"Loblied der Systemkonkurrenz"

Interview mit Yves Kugelmann zur Idee eines zweiten jüdischen Staates

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Yves Kugelmann ist Chefredakteur der Zeitschrift Tachles Für NZZ Folio, das seine Januarausgabe dem "jungen jüdischen Leben" in der Schweiz widmet, verfasste er einen Text, in dem er sich für die Idee eines zweiten jüdischen Staates, "Judäa", aussprach.

Herr Kugelmann – wie wörtlich darf man Ihren Text von der Gründung eines zweiten Judenstaates lesen?

Yves Kugelmann: Der Text soll durchaus wörtlich und ebenso im übertragenen Sinne verstanden werden. Es geht ja vor allem um die Idee. Mit dem 1934 durch Stalin ausgerufenen autonomen jüdischen Gebiet Birobidschan gab es bereits einmal einen jüdischen Staat, ebenso wie andere solche. Die Idee ist also nicht neu, aber es ist wieder mal nötig, sie in Erinnerung zu rufen. Ein zweiter jüdischer Staat würde viele festgefahrene Aspekte der aktuellen Diskussionen auf allen Seiten aufbrechen.

Aber der zweite könnte auch ein virtuelles Judäa sein, beispielsweise ein Netzwerk?

Yves Kugelmann: Es könnte ein virtuelles Judäa sein. Das ganze spielt ja ein wenig mit der Provokation. Auf der einen Seite werden Juden ja immer als Weltverschwörung dargestellt - wieso nicht das wörtlich nehmen und so etwas Virtuelles kreieren. Aber es könnte durchaus auch ein Staat sein, der auf der Landkarte etabliert wird.

Mir geht es aber eigentlich vor allem um eine sehr innerjüdische Diskussion, die es gibt. Und zwar um die Position der Diaspora. Seit der Gründung des Staates Israel gab es ja immer wieder die Tendenz, zu sagen, alle Juden sollen nach Israel gehen. Und viele haben meiner Meinung nach verkannt, dass der jüdische Charakter sehr stark durch die Diaspora geprägt ist. Die Dualität zwischen Israel und Diaspora ist evident für beide. Man kann sich jetzt überlegen, ob man in der Diaspora einen jüdischen Staat etablieren möchte - sozusagen als kontradiktorische Idee zu Israel, das auf einem so genannten "Heiligen Land" gegründet wurde und somit von Feinden, Freunden und Anderen immer problematisch betrachtet werden wird. Aber, sagen wir mal, dass man ein neutrales, normales, gutes, schönes Leben führen kann, dazu braucht es eigentlich einen Staat irgendwo außerhalb Israels. Und dann kann ja jeder wählen, wo er sein Seelenheil findet. Das ist die Idee.

Und warum der Name Judäa? Es gibt ja auch ein Gebiet, das als Judäa bezeichnet wird.

Yves Kugelmann: Die Westbank wir unter anderem als Judäa bezeichnet. Aber dies ist damit nicht gemeint. Es gab zu römischen Zeiten ein Judäa. Daher rührt eigentlich der Name, von diesem historischen Judäa. Aus zwei Gründen: Weil es wirklich ein jüdischer Staat sein soll. Nicht im theologisch-religiösen Sinne, aber nach jüdischem Selbstverständnis. Und deshalb dachte ich, im Namen sollte "jüdisch" oder eben "Judäa" vorkommen. Allerdings ist dieser erste Staat dann zugrunde gegangen. Deshalb hab' ich mir gedacht: Ja, nehmen wir doch diesen Namen, den gibt's schon, und versuchen es nochmal anders.

Dieser Staat würde Ihrem Text zufolge aber allen Religionen offen stehen?

Yves Kugelmann: Ja - eben. Ich meine, es ist so: Es ist ja nichts entschieden in diesem Text. Und es steht ja zur Frage: Wird so ein jüdischer Staat ein Staat für die Juden oder ein Judenstaat sein. Das ist ja eine große Diskussion - "Was ist eine jüdischer Staat in einer säkularen Welt?" Oder: "Was ist überhaupt eine Adverbiale bei einem Staatsgebilde?" Also: "Sind jetzt die Schweiz oder Deutschland christliche Staaten?" Und nachdem Israel sich immer wieder darauf beruft, ein jüdischer Staat zu sein (was historisch und im Umfeld der Gründungsjahre logisch ist) muss man sich heute fragen, was das überhaupt sein kann. Ich plädiere immer für rechtsstaatliche Demokratien - möglichst säkular, vielleicht sogar mit laizistischer Trennung von Staat, Kirche und Religion. Aber darin sollen alle Platz haben. Was dann den jüdischen oder in Frankreich den französischen Charakter ausmacht, definiert sich dann durch anderes, wie Geschichte, Kultur, Ethik, Werte.

Wenn ich Sie recht verstanden habe, dann stellen Sie in dem Text auch die Vorzüge einer Systemkonkurrenz heraus, die nicht nur Alternativen bietet, sondern auch dafür sorgt, dass beide Alternativen sich anstrengen, besser werden. Also in etwa der Effekt, mit dem Eric Hobsbawm die Blüte von Bürgerrechten und Sozialstaat in den USA und Europa während der Zeit des Kalten Krieges erklärt. Wie könnten sich Israel und Judäa gegenseitig verbessern?

Yves Kugelmann: Ich habe mir gerade gestern mit einem Fußballfan überlegt, was wäre, wenn jetzt in der Vorausscheidung zur Weltmeisterschaft die beiden aufeinander treffen würden. Wer gewinnt - Israel oder Judäa? In den nächsten zehn Jahren gewinnt natürlich Israel, weil die alle russischen Einwanderer haben. Und die können einfach besser Fußball spielen. Mit den üblichen traditionellen Juden kommt man sportlich nicht weit.

Aber das Konkurrenzsystem ist eigentlich nicht unbedingt eines im Sinne von Hobsbawm, sondern es ist eines, das sehr jüdisch ist. Nämlich dieses dialektische, das überall und immer sehr präsent war. Es gibt ja nicht nur einen Talmud, es gibt natürlich zwei Talmude. Der eine von Babylon, der andere von Jerusalem. Und alle diese Denkschulen beruhten immer auf einem dialektischen Prinzip. Genau so wie heute oder früher die orientalischen Juden sich immer aufrieben an den aschkenasischen Juden und so weiter. Da gäbe es tausend Beispiele. Es war eigentlich unlogisch, dass es nur einen jüdischen Staat gibt. Das ist sehr katholisch, würde ich sagen - dass es so ein Zentrum oder zentralistisches Gebilde gibt wie den Vatikan. Eigentlich wäre die typisch jüdische Art und Weise, dass jeder seinen jüdischen Staat gründet, wie es auch tausende von Synagogen und Richtungen gibt.

Zur Verwaltung in Birobidschan haben Sie aber noch keine Kontakte aufgenommen, oder?

Yves Kugelmann: Nein. Ich habe die Idee auch noch nicht patentieren lassen. Aber ich bin ehrlich gesagt auch nicht der Erste, der über so etwas nachdenkt. Man müsste das Projekt erst einmal wirklich in die Umsetzungsphase bringen. Vielleicht zuerst mal sogar im Internet, sozusagen als Second Life....

Viele sehen ja in Manhattan irgendwie einen gelungenen jüdischen Staat. Insofern gelungen, als man dort einfach leben kann wie man will und sich nicht ständig um Sicherheitspolitik oder überhaupt Politisches oder Anderes kümmern muss. Und wiederum andere sagen ja, die Diaspora als solches sei eigentlich der richtige jüdische Staat. Oder zumindest der zweite jüdische Staat. Und ganz Gefitzte finden immer noch die Schriften die eigentliche jüdische Heimat. Wie auch immer: Israel stärken heißt, den massiven singulären Fokus von heute aufbrechen, eine neue Dialektik, ein Mehrfrontenprinzip etablieren.