Festverdrahteter Sinn für Zahlen

Die Fähigkeit zum Abstrahieren und Differenzieren ist stärker angeboren als bisher vermutet

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Mit welchen Kernintuitionen wir zur Welt kommen ist eines der Hauptinteressen von Kognitionswissenschaftlern. Es müssen bereits vorgeburtlich neuronale Einheiten im Gehirn angelegt sein, damit wir mentale Repräsentationen von Personen, Objekten, räumlichen Beziehungen und Zahlen herstellen können. In einer französisch-amerikanischen Zusammenarbeit wurde nun der Frage nach dem rudimentären Sinn für Objektmengen bei Säuglingen nachgegangen. Die in PLoS Biology veröffentlichten Ergebnisse der Wissenschaftskooperation zeigen einmal mehr, dass wir keineswegs unbeschriebene Blätter sind, wenn wir zur Welt kommen.

Das Forscherehepaar Dehaene (Mathematikprofessor und Neurowissenschaftler) und Dehaene-Lambertz (Kinderärztin und Neurowissenschaftlerin) sowie Véronique Izard, entwarfen eine Versuchsanordnung für Probanden, die noch nicht sprechen können. Bei den Tests waren sie rein auf optische Reize und die Aufmerksamkeit von durchschnittlich 103 Tage alten Babys angewiesen, was methodisch nicht ganz unproblematisch ist. Dies dürfte auch erklären, weshalb nur rund ein Drittel der insgesamt 196 getesteten Säuglinge in die Auswertung aufgenommen werden konnte. Die Mehrzahl der Babys war einfach zu unruhig. Und bei zu großer Unruhe greift das Habituierungsparadigma nicht, bei dem das Blickverhalten der Säuglinge als Maßstab dient - nach dem Motto „alles Neue fesselt die Aufmerksamkeit“.

Die auf dem Schoß ihrer Bezugsperson sitzenden Babys wurden am Kopf mit Elektroden versehen und sollten auf einen dicht vor ihnen aufgebauten Bildschirm blicken. Dort bekamen sie tierähnliche Gestalten auf schwarzem Hintergrund präsentiert. Diese waren nicht animiert und gaben auch keine Geräusche von sich. Die Wissenschaftler beschränkten sich auf zwei Variablen - die Objektidentität, (Farbe/Form) und die variierende Mengenanzahl. Jedes Baby bekam acht Blöcke mit 16 verschiedenen Sequenzen präsentiert. Dabei bestand immer nur eine Sequenz aus dem Teststimulus, beispielsweise aus roten Tieren. Um die Aufmerksamkeit des Babys zu maximieren, wurden die Objekte in jedem Block variiert.

Zudem wurden drei Testgruppen hinsichtlich des Mengenunterschieds gebildet: die Gruppe des „kleinen Unterschieds“ (zwei vs. drei Objekte), die Gruppe des „großen Unterschieds“ (vier vs. acht Objekte) und die Gruppe „sehr großer Unterschied“ (vier vs. zwölf Objekte). Im Übrigen ergab sich während der visuellen Verarbeitung im Gehirn kein signifikanter Unterschied bezüglich des Grades der Mengendifferenz. Diese Testanordnung war von der Ethik-Kommission für biomedizinische Forschung genehmigt worden. Neben der Säuglings-Experimentalgruppe wurden zwei Kontrollgruppen bestehend aus Vierjährigen und Erwachsenen in gleicher Weise getestet.

Entgegen der bisherigen Annahmen, erst das Gehirn viereinhalb bis sechsmonatiger Babys habe spezifische Regionen ausgebildet, die für das Erkennen von Objekten oder das Wahrnehmen von Mengenunterschieden zuständig sind, konnte mittels Auswertung der gemessenen Hirnströme nachgewiesen werden, dass bereits bei dreimonatigen Säuglingen solch eine Arbeitsteilung im Gehirn stattfindet. Der für die Objektidentifikation zuständige reizempfindliche Bereich wird in den vorderen Nervenbahnen (ventral) lokalisiert. Die hinteren Nervenbahnen (dorsal) sind für das Erkennen von Nummernveränderungen zuständig. Sobald der optische Sinn entwickelt ist, werden allein durch präferentielles Anstarren unbewusst Gedächtnisspuren für Mengen- und Objektkonzepte gelegt.

Dies läuft in denselben Bereichen ab, wie bei älteren Kindern und Erwachsenen. Nur lange nicht so schnell und noch ohne jegliche Reflexion. Die Gehirnentwicklung eines durchschnittlich entwickelten Säuglings nimmt so etwas vorweg, das erst durch Lernen verstanden und bewusst gemacht werden kann.

Phylogenetisch gesehen scheint es eine vorteilhafte Einrichtung, mit einem Zahlensinn in eine Welt voller beweglicher Objekte hineingeboren zu werden. Wie sich diese Kernintuition im Entwicklungsverlauf durch Erfahrungen und Lernen zur echten Kompetenz entwickelt, bleibt jedoch von der Wechselwirkung mit der jeweiligen Umwelt abhängig.