"Negatives Eigenkapital"

Die Immobilienkrise in Großbritannien verschärft sich weiter. Möglicherweise wird sie auch für die ärmeren und mittleren Bevölkerungsschichten katastrophale Folgen haben

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Im September trieben verängstigte Sparer die britische Bank Northern Rock in die Zahlungsunfähigkeit. Die Finanzkrise hatte damit offensichtlich auch Europa erreicht. Am Donnerstag vergangener Woche ereilte es nun das nächste Finanzinstitut. Unter anderem wegen schlechter Nachrichten vom Weihnachtsgeschäft wollten immer mehr Anleger ihre Anteile an dem britischen Immobilienfonds Scottish Equitable verkaufen. Als das Finanzinstitut nicht mehr genügend Geld für seine laufenden Geschäfte zur Verfügung hatte, verfügte es einen Stopp für Abbuchungen "ab Mittwoch Mitternacht".

Der Guardian sprach von "Panikverkäufen". Ein Pressesprecher sagte, es könne bis zu einem Jahr dauern, bis die Kunden ihre Anteile loswerden dürfen. In einer Pressemitteilung heißt es:

Die Abbuchungen haben ein Maß erreicht, das uns zwingt, Immobilien zu verkaufen, um ausreichend Bargeld für die gewünschten Auszahlungen zur Verfügung zu haben.

Scottish Equitable ist einer der größten Immobilienfonds in Großbritannien und verwaltet vor allem Einkaufszentren, Büro- und Geschäftsräume. Ungefähr 129.000 Briten haben ihr Geld in dem Fonds angelegt. meist Kleinanleger als Ergänzung oder Alternative zur Rente. Sie fürchten nun um ihre Ersparnisse, ebenso wie die Anleger anderer britischer Immobilienfonds.

Ein wirklicher Zusammenbruch der Immobilienpreise in Großbritannien würde sehr weite Kreise ziehen und Massen in Armut stürzen. Denn anders als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern wohnt die Mehrheit der Bevölkerung dort nicht zur Miete. In der "Demokratie der Immobilienbesitzer" (Margaret Thatcher) leben 70 Prozent der Haushalte in den eigenen vier Wänden. Die Wertschätzung fürs Eigenheim verbindet arm und reich, Schotten, Engländer und Waliser. In keinem anderen europäischen Land beruht die finanzielle Absicherung so sehr auf Hausbesitz und Eigentumswohnungen. Wer sich das nicht leisten konnte, investierte in Immobilienfonds wie Scottish Equitable, die in den letzten Jahren einerseits attraktive Dividenden ausschütteten, andererseits als vergleichsweise krisenfest galten: "So sicher wie ein Haus", sagen die Briten, wenn sie das meinen, was die Deutschen mit "bombensicher" ausdrücken.

Laut Financial Times ist der britische Immobilienmarktes "der wichtigste Europas". Zu der traditionellen Wertschätzung kam die Marktentwicklung der vergangenen Jahre. Seit 1996 wuchsen die Hauspreise im Landesdurchschnitt um 227 Prozent auf 200.000 britische Pfund (etwa 267 000 Euro). Zum Vergleich: die Löhne stiegen im selben Zeitraum nur um 18 Prozent. In besonders attraktiven Wohngegenden, besonders in der Finanzmetropole London, hatte sich der nominelle Wert mancher Häuser in den letzten fünf Jahren sogar verdoppelt.

Deshalb wurde das Gerangel um die sogenannte property ladder, die "Immobilienleiter", in den letzten Jahren immer rabiater und zu einem wesentlichen Bestandteil des Lebens- und Arbeitsstils auf der Insel. Die "Immobilienleiter" diente dem angestrebten sozialen Aufstieg, der durch Qualifikationen und gut entlohnte Arbeitsstellen so niemals möglich gewesen wäre, schon gar nicht in derart kurzer Zeit.

Das ging so: Mit einer Hypothek von der Bank wurde ein Haus gekauft, die ersten Raten abbezahlt und dann oft mit diesem "theoretischen" Besitztitel ein weiterer Kredit erworben. Diese Praxis der Refinanzierung - bekannt als remortgage - diente entweder dazu, die Zinszahlung zu vermindern oder auch schlicht zum alltäglichen Konsum. Ohne den expandierenden Immobilienmarkt hätten sich viele Briten ihren Lebensstandard nicht leisten können. Aus der Immobilienobsession entwickelte sich gar eine eigene Sprache, mit Ausdrücken wie Property Porn (für Fernsehsendungen mit Tipps für die Renovierung: "See me, feel me, renovate me!") oder Martini Loan (ein Kredit, den es wie den Drink zu jeder Tageszeit gibt).

Dass wegen ihr die private Verschuldung neue Rekordhöhen erreichte, störte nicht weiter, zumindest solange die Preise stiegen. Allerdings mehrten sich im letzten Jahr bange Spekulationen, wie lange die Entwicklung wohl noch gut gehen könne. Der Internationale Währungsfond schätze die Überbewertung des Immobilienmarktes im September 2007 "auf 40 Prozent". Die Finanzblase beruhte vor allem auf zwei Voraussetzungen: auf günstigen Krediten und steigenden Preisen.

Das alles führte nicht zuletzt zu einer Polarisierung innerhalb der Bevölkerung. Immer weniger können sich ein eigenes Haus leisten. 2001 kauften 40 Prozent der Einwohner unter 30 Jahre ein Haus mit einer Hypothek, 33 Prozent waren Mieter. Sechs Jahre später, im Jahr 2007, hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Nun lebte die Mehrheit zur Miete (43 Prozent) und die Minderheit zahlte Raten an die Banken (34 Prozent). Verschärft wird diese Situation dadurch, dass auch immer weniger Sozialwohnungen verfügbar sind. Deren Zahl sinkt seit den späten 1970er Jahren (von 5,5 Millionen auf nur noch 3,7 Millionen).

Sind die fetten Jahre vorbei?

Nun beginnt, ausgehend von der Kreditkrise in den USA, die Abwärtsbewegung. Laut der Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS), einem Dachverband der britischen Immobilienhändler, stiegen die Verkaufsanweisungen im Dezember den sechsten Monat in Folge. Immer mehr Hausbesitzer wollen dem Preisverfall zuvorkommen und werfen ihre Ware auf den Markt.

Statt mit lautem Knall zu platzen, leert sich die Immobilienblase in Großbritannien nun mit einem leisen gemeinen Zischen. Schon gibt es umfangreiche Beratungsforen im Netz für Hausbesitzer, und während manche versuchen, nicht den Humor zu verlieren, verdienen andere an den Zwangsräumungen: Immobilienhändler wie Property Rescue kaufen von überschuldeten Briten Häuser günstig auf und vermieten sie dann an diese. So verwandeln sich ehemalige Hausbesitzer (zurück) in Mieter, können aber wenigstens in den gewohnten Räumlichkeiten weiterleben.

Vor 17 Jahren brach der britische Immobilienmarkt schon einmal zusammen. Die aktuelle Entwicklung weckt nun ungute Erinnerungen an die Jahre 1989 und 1990. So kommt auch ein Begriff, der damals geprägt wurde, wieder in Gebrauch: negative equity, "negatives Eigenkapital", was bedeutet, das die Hypothek auf das Haus den Marktwert übersteigt. Nach unterschiedlichen Schätzungen ging es zwischen 1989 und 1995 eine bis anderthalb Millionen Haushalten in Großbritannien so.

Denn auch damals hatten die Briten massenhaft auf steigende Hauspreise gewettet. Sie verschafften auch Durchschnittsverdienern die Möglichkeit, mit verhältnismäßig geringem Einsatz große Profite zu machen (die natürlich dennoch hinter denen von Banken und Maklern weit zurückblieben). In Wirklichkeit handelte es sich bei diesen Transaktionen um eine "Fremdkapitalaufnahme": Die Käufer zahlten beispielsweise 10.000 Euro an und erhielten dafür einen Kredit von 100.000 Euro von der Bank, womit sie die Immobilie erwarben. Wenn sie diese dann für nur 110.000 Euro wieder veräußern, hat sich ihre tatsächliche Investition verdoppelt. Bei fallenden Preisen allerdings tritt der gegenteilige Effekt ein. Dann ist nicht nur die ursprüngliche Investition verloren, sondern auch die Differenz zwischen ursprünglichem und aktuellem Marktpreis.

Wird es nun ähnlich schlimm werden wie in den Jahren nach 1990? Und warum sind eigentlich weder Finanziers noch die breite Bevölkerung lernfähig? Im augenblicklichen Abschwung gewinnt in Großbritannien die Erklärung des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky an Beliebtheit.

Der Keynesianer Minsky glaubte, dass "Stabilität nicht stabil" sei, denn je länger Abwertungen ausbleiben, desto größer wird die Risikobereitschaft der Investoren. Er unterschied dabei drei Arten von Investoren: die "Abgesicherten" können sowohl Zinsen als auch die Raten aus ihren laufenden Einkünfte begleichen. Die "Spekulativen" können immerhin noch die Zinsen bedienen, wenn auch nicht ihre Schulden abtragen. Die dritte Sorte nennt Minsky "Ponzi-Investoren", nach dem berüchtigten Geschäftsmann Charles Ponzi, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA mit einem Schneeballsystem Millionen veruntreute. Sie können weder Zins noch Raten bezahlen, sondern setzen ausschließlich auf steigende Preise. Je länger Zusammenbrüche ausbleiben, argumentiert nun Minky, um so mehr bestimmen "Ponzi-Investoren" das Marktgeschehen.

Ob diese These stimmt? Immerhin haben sie den britischen Immobilienmarkt der vergangenen Jahre geprägt. Damit aber ist es auf absehbare Zeit vorbei.