Die Menschen haben sich zurückgezogen

Die russische Journalistin und Regimekritikerin Natalia Novoshilova über Ausländerfeindlichkeit und die Lage im Land Putins

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In Vladimir hat die russische Journalistin und Regimekritikerin Natalia Novoshilova viele politische Feinde, denn sie steht mit ihren Artikeln für Pressefreiheit ein und kämpft gegen den sich ausbreitenden Rassenhass, Nationalismus und Faschismus von Skinheads und rechtsradikalen Parteien in Russland. Natalia Novoshilova erhielt für ihre engagierte journalistische Arbeit in der Stadt Vladimir 2007 einen der sechs Gerd Bucerius-Förderpreise freie Presse Osteuropas in Oslo. Im Gespräch mit Claudia Hangen spricht Natalia Novoshilova über die Bedeutung Anna Politkovskayas für die Pressefreiheit in Russland, über gesellschaftliche Missstände und was sich seit Beginn der Präsidentschaft Putins verändert hat.

Was bedeutet die Arbeit von Anna Politkovskaja für Sie und den Journalismus in Russland? Wofür steht Anna Politkowskaya?

Natalia Novoshilova: Die Motivation meiner Artikel hing nie von der Arbeit Anna Politkovskayas ab, weder als sie lebte noch nach ihrem Tod. Ich schrieb immer über Themen, die mir mein Gewissen zu Themen machte. Man nennt mich hier auch „Politkovskaya aus Vladimir“ – das habe ich von meinen Kollegen gehört. Nur, ich bin gegen so einen Vergleich, weil Politkovskaya eine Journalistin von anderer Größe war, und, ohne zu übertreiben, sie war heilig. Ich bin nur ein Arbeitspferd.

Ich kannte Anna Politkovskaya persönlich nicht. Nach Annas Tod fühlte ich in mir Wut. Ich möchte auf Putin zukommen und ihm eine Ohrfeige verpassen. Für Anna. Für unser Volk, das er in die Knie gezwungen hat. Für die Armut unserer Älteren. Für die gestohlene Zukunft unserer Jungen. Nur während des Putin-Regimes ist es möglich geworden, einen Journalisten umzubringen. Die Täter werden nie gefasst. Sie werden der Gerechtigkeit entkommen. Und das bedeutet, dass es neue Opfer geben wird.

Wie ist heute die Sicht der russischen Medien und Gesellschaft hinsichtlich des Schicksals und Todes der mutigen Journalistin? Wird Ihre kritische Arbeit heute in Russland gewürdigt?

Natalia Novoshilova: Es gibt in Russland nicht wenig Menschen, die die Arbeit von Anna Politkovskaya nicht kennen. Aber woher konnten sie sie kennen? Novaja Gaseta, in der sie gearbeitet hat, erreicht nicht jede russische Stadt (und in den Dörfern gibt es überhaupt keine Zeitungen, Fernsehen auch nicht überall), und falls Novaja Gaseta da erscheint, gibt es von einer Auflage nur ein Paar Stück.

Ein Jahr nach dem Tod von Politkovskaya, am 7. Oktober, lud ich Journalisten und einfache Bürger mit einer Kerze auf dem zentralen Platz zum Schweigeprotest ein, als Zeichen von Trauer und des Andenkens. Nur rund zwanzig Leute kamen! Und vom regionalen Verband der Journalisten erschien keiner. Ich schlug dem russischen Journalistenverband danach in einem Brief vor, den 7. Oktober zum Gedenktag für alle gestorbenen Journalisten zu erklären. Ich bekam keine Antwort.

Seit Anfang der 1990er Jahre schreiben Sie engagiert über Themen wie Nationalismus, rechtsradikale Parteien, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Ausländer? Warum sind diese Themen seit dem Untergang der UDSSR so wichtig geworden? Inwiefern stellen diese Themen heute eine Bedrohung für die russische Gesellschaft dar und wie erklären Sie sich das?

Natalia Novoshilova: Xenophobie gibt es mehr oder weniger in jeder Gesellschaft. Nur in einer zivilisierten Gesellschaft wird es als unanständig eingestuft, Missgunst gegenüber Menschen einer anderen Rasse zu äußern. Und gegen diese Menschen vorzugehen, ist verboten.

Als die „unzerstörbare Union der freien Republiken“ 1991 auseinander gefallen war, kam das an die Oberfläche, was früher unter Verschluss gehalten wurde. Darunter war auch eine Theorie über die angeblich vorsätzliche Vernichtung der Russen durch Juden mittels der kommunistischen Regime. Deswegen waren die ersten postkommunistischen Faschisten Antisemiten. Sie verbreiteten ihre Ideen sehr aktiv und bekamen viele Anhänger. Dann der Krieg in Tschetschenien, er verursachte den Hass gegenüber den Menschen aus dem Kaukasus, und danach gegenüber allen Menschen, die nicht „weiß“ waren.

Ich bin in der Unannehmbarkeit der Xenophobie aufgewachsen. Es tut mir leid, wenn ich sehe, wie die meisten Menschen meines Landes, das viele Millionen Menschen während des Krieges gegen die deutschen Faschisten verloren hat, von Tag zu Tag einen Hass gegenüber allen „Nicht-Russen“ entwickeln. Ich schreibe dieses Wort in Anführungszeichen, weil es keinen reinen Russen gibt – das ist ein multinationales Land, wo alle Nationalitäten sich in der Geschichte vermischt haben. Und wenn wir sagen „russisch“, bedeutet dies, dass dieser Mensch in Russland lebt und Russisch spricht.

Der Geist, der ein Mal aus der Flasche rausgelassen wurde, lässt sich nicht mehr beherrschen. Und so marschieren Tausende radikaler Nationalisten auf russischen Straßen. Und in meiner Stadt Vladimir auch. Jeden Tag erhalte ich Statistiken über schwere Körperverletzungen und Morde an Ausländern oder an einfachen Menschen, die sich äußerlich von typischen Einwohnern unterscheiden. Bei den letzten Wahlen in das russische Parlament waren rassistische Themen besonders angesagt. Das Russland von heute ist faschistisch. Was kann noch gefährlicher sein?

Russische Nationalisten bereiten sich zum Kampf vor

Wie geht die Öffentlichkeit mit diesen Themen um?

Natalia Novoshilova: Mit einer seltener Ausnahme – gleichgültig. Meine Landsleute haben wegen so vieler Geschehnisse das Solidaritätsgefühl verloren. Fast jeden Tag sehen wir im Fernsehen, wie Busse und Züge in die Luft gejagt werden, Flugzeuge ab- und Wohnhäuser einstürzen, Altersheime brennen und viele Menschen sterben. Aber es gibt deswegen keinen Aufstand. Das wird kaum in privaten Gesprächen diskutiert. Die Menschen haben sich in ihren kleinen Muscheln versteckt und wollen nicht gestört werden. Deswegen widersprechen sie den Machthabern nicht, wenn sie von ihnen hören, dass das Land endlich Stabilität erreicht hat. „In die Luft jagen, töten. Aber nicht mich persönlich! Ich bin doch ein Russe, mir werden sie nichts antun.“

Welche Risiken nehmen Sie auf sich, wenn Sie über rechtsradikale Parteien schreiben,

Natalia Novoshilova: Ich denke nicht an Risiko. Was passieren soll, soll passieren. Ich will, dass nicht wir vor Rassisten Angst haben, sondern sie vor uns. Sie sind doch alle feige. Sie überfallen einen in einer Gruppe und mit Waffen. In der Vergangenheit wurde ich auch bedroht und belästigt. Und es gab auch zahlreiche Anklagen. Und sogar Strafverfahren, weil ich angeblich mit meinen antifaschistischen Artikeln nationalistischen Hass hervorrufe. Die regionale, pro-faschistische Organisation teilte mit, dass ich „der Feind der russischen Nation bin“. In der letzte Zeit häufigen sich schmutzige Beleidigungen.

Es kommt mir so vor, dass Nationalisten heute so frech geworden sind und sie so viel Handlungsfreiheit haben, dass man den Journalisten kaum Aufmerksamkeit schenkt. Sie fühlen sich mehr von Antifaschisten gestört, die sich auch körperlich wehren. In den letzten Jahren sind viele Antifaschisten aus Jugendorganisationen ums Leben gekommen. Russische Nationalisten bereiten sich zum Kampf vor. Sie bewaffnen sich, trainieren, sammeln Kräfte. Ihre Zeit ist gekommen.

Welche Auswirkungen hat Ihre Arbeit auf Ihre Familie und Ihr Umfeld?

Natalia Novoshilova: Journalistin bin ich in der Jelzin-Zeit geworden. Damals bestand absolute Presse- und Meinungsfreiheit, und ich hatte viel Spaß bei meiner Arbeit in der Zeitung. Ich schrieb damals rund 25 Artikel im Monat. Und fast jeder war ein Ereignis in unserer Region. Ich schrieb nachts mit einem Kugelschreiber. Es gab keine Schreibmaschine, geschweige denn einen Rechner. Damals waren schwere Zeiten im Land – Gehälter und Renten wurden verspätet und manchmal nur in Naturalien ausbezahlt. Denn womit sollte man damals den Journalisten bezahlen? Mit alten Zeitungsausgaben? Es gab Zeiten, in denen ich auf mein Gehalt 9 Monate warten musste. Aber es war die glücklichste Zeit meines Lebens!

Warum bin ich für die Freiheit? Vielleicht, weil ich auf meine menschliche Würde stolz bin und andere respektiere. Und es tut mir um viele unserer Menschen leid. Warum müssen sie in solch einem reichen Land in Armut leben? Und ich versuche, in ihnen Selbstbewusstsein und das Bedürfnis nach Freiheit zu erwecken. Vielleicht werden sie erkennen, dass es ohne Freiheit keinen Wohlstand geben kann. Nur bis jetzt haben es wenige verstanden.

Meine Familie – das bin ich allein. Mein Sohn ist schon 35 Jahre alt, wir wohnen getrennt. Meine Eltern, Gott sei Dank, sind am Leben und sind schon 80 Jahre alt. Wir sind alle in Vladimir. Unsere politische Ansichten sind unterschiedlich: Mein Vater ist überzeugter Kommunist, meine Mutter ist für Putin und für seine Partei „Einiges Russland“, mein Sohn gibt sich eher politisch desinteressiert. Nur mein Bruder, der in St. Petersburg lebt, teilt meine Ansichten und Prinzipien komplett.

Meine Einstellungen als Journalistin beeinflussen schon das Leben meiner Verwandten. Mein Sohn versuchte ein eigenes Geschäft aufzubauen, die Machthaber haben ihm aber klar gemacht, dass er mit „so einer Mutter“ nie ein Büro mieten kann. Der Vater ist Professor an der Vladimirer Universität. Und Lehrer sowie Dezenten an den russischen Bildungseinrichtungen sind fast alle konservativ. Wie oft musste mein armer Vater unangenehme, antikommunistische Worte seiner Kollegen über meine Artikel anhören. Und wegen meiner antifaschistischen Publikationen hat ihn der Rektor, ein Antisemit, mit den Worten gekündigt: “Sie haben ihre Tochter schlecht erzogen!“. Von diesem Stress bekam mein Vater einen Herzinfarkt. (Danach wurde festgestellt, dass der Rektor ein großer Betrüger war, und er wurde seines Amtes enthoben). Da meine politischen Ansichten von meinen Verwandten nicht geteilt werden, ist diese Situation sehr tragisch für mich. Aber ich muss mich damit abfinden.

Die Menschen leben seit acht Jahren in einem Informationsvakuum

Wie geht es den Journalisten generell in Russland?

Natalia Novoshilova: Die Arbeitsbedingungen sind, wie sie schlechter nicht sein können. Aber nicht nur bei mir, bei allen Journalisten, die es versuchen, den professionellen Pflichten – die Wahrheit zu sagen - nachzukommen. Nicht alle meine Artikel werden von meinem Redakteur zum Druck freigegeben. Er will keine Konflikte mit der Macht und mit der Mafia. Und so handeln heute alle Redakteure. Aus diesem Grund haben viele meiner Kollegen diesen Job aufgegeben. Sie arbeiten jetzt ruhig in Pressestellen der Unternehmen sowie in staatlichen und städtischen Einrichtungen. Dort bekommen sie für leichte Arbeit gutes Geld. Diese ehemaligen Journalisten sagen dazu, dass sie es so schaffen, die Zeiten der nicht vorhandenen Freiheit gut zu überstehen, ähnlich wie die Bären die Winterzeit in Höhlen verbringen. Ich glaube dem aber nicht. Geht man einmal den Weg des Konformismus, schafft man es nicht mehr, diesen Weg zu verlassen.

Ich bin gewohnt, zwischen den Zeilen zu schreiben. Aber immer öfter und öfter klappt es nicht. Und es tut mir leid, nicht, dass aus politischen Gründen meine Artikel, in die ich viel Arbeit gesteckt habe, in den Müllkorb landen, sondern, dass Bürger keine objektive Information erhalten. Die Menschen leben seit den letzten acht Jahren in einem Informationsvakuum. Die staatliche Propaganda funktioniert heute wie eine Gehirnwäsche, so wie es in der Sowjetunion üblich war. Jeden Tag redet man immer das gleiche über das Blühen des Landes und dass es nur einem Mensch zu verdanken ist – dem Präsidenten. So glauben viele dieses Märchen, besonders ältere Menschen.

Tag für Tag wird es schwieriger, den Menschen eine andere Meinung als die des Kremls zu vermitteln. Mein Redakteur hat mir untersagt, den Namen von Putin und seine regierende Partei „Einiges Russland“ negativ zu erwähnen, sogar darauf hinzudeuten. Bis jetzt darf man den Gouverneur kritisieren, weil der Redakteur mit ihm noch eine offene Rechnung zu begleichen hat. Aber es ist verboten, den Bürgermeister und andere Beamter zu kritisieren.

Kritik von Beamten ist nach dem kürzlich verabschiedenden Gesetz dem Terrorismus gleich gestellt! Jeden Tag erfährt man, dass irgendwo im Land gegen einen Journalisten ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Die Schlinge um den Hals der freien Presse wird immer enger und enger. In meiner Laufbahn musste ich öfter meine Artikel auf Zettel drucken und auf der Straße an Passanten verteilen. So war es, als ich gegen die Abschaffung der Wahlen des Gouverneurs protestiert habe. Oder als ich gegen einen Faschisten protestiert habe, der ins Parlament gewählt werden wollte. In letzter Zeit sind solche Aktionen fast unmöglich. Dafür kann man hinter Gitter landen. Ich befürchte, dass es nicht mehr lange hin sein wird, dass ich meine Flugblätter nachts auf Wände und Mauern kleben muss. D.h. ich werde in meinem eigenen Land zu einer illegalen Partisanin!

Gerichte, Polizei, Staatsanwaltschaft – alle sind Diener der Macht. Es ist unanständig geworden, das Wort „Gesetz“ auszusprechen. Das Land wurde in die schwarzen Zeiten des Lügens, der Gesetzlosigkeit und der Angst geführt. Und das nennt man bei uns „Die Stabilität“. Dafür hat das amerikanische Magazin „Times“ Putin zum Mann des Jahres gekrönt. Man möchte fragen: Arbeiten in diesem Magazin die Journalisten oder die Agenten des Kremls?

Die Kluft zwischen Reichen und Armen wird immer größer

Können Sie Ihre Artikel in allen Zeitungen drucken lassen?

Natalia Novoshilova: Ob meine Artikel in allen Zeitungen gedruckt werden können? Nein und nein. Zu Jelzins Zeiten wurden meine Artikel gerne nicht nur in regionalen Zeitungen, sondern auch in der Hauptstadt gedruckt. Nicht ich brachte den Redakteuren meine Artikel, sondern sie riefen mich an, baten mich, für sie zu schreiben. Heute in der Zeitung, bei der ich angestellt bin, bekomme ich mit großer Mühe für mich eine Seite pro Woche. Und dafür bekomme ich ein Honorar von 10-14 Euro.

Die Redakteure anderer Zeitungen aus Vladimir respektieren mich immer noch, sagen aber mit Bedauern: „Gehe ich das Risiko ein und stelle deinen Artikel in meine Zeitung, wird meine Zeitung höchstwahrscheinlich platt gemacht und ich verlieren die Lizenz.“

Tatsächlich kann man jedes Medium platt machen. Beispielsweise kann die Macht die freie Wirtschaft dazu zwingen, keine Werbeanzeigen in dem Medium zu schalten. Oder man eröffnet ein Strafverfahren wegen „Verleumdung“ und wird mit einer hohen Geldstrafe bestraft, die für eine Zeitung Insolvenz bedeutet. Oder man tötet einfach den Chefredakteur (solche Fälle gab es in unserem Land). Deswegen drucken die Moskauer Zeitungen sehr ungern Artikel der Journalisten aus der Provinz, besonders nicht von oppositionellen Journalisten. Deswegen kann ich mich in Russland an keinen wenden. Eine Sackgasse.

Was bedeutet die Verleihung des Gerd Bucerius Förderpreises Freie Presse Osteuropas für Sie und Ihre Arbeit? Mit welchem Gefühl haben Sie den Preis in Oslo entgegengenommen?

Natalia Novoshilova: Die Verleihung der Auszeichnung war für mich eine große Überraschung. Bisher wurden mir rund fünfzehn Auszeichnungen für meine journalistische Arbeit verliehen, darunter die erste Auszeichnung der “Foreign Correspondents Association” für die beste Reportage über Russland und die in meinem Land sehr angesehene Artem Borovik-Auszeichnung für „Ehre, Mut und Meisterarbeit“. Doch war es für mich schwer zu glauben, dass nach der Entscheidung der respektvollen Jury, ich die einzige Journalistin aus Osteuropa war, die die Auszeichnung „Freie Presse“ verliehen bekommen hat. Warum? Ich kann mir nämlich vorstellen, dass viele meiner russischen Kollegen in russischen Regionen besser, mutiger und effektiver als ich arbeiten.

Auf der feierlichen Zeremonie in Oslo dachte ich: Das ist die Auszeichnung nicht nur für meine vorherigen Verdienste für die Gesellschaft, sondern auch ein Vorschuss für die Zukunft. Meine Arbeit wurde auf ein hohes Niveau gestellt, und ich muss dieses Niveau auch halten. Das ist die moralische Komponente der Auszeichnung. Nicht weniger wichtig ist, dass diese Auszeichnung auch eine finanzielle Komponente hat. Hier sollte man vermerken, dass die norwegische Stiftung sowie die Gerd Bucerius Stiftung Jahr für Jahr die Pressevertreter aus den Regionen und nicht aus der Hauptstadt auszeichnen. Ich denke, dass die Führung der Stiftungen versteht, dass den Journalisten aus kleinen Städten das Arbeiten wesentlich schwerer fällt und der Verdienst wesentlich geringer ist. Besonders schwer ist das Leben von denen, die der Macht trotzen.

Die Auszeichnung hat eine Auflage, nämlich dass man das Geld nur für die Finanzierung der eigenen Arbeit verwenden soll. Ich sage Ihnen, dass die 10.000 Euro für mich die Rettung waren. Ich konnte mir eine gute Digitalkamera, einen neuen zuverlässigen Rechner (den alten habe ich 1996 als Geschenk bekommen, nachdem ich 3 Jahre für meinen ehemaligen Chef geschuftet habe), Drucker, Scanner und viele andere für den Journalistenjob notwendige Sachen kaufen. In der Redaktion habe ich weder ein eigenes Büro noch einen Schreibtisch oder einen Stuhl, geschweige denn irgendwelche technische Ausrüstung. Mein Arbeitsplatz ist mein Zuhause und ich muss alles selbst bezahlen.

Vielleicht werde ich Sie entmutigen, aber von dem Geld habe ich mir auch ein Bett gekauft – das erste Bett während meiner fast 50 Jahre! Und jetzt habe ich keine Rückenschmerzen mehr. Das fördert auch die Produktivität. Nicht wahr? Den Rest des Geldes gebe ich momentan für Lebensmittel aus. Das Leben in meinem Land wird mit unglaublicher Geschwindigkeit teurer und teurer, während mein Gehalt schon seit 7 Jahren nicht mehr erhöht wurde und auf dem Niveau von 120-130 Euro bleibt. Ich denke, hätte ich nicht die Auszeichnung „Freie Presse“ erhalten, hätte man die Auszeichnung in „Hungrige Presse“ umbenennen müssen. Übrigens, unsere Machthaber versichern, dass sich der Lebensstandard in Russland ständig erhöht. In Wirklichkeit geht gesellschaftlich die Schere immer weiter auf, wobei die Armen ärmer und die Reichen reicher werden.

Wie würden Sie jetzt, in diesem Moment Ihr Leben in Vladimir beschreiben?

Natalia Novoshilova: Ich kann in einem Satz meine heutige Situation so beschreiben: Es ist ein täglicher Kampf ums Überleben. Aber ich fühle mich schon glücklich. Außen – eingeschränkt. Innen – frei. Deswegen lächele ich fast immer.

Was ist Ihr sehnlichster Wunsch?

Natalia Novoshilova: Oh, was für eine angenehme Frage! Man sagt, damit ein Traum in Erfüllung geht, sollte man ihn äußern. Ich würde sehr gern eine Pause in meiner journalistischen Arbeit einlegen, mich vor der Welt verstecken, um ein Buch zu schreiben. Einen Roman für jüngere über das Schicksal eines Menschen, der in der Sowjetunion aufwuchs.

Warum dieses Thema? Zur Zeit erinnern sich viele Menschen an die alten Zeiten: Menschen wollen zurück in die Sowjetunion-Zeit. Sie erzählen ihren Kindern und Enkelkindern, wie schön es damals war. Das ist das Ergebnis des Gedächtnisverlustes eines ganzen Volkes. Und Schulen, die eigentlich das Wissen vermitteln sollen, bringen den Kindern nur eine Märchengeschichte bei. Ich bin mir sicher, dass es meine Lebensaufgabe wäre, so ein Buch zu schreiben. Und ich bin mir auch sicher, dass man beim Lesen eines spannenden Romans mehr behält als von einem Lehrbuch. Nur, um meinen Traum zu verwirklichen, fehlt mir das Geld. Wenn ich den Journalismus aufgeben sollte, wer wird mich dann ernähren?

Übersetzung aus dem Russischen: Alexei Ivanov