"Nokias Lumperei"

Die politische Empörung über Nokias Rückzug ist ein Resultat der Diskrepanz zwischen Globalisierungsvermittlung und tatsächlicher Globalisierung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Boykottaufrufe deutscher Politiker scheinen auf den ersten Blick Solidarisierungsinstrumente der Mächtigen mit den Ohnmächtigen zu sein. Obwohl Politiker wissen, dass Nokia lediglich macht, was die internationalen Finanzmärkte verlangen, wird suggeriert, dass sich Unternehmen auch in Zeiten allumfassender Konkurrenz an moralischen Maßstäben messen lassen müssen, obwohl diese nicht mehr existieren.

Es ist eine einfache Rechnung: Man betrachte die gesamten Kosten einer Arbeitsplatzverlagerung und rechne diese gegen mit den erwarteten Einsparungen. Die Komplexität dieser Vorgänge ist sicherlich weitaus höher als hier dargestellt. Der entstehende Imageverlust in Deutschland will sorgsam einkalkuliert sein, schließlich ist Deutschland, gemessen in absoluten Zahlen, der größte Handymarkt Europas. Fest steht aber: die Risiken werden abgewogen.

Fallen diese Rechnungen so aus, dass sich eine Arbeitsplatzverlagerung auszahlt, werden Arbeitsplätze verlagert, wobei es keine Rolle spielt, ob Nokia, wie Rüttgers treffend feststellt, in Deutschland auch weiterhin Handys verkaufen will. Natürlich wollen sie das. Es ist schließlich ihr Hauptgeschäftsbereich. Es ist demnach Unsinn, den Nokiaverantwortlichen unterstellen zu wollen, sie hätten diese Abwägung nicht getroffen.

Rüttgers Versuch, Nokias betriebswirtschaftliche Entscheidung mit betriebswirtschaftlichen Argumenten anzugreifen, offenbart die politische Hilflosigkeit angesichts entgrenzter Transaktionsräume. Was wir sehen, ist eben gerade eine betriebswirtschaftlich gerechtfertigte Entscheidung und deshalb aus betriebswirtschaftlicher Sicht schwer zu kritisieren.

Ein neues Diensthandy – nur welches?

Peter Struck ist ebenfalls aufgebracht und will im Licht der Wahlkämpfe sein Nokiahandy zurückgeben während Horst Seehofer gleich prüfen lässt, ob ein Nokiaboykott seines gesamten Ministeriums zulässig ist. Interessant wird sein, für welche Hersteller sie sich entscheiden.

Wird Motorola das glückliche Unternehmen? Ist die Lösung ein Kooperationsvertrag zwischen Seehofers Ministerium und dem amerikanischen Hersteller, quasi als Dank dafür, dass Motorola den Rückzug aus Deutschland bereits vor sechs Monaten bekannt gab? Das wiederum wäre unfair den Schleswig-Holsteinern gegenüber, denn nachdem Motorola erklärte, sich vom Produktionsstandort Deutschland zu verabschieden, motzte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU): „Wenn Motorola sich von Schleswig-Holstein trennt, trenne ich mich von Motorola.“

Boykottieren können die Deutschen seit jeher gut – doch meist hängen die deutschen Boykotte nicht mit einer realistischen Ursache-Wirkungs-Betrachtung zusammen, sondern sind eher Resultat perfider politischer Strategien. Die politischen Boykottaufrufe zielen ins Leere weil sie in die betriebswirtschaftliche Rechnung Nokias einkalkuliert wurden. Sie sind verlogen, weil sie Resultat eines globalen Prozesses sind, der maßgeblich durch die Politik vorangetrieben wurde. Sie sind hilflos, weil sie lediglich Versuche darstellen, die Bürger davon zu überzeugen, dass Globalisierung eigentlich anders funktionieren sollte. Und sie sind intelligent, weil die Menschen das glauben.

Wer ein gutes Handy kaufen möchte, kommt übrigens an Nokia kaum vorbei – beispielsweise sind unter den zehn besten Handys der Xonio-Handybestenliste neun Geräte von Nokia. Märkte sind vergesslich.

Die Verwechslung von Wirtschaft und Gesellschaft

Glaubt man dem Gralshüter des Anstands, Peter Struck, sind sowohl Roland Koch als auch Nokia „unanständig In Wirklichkeit ist weder Koch, der sich, da er eine natürliche Person ist, zumindest noch in Ansätzen mit dem Phänomen des Anstands befassen muss, noch Nokia unanständig, sondern handeln nur gemäß den Logiken ihrer jeweiligen Handlungssysteme. Die Moral der Politik ist Macht – die Moral der Wirtschaft ist Geld. Dass Nokias Handlung nicht der herrschenden gesellschaftlichen Moralvorstellung entspricht, dafür ist nicht Nokia verantwortlich, sondern die Politik selbst, die sich beim Abbau aller wirtschaftlicher Hürden von neoliberalen Freiheitssemantiken leiten ließ.

Vor Wahlen besinnt man sich wieder zurück auf den embedded liberalism und das allenfalls in Mittelstandsnischen existierende moralische Unternehmertum, denn man braucht zur Legitimation der Politik ja noch die Unterstützung der Gesellschaft und dafür moralische Maßstäbe. Roland Koch glaubte, dass seine moralischen Maßstäbe den gesellschaftlichen entsprächen. Er täuschte sich. Nokia kalkuliert dagegen mit Interessen und kümmert sich nur noch bedingt im Rahmen von good governance an moralischen Maßstäben, da Nokias Handlungen durch die hohe Politik legitimiert sind und allenfalls auf Nachfrageseite an die Gesellschaft rückgekoppelt sind.

Das Dilemma, auf der einen Seite als politische Akteure für die gegenwärtige amoralische Globalisierungsform verantwortlich und gleichzeitig an Wählerstimmen gebunden zu sein, deren Maßstäbe gesellschaftliche Gerechtigkeits- und Wertvorstellungen sind, nötigt Politiker zu inkonsistentem Verhalten während der Wahlkampfzeit. Sie bieten den Wählern damit etwas Orientierung in einer Welt, die sich zunehmend in Kennzahlen messen lässt und doch nicht recht überschaubar werden will. Als Entscheidungskriterien für den Verbraucher dienen allerdings nicht primär das gute Handeln eines Unternehmens, sondern der Preis und die Qualität in Form von Bestenlisten – es ist demnach müßig zu glauben, im Mobilfunkbereich sei eine Moralisierung der Märkte durch politische Boykottaufrufe zu erreichen. Die romantische Vorstellung von einer Moralisierung der Märkte sorgt jedoch zumindest für kurzfristige politische Aufmerksamkeit, vermittelt Bodenständigkeit und sorgt für potentielle Wählerstimmen.

Verschärft wird dieses Problem durch die Entstaatlichung sozialer Leistungen, weil dadurch eine paradoxe Interessenskonstellation entsteht. Der widersprüchliche Zusammenhang postmoderner Polyinteressen offenbart sich darin, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer das Verhalten Nokias vermutlich verwerflich findet, gleichzeitig aber an billigen Preisen interessiert ist und sich zudem darüber freut, wenn der durch die Riester-Rente geförderte Telekommunikationsfonds die Rente sichert. Für die romantische Vorstellung einer Moralisierung der Märkte bleibt für Normalverdiener dann keine Zeit. Märkte sind vergesslich.