf Fortress“, das immer noch „nur“ als häufig upgedatete Alphaversion bezogen werden kann, offenbart das Spezielle an diesem Titel: Hier werden von den Spielern voll Begeisterung und liebevoll Geschichten aus dem Spiel erzählt, Berichte von den immer recht haarsträubenden Wirrnissen der ASCII-Zwerge in der Vielzahl der möglichen Spielsituationen. Wie etwa jene vom wahnsinnig gewordenen Zwerg, der in einem Anfall von Depression seinen Kollegen zu feinsten Zwergenlederhosen verarbeitet. Oder wie ein anderes Zwergenfort eine monströse Höhlenspinne gefangen und zur Seidenfabrikation gezähmt hätte. Oder die inzwischen in Fankreisen berühmte Saga der Zwergenfestung Boatmurdered, die in Form einer seriellen Multiplayerpartie über mehrere Wochen schier epische Ausmaße annahm.

Tragödie in ASCII: Ein Zwerg ist ertrunken – im Epos von „Boatmurdered“

„Dwarf Fortress“ generiert Anekdoten. Wer einmal dem faszinierenden Charme des Spiels verfallen ist, wird sich dabei ertappen, seine Zwerge häufig nur staunend bei ihrem Tagwerk zu beobachten und sich dabei königlich zu amüsieren. Tatsächlich offenbart sich die Komplexität des Spiels durchaus mühsam durch die Erlernung des schmerzhaft unintuitiven User-Interfaces: Jeder einzelne, immer neu zufallsgenerierte Zwerg besitzt detaillierte Eigenheiten, Vorlieben und sogar Neurosen oder Ticks. Haustiere wie Katzen und Hunde vermehren sich, wobei Katzen – ein für den Charme des Spiels typischer, humorvoll-realistischer Zug – sich „ihre“ Zwerge selbst aussuchen und fortan eine bedeutsame Rolle für die psychische Gesundheit des jeweiligen Besitzers spielen. Dass zum Beispiel die oft benutzten Trampelpfade der Zwerge auch in dürrem ASCII optisch gekennzeichnet werden oder dass etwa im Winter auch das gefrorene Eis des Flusses wie andere Feststoffe abgebaut und als Baumaterial verwendet werden kann, zeugt vom ausufernden, charmanten Detailgrad, der auch nach vielen Stunden immer wieder überrascht.

Die Einarbeitung ins Spiel gestaltet sich durch ein eigenes Wiki und vor allem die Schritt-für-Schrittanleitung Your first fortress zwar als kompliziert, aber als machbar. Nach einigen Versuchen sind aber sowohl die umständliche Bedienung als auch die Grafik angesichts der lebendigen Welt, die sich entfaltet, vergessen. „Dwarf Fortress“ quält seine Spieler – wer allerdings die Mühen des Beginns auf sich genommen hat, wird reich belohnt. Immer gefinkeltere Bewässerungsideen – trotz der schlichten Grafik wird die Physik der Gewässer überraschend realistisch simuliert – und immer ehrgeiziger werdende Grabungspläne lassen der Kreativität des Spielers schier unendlichen Freiraum, wie etwa eine Sammlung online gestellter beeindruckender Maps beweist .

„Dwarf Fortress“ ist ein Sandbox-Spiel, das bei jedem Neuversuch völlig neue Ansätze und Lösungsideen erfordert. Und hat man Lagerkoller, Raumnot, Wasser- oder Lavaeinbrüche, Hungersnöte und kalte Winter halbwegs überstanden, kommen garantiert Belagerungen durch aggressive Wildtiere – im Norden Polarbären, in den Dschungelregionen Elefanten – oder unfreundliche Nebenzivilisationen wie Goblins dazu: Tragödien sind also vorprogrammiert. „Losing is fun“ ist nicht umsonst das semi-offizielle Motto des Spiels. Doch immerhin geht jede Siedlung, auch die unweigerlich zum schnellen Untergang verdammte allererste Testansiedlung jedes Spielneulings, in die Geschichte der generierten Welt ein – und kann als mehr oder weniger majestätische Ruine im „Adventure“-Modus besucht und erkundet werden.

Mit Tilesets und speziellen Fonts lässt sich das Spiel grafisch vielseitig aufpeppen

Sandbox-Spiele wie „Oblivion“ oder „GTA“, die sich die Simulation einer „lebenden“ Welt zur Aufgabe gesetzt haben, können mit der Komplexität dieses skurril-megalomanisch anmutenden Projekts nur ansatzweise mithalten. Die Entwickler, zwei US-amerikanische Brüder um die 30, deren jüngerer, Tarn Adams, ehemaliger Post-doc-Professor an der Texas A&M, inzwischen von den freiwilligen Spenden von fanatisierten Fans leben kann, haben aber noch einiges vor: Im Design-Dokument wird das gesamte geplante Ausmaß der riesigen Weltsimulation deutlich, die mit „Dwarf Fortress“ nur ansatzweise dargestellt wird. Wenn dann einmal das Betastadium erreicht ist, soll auch die Bedienung überarbeitet werden, und schon jetzt kann sich der vom Eyecandy anderer Spiele verwöhnte User immerhin hübschere Tilesets installieren, die das Spiel etwas anschaulicher machen.

Vor kurzem hat sogar ein 3D-Visualisierungsprogramm Hoffnungen auf eine irgendwann denkbare 3D-Version gemacht. Bis es so weit ist, sollten sich Hartgesottene aber durchaus schon jetzt auf das bizarre Abenteuer einlassen, ein absolutes Ausnahmespiel zu spielen – und durch den ASCII-Salat schon nach kurzer Einübung hindurch einen faszinierenden Blick auf eine außergewöhnliche Simulation zu werfen.