Staat im Rückzug

Geheimdienste warnen vor Kontrollverlust in urbanen Zentren. Wissenschaftler und Militärs entwickeln Strategien

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Wer das brasilianische São Paolo besucht, oder die südafrikanische Metropole Kapstadt, ist auf der Hut. Große Teile dieser Städte betreten selbst Ortskundige nicht mehr, wenn sie nicht müssen. Die "Favelas", "Barrios" oder "Townships" befinden sich in den Händen von kriminellen Banden, die das staatliche Gewaltmonopol beseitigt haben. Dass diese Entwicklungen auch im industrialisierten Norden aufmerksam beobachtet werden muss, glaubt Ernst Uhrlau, der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND). Auf einer Tagung seines Auslandsgeheimdienstes (Warnung vor Megastädten und gescheiterten Staaten)) warnte er im vergangenen November vor unkontrollierbaren "Megastädten".

Diese ausufernden Metropolen "bergen das Potential für zumindest regionale Instabilität", prognostizierte der BND-Chef. Einen Fürsprecher fand Uhrlau in Ulrich Schneckener von der regierungsnahen Stiftung für Wissenschaft und Politik. Auf der Berliner Geheimdiensttagung verwies er neben unkontrollierbaren Megastädten auf die so genannten "failed states", gescheiterte Staaten also, in denen sich neue Formen kriegerischer Auseinandersetzungen herausbildeten. Zu beobachten sei dort eine Mischung aus regulärem Krieg, organisiertem Verbrechen und systematischen Menschenrechtsverletzungen. Bislang sei auf diese beunruhigenden Phänomene keine Antwort gefunden worden. Die Erfahrung in Irak etwa habe gezeigt, dass auch der Rückgriff auf private Sicherheitskräfte unkontrollierbare Risiken bergen. Wachleute des US-amerikanischen Paramilitärunternehmens Blackwater hatten in Irak im vergangenen September 17 Zivilisten getötet (Persilschein für Blackwater?).

"No-Go-Areas" auch im Norden

Sei es in einer "gescheiterten Stadt" oder in einem "gescheiterten Staat" - die Phänomene gleichen sich. Durch den Rückzug der staatlichen Kompetenz auf die Machtzentren werden auf lokaler wie auf nationaler Ebene "Randgebiete" ihrem eigenen Schicksal überlassen. In Lateinamerika und Afrika ist diese Schwäche des Staates oft eine Folge des Kolonialismus: Die Regierungsmacht konnten dort nicht überall hinreichend ausgebildet werden, um die staatliche Ordnung auf das gesamte Territorium auszudehnen. Anders als etwa in Europa lag die Errichtung einer umfassenden Staatlichkeit auch nicht im Interesse der Eliten. Sie sicherten ihre Lebensräume und wirtschaftlichen Unternehmen ab und überließen den Rest "ihrer" Staaten sich selbst.

Im entwickelten Norden aber ist das Problem hausgemacht. Kurz vor der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland warf die Debatte (Straßenfeste statt Aufmärsche) um "No-Go-Areas" hierzulande ein Schlaglicht auf dieses Problem. Plötzlich rückte der Umstand in das mediale Interesse, dass sich Ausländer in bestimmten Gebieten der Republik nicht mehr sicher bewegen können. Auch dort hat der Staat sein Gewaltmonopol verloren. Dass besonders die Lage im Osten der Republik debattiert wurde, war kein Zufall. In den neuen Bundesländern fand nach 1989 die größte Deindustrialisierung in der Nachkriegsgeschichte statt. Der Staat hat in weiten Gebieten des Ostens sozial, wirtschaftlich, politisch und kulturell nichts mehr zu bieten. Gleich den kriminellen Banden in den "failed states" des globalen Südens stoßen in dieses selbst verursachte Vakuum in Ostdeutschland rechtsextreme Gruppen vor.

Ein anderes Beispiel findet sich in Frankreich. In den Vororten der dortigen Großstädte wagt sich kaum mehr ein Streifenpolizist. Auch aus den maßgeblich von Einwanderfamilien geprägten "Banlieus" hat sich der Staat schon lange aus seiner Verantwortung zurückgezogen. Interessant ist nun die Reaktion auf die Aufstände der perspektivlosen Immigrantenjugend: Als 2005 tausende Heranwachsende Autos anzündeten (Frankreich und der Ausnahmezustand) und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, gingen die Sicherheitskräfte mit Spezialeinheiten gegen die Randalierer vor: Auf die Krise wurde quasi militärisch reagiert. Das scheint sich womöhlich jetzt zu ändern (Neue Dynamik für die Problemviertel)

Der Rückzug der staatlichen Ordnung ist in Europa auch auf supernationaler Ebene zu beobachten. Nach dem unter anderem von Deutschland forcierten Zerfall Jugoslawiens sind bis heute weite Teile des einstigen Staatenbundes de facto ohne hoheitliche Kontrolle. Krassestes Beispiel ist die südserbische Provinz Kosovo, die sich - selbst unter Ägide der UNO - zu einem Umschlagplatz für Menschen-, Drogen und Waffenhandel in Europa entwickelt hat. Die aktuelle Debatte um eine fortgeführte militärische Besetzung der Provinz verdeutlicht ein Phänomen, das im Kleinen vor zwei Jahren auch in den französischen Vororten zu beobachten war: Auf die permanente Krise wird nicht mit nachhaltigen Lösungen reagiert, sondern nach dem militärischen Hit-and-Run-Prinzip.

Von den Zentren der staatlichen Ordnung aus werden kurzfristige Missionen in die Peripherie unternommen, um den dort ausufernden Problemen Herr zu werden. Einen solchen Einsatz absolvierte die brasilianische Armee, als sie im vergangenen Jahr die in die Favelas von Rio de Janeiro und São Paolo einrückte, um sich über mehrere Wochen einen offenen Krieg mit den dortigen Drogenbanden zu liefern. In Kolumbien rücken militärische Stoßtrupps aus, um Guerillaeinheiten von Erdölanlagen zurückzudrängen. Und in Frankreich schließlich rücken Sondereinheiten der Polizei in die Banlieus vor, um sich dann wieder zurückzuziehen.

Die Rolle der "embedded scientists"

Diese neue Politik der Machtzentren wird nicht nur von Militärs und Geheimdiensten flankiert, sondern auch von der Wissenschaft. Mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde vor einem Jahr ein so genannter Sonderforschungsbereich zum Thema "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Neue Formen des Regierens" aufgebaut. Der SFB 700 ist die bundesweit größte Einrichtung auf diesem Gebiet. Beteiligt sind mehr als 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Freien Universität Berlin, der Universität Potsdam, des Wissenschaftszentrums Berlin, der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Hertie School of Governance sowie des European University Institute Florenz. Für das auf zwölf Jahre angelegte und staatliche unterstütze Projekt wurden 6,5 Millionen Euro bewilligt. Neben Ulrich Schneckener, der auch an der Berliner Tagung mit dem BND teilnahm, wird das Vorhaben von dem Berliner Politologen Christoph Zürcher geleitet.

Aus der Nähe zwischen wissenschaftlichem und außenpolitischem Interesse wird bei den Verantwortlichen kein Hehl gemacht. Eines der ersten Forschungsprojekte befasste sich mit der Frage, ob "externe Akteure zur Entstehung eines lebensfähigen afghanischen Staates beitragen" können. Mit der Frage ist auch die Berliner Republik befasst, schließlich sind am Hindukusch bis zu 3500 Bundeswehrsoldaten stationiert. Der "SFB 700" arbeite daher konsequenterweise mit der Bundesregierung zusammen, sagt Zürcher, "weil wir an denselben Fragen interessiert sind". In Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wurde eine breit angelegte Befragung der Bevölkerung in Afghanistan zu den Infrastrukturprogrammen der Besatzungstruppen durchgeführt. Die Kooperation sei für beide Seiten fruchtbar, sagte der Forschungsleiter im Febraur 2007 zu Beginn des Projektes:

Dank der Unterstützung des BMZ können wir trotz schwieriger Bedingungen unsere Feldforschung durchführen und erhalten Zugang zu wichtigen Daten. Auf der anderen Seite ist das BMZ an unseren Ergebnissen interessiert.

Christoph Zürcher, Leiter des "SFB 700"

Spannend ist, wie diese "embedded science" den (vom Westen erklärten) "failed states" ihre staatliche Souveränität aberkennt. Gescheiterte Staaten, in denen "externe Akteure" - etwa in Form von militärischer Besatzung - dauerhaft präsent sind, hätten mit dem klassischen souveränen Nationalstaat nicht mehr viel gemein, sagt Zürcher:

Solche Staaten können kein legitimes Gewaltmonopol aufrechterhalten und ihre Bürger nicht mehr vor inneren und äußeren Bedrohungen schützen, sie können politische Ziele nicht mehr durchsetzen und sie sind nicht mehr in der Lage, den Menschen ein gewisses Maß an materieller Grundversorgung, Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und sozialer Sicherung zu garantieren.

Christoph Zürcher, Leiter des "SFB 700"

Auch wenn der "Sonderforschungsbereich 700" erst am Anfang seiner Arbeit steht, ist eine Gefahr nicht von der Hand zu weisen. Es ist die Gefahr, dass wissenschaftliche Akteure in Zusammenarbeit mit Staat und Militär die legitimatorische Grundlage für eine neue militärische Außenpolitik legen. Anders als das klassische Konzept der nachholenden Entwicklung zielt diese nicht mehr auf den Anschluss der Märkte der Schwellen- und Entwicklungsstaaten an den industrialisierten Norden ab. Sie versucht lediglich, die Stabilität in den Peripherien so weit zu garantieren, dass sie in die globalen Märkte eingebunden bleiben können, also wirtschaftliche Interessen eingebunden werden können.

Und da ist auch wieder die Parallele zu der Debatte um Mega-Cities und regionale "No-Go-Areas": Solange algerischstämmige Jugendliche sich in französischen Vororten gegenseitig bekriegen oder Neonazis in Ostdeutschland Jagd auf Ausländer machen, wird dies außer medialer Entrüstung kaum Konsequenzen haben. Der Staat reagiert erst, wenn wirtschaftliche Interessen beeinträchtigt sind. Wenn also Autos brennen, oder wenn das Milliardengeschäft während einer Fußballweltmeisterschaft bedroht ist. --