"Wir geben den siechenden Patienten noch nicht auf"

Interview mit Hartmut Lühr über seine Aktionen zum Wahlboykott der Landtagswahl in Berlin

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Alle Jahre wieder kommen auf den deutschen Staatsbürger im Alter über achtzehn Wahlen zu. Da viele dieser Staatsbürger aber mittlerweile meinen, mit ihrer Stimme würden sie zwar das gegenwärtige politische System der bürgerlich-repräsentativen Demokratie legitimieren, aber nicht mehr die parlamentarische Willensbildung beeinflussen, versagen diese zunehmend ihre Teilnahme. So hat der Hartmut Lühr der Vorsteher der Kunst- und Politikplattform Moderne 21 die Berliner Landtagswahl zum Anlass genommen, die Aktionsseite www.wahlabsage.de zu gründen und mit verschiedenen Veranstaltungen für staatsbürgerliche Wahlaskese zu werben. Telepolis hat mit dem Aktionskünstler über seine Beweggründe und Ziele gesprochen.

Am 26.01. wollen Sie mit der Aktion “Wahlabsage“ die Nichtwähler bei der bQ: evorstehenden Landtagswahl unterstützen. Wo und wann genau soll diese stattfinden?

Hartmut Lühr: Wir gehen am Vorabend der Wahlen in Niedersachsen und Hessen mit einem Informationsabend im Berliner Tacheles an die Öffentlichkeit, um den sattsam bekannten Wahlaufrufen und Gewissensappellen der Massenmedien etwas entgegenzusetzen: Bewusste Nichtwähler handeln nicht automatisch weniger verantwortungsvoll als Gewohnheitswähler.

Aus welchem Anlass ist ihnen die Idee gekommen, mit einer Aktion den Nichtwählern den Rücken zu stärken oder haben Sie mit dem Gedanken schon länger gespielt?

Hartmut Lühr: Man sollte grundsätzlich skeptisch sein, wenn in der Öffentlichkeit mit schwarz-weiss-Gegensätzen gearbeitet wird: Hier die aufgeklärten und staatsbürgerlichen Wahlgänger – dort die leicht unterbelichteten und latent antidemokratischen Nichtwähler. Dies wird nicht ganz so drastisch in den Medien formuliert, aber darauf läuft es in letzter Zeit hinaus. Daneben gibt es noch die ziemlich sinnentleerten Wählermobilisierungsversuche der Werbeagenturen, deren Hauptargument lautet: `Geht um Himmels Willen wählen, auch wenn Euch die etablierten Parteien gegenwärtig nicht überzeugen. Sonst seid Ihr mit Schuld am Erstarken der extremen Rechten.´ Abgesehen davon, dass diese Behauptung durch nichts bewiesen ist, ist das ganz einfach ziemlich dürftig. Wenn das einzige Argument für den Gang zur Wahlurne sein soll, unliebsame Personen aus den Parlamenten fernzuhalten, dann haben die etablierten Parteien doch geschlafen und schlummern immer noch. Darin sollte man sie nicht durch seine Stimme bestärken, das wäre pädagogisch falsch. Vor diesem Hintergrund wuchs in mir das Bedürfnis, die bewussten Nichtwähler gegen Diffamierungen zu verteidigen.

Aus ihrem Pressetext ist zu entnehmen, dass Sie die Teilnahme an Wahlen vom Standpunkt der Demokratie aus für politisch schädlich erachten, weil in der aktuellen Glaubwürdigkeitskrise der repräsentativen Demokratie die Leute zu Protestwählern gerieren. Sinnvoll hingegen sei der bewusste Wahlboykott. – Ist nicht gerade Teilnahme an Wahlen die einzige politische Einflussmöglichkeit, die dem Bürger noch geblieben ist und würde diese mit dem Wahlboykott nicht unnötig aus den Händen gegeben?

Hartmut Lühr: Zunehmend viele Bürger spüren nun einmal, dass die gewählten Volksvertreter in erster Linie Lobbypolitik betreiben. Kein Wunder bei drei registrierten Interessenverbänden auf jeden Bundestagsabgeordneten.

Individuelle No-Goes

Von einer vertanen Chance durch Wahlabstinenz könnte man daher nur sprechen, wenn neben der symbolischen tatsächlich auch eine faktische Einflussmöglichkeit bestehen würde und sei sie noch so klein. Allerdings sollte es natürlich nicht zu Wählerstigmatisierung kommen. Hier darf der 'Wahlabsage'-Pressetext, der die ungewohnte Perspektive bewusster Nichtwähler einzunehmen versucht, auch nicht überinterpretiert werden.

Was sind ihrer Meinung nach die Gründe für diese Krise und ab welchem Zeitpunkt ist diese demokratisch kontraproduktiv geworden?

Hartmut Lühr: Für jeden Menschen gibt es individuelle No-Goes, bei denen nach und nach einstmals gemeinschaftlicher Konsens abgebaut wird. Politische Sündenfälle sind beispielsweise für die einen die Kriegseinsätze außerhalb des Nato-Raums, für andere ist es die ausufernde Staatsverschuldung. Und diese Liste wird im gegenwärtigen System leider nicht kürzer. Jüngster Neuzugang dürfte die sogenannte Vorratsdatenspeicherung sein. So verlieren wir nach und nach immer mehr Menschen.

Tribut der repräsentativen Demokratie

Hartmut Lühr: Wann das alles begann ? Schwer zu sagen, es gab wohl eher einen schleichenden Übergang. Ich meine, spätestens mit Norbert Blüms `die Rente ist sicher´ von 1986 ist elementares politisches Vertrauen zerstört worden.

Was sollen Politiker tun, um die verloren gegangene Glaubwürdigkeit wiederzuerlangen?

Hartmut Lühr: Ich befürchte, dass sie den meisten ziemlich egal ist, da sie zu sehr im aktuellen politischen System gefangen sind. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir mit dem verbreiteten `Politiker-Bashing´ nicht weiter kommen. Das betreiben die Kabarettisten des `Scheibenwischers´ nun schon seit Jahrzehnten und es ödet einfach nur noch an. Politikern ihre menschlichen Schwächen vorzuhalten, ist kleinkariert. Sie sind nicht besser oder schlechter als der Durchschnittsbürger. Wenn Sie oder ich Parteipolitiker wären und nicht abgewählt werden wollten, dann würden auch wir hin und wieder wissentlich lügen. Das ist der Tribut, den wir unserer altmodischen Spielform der repräsentativen Demokratie zollen müssen. Daher sollten wir sie endlich ins 21. Jahrhundert holen.

Halten Sie das gegenwärtige politische System aus demokratischer Sicht überhaupt für reformfähig?

Hartmut Lühr: Auf jeden Fall. Wir geben den siechenden Patienten noch nicht auf ! Alternativen zur Demokratie gibt es keine. Aber das hergebrachte politische System ist nicht sakrosankt. Die Gründerväter- und mütter der Bundesrepublik würden es uns sicher nachsehen, wenn wir es deutlich mehr modernisierten als dies bisher der Fall ist.

Wie könnte ihrer Meinung nach bewusste Wahlenthaltung aussehen?

Hartmut Lühr: Nicht-Wählen-Gehen und es hinterher nicht verheimlichen sondern öffentlich darüber reden. Leider haben wir viel zu wenig prominente Nichtwähler, die in der Öffentlichkeit zu ihrer persönlichen `Wahlabsage´ stehen. Ich bin sicher, es gibt sie und sie könnten uns einiges Interessantes über ihre Motive erzählen. Unsere jungen Nichtwähler müssen leider weithin ohne Rollenvorbilder auskommen – ein echtes Manko.

Welche Form von Volksherrschaft schwebt ihnen als politisches Ideal vor? Direkte Demokratie?

Hartmut Lühr: Die deutsche parlamentarische Demokratie startete in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund einer Industriegesellschaft. Wir sind inzwischen in der Wissensgesellschaft angelangt und dieser Umstand kann nicht ohne Auswirkungen auf das politische System bleiben. Wir müssen daher dringend Wege finden, wie wir mehr Experten und weniger `klassische´ Parteipolitiker in Entscheidungspositionen bekommen.

In ihrer Presseinfo schreiben Sie weiter: „Der moralische Zwang (zum Wählen, RJ) ist kaum mehr mit rationalen Argumenten begründbar und dient lediglich der Bewahrung von Besitzständen. Aus Sicht der Betroffenen verständlich - für eine funktionierende Zivilgesellschaft jedoch nicht hinnehmbar.“ Können Sie uns sagen was damit gemeint ist?

Hartmut Lühr: Die Parteien, die Verbände, die Gewerkschaften und die Medien haben sich im Laufe der Jahrzehnte mit den bestehenden Verhältnissen arrangiert und sich mannigfaltige Einflussmöglichkeiten gesichert.

Politische Beiträge sind durch einen gewissen Defaitismus geprägt

Hartmut Lühr: Ein normaler Vorgang, den man nicht verteufeln sollte. Aber es ist natürlich klar, dass sich die genannten Gruppen heftig gegen jede Veränderung im Machtgefüge dieses Landes wehren. Nichtwähler sind ihnen dabei ein besonderer Dorn im Auge, da sie langfristig und schleichend die Legitimation des bestehenden Systems aushöhlen.

Für ihre Aktion haben Sie ein satirisch angehauchtes Video mit fingierten Statements aus der Bevölkerung gedreht. Was soll dieser Spot verdeutlichen und bewirken? Welches Kalkül steckt hinter solchen Aktionen?

Hartmut Lühr: Politische Beiträge in den Medien über die Lebenswelten einfacher Bürger sind meiner Beobachtung nach grundsätzlich durch einen gewissen Defaitismus geprägt: Der Mann und die Frau auf der Straße sind eher desinteressiert, auf ihren eigenen Vorteil bedacht und bedürfen der lenkenden Hand des wohlwollenden Staates ... . Ich behaupte, meine Satirevideos zeichnen trotz aller Unvollkommenheit durch ein faktisch nicht vorhandenes Budget ein differenziertes Menschenbild. Und in Zeiten wie diesen sind kritische Konsumenten Inhalten aus dem Internet gegenüber aufgeschlossener als denen von Staatsfunk und Kommerz-TV. Daraus können Projekte wie `Wahlabsage´ gegenwärtig einen Vorteil ziehen.

Welche Reaktionen gab es bislang auf ihr Vorhaben und wie soll dieses am 26.01. konkret aussehen?

Hartmut Lühr: Zeitweilig hatten laut Youtube sowohl die Grünen als auch die LINKE aus Hessen unser Aktionsvideo verlinkt. Es gibt bereits lebhafte Debatten zu unserem Projekt in politischen Internetforen. Das Thema zieht. Erfahrungsgemäß erfahren derartige Projekte unmittelbar vor konkreten Aktionen am meisten Resonanz. Das Kunsthaus Tacheles selbst gilt in staatsferneren Kreisen als authentischer Veranstaltungsort. In dessen Projektraum wird ab 20 Uhr die Aktionsreihe `Wahlabsage´ vorgestellt mit kurzer Videovorführung und anschließender Podiumsdiskussion. Seine Teilnahme zugesagt hat bereits Florian Felix Weyh. Der Publizist sorgte kürzlich mit dem durchaus ernstzunehmenden Vorschlag aus seinem aktuellen Buch Die letzte Wahl', die Abgeordnetenmandate unter der Bevölkerung auslosen zu lassen, für Irritationen in Fachkreisen. Zusätzlich gingen Einladungen an die Bundeszentrale für politische Bildung, sowie an Lobbywatch heraus. Viel hängt außerdem wie immer davon ab, ob im Publikum Leute mit interessanten Fragen und Ideen sitzen.