Überlastete Schüler und Politiker auf Entrümpelungstour

Niedersachsens wiedergewählter Ministerpräsident Christian Wulff will ein "menschlicheres" Gymnasium. Eine grundlegende Schul- und Bildungsreform lehnt die CDU allerdings weiterhin ab

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zuhauf beschwerten sich Eltern, Schüler und Lehrer bei der niedersächsischen Landesregierung: Seit der Verkürzung der Abiturientenschulzeit auf 12 Jahre seien vor allem die Fünft- und Sechstklässler mit einem so strammen Arbeitspensum belegt worden, dass Freizeitaktivitäten auf der Strecke blieben. Nach der Wiederwahl zeigt sich Landesvater Christian Wulff nun von seiner milden Seite. „Die organisatorischen Reformen sind abgeschlossen, jetzt geht es um die pädagogischen“, erklärte der Ministerpräsident Anfang der Woche den Redakteuren der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung.

Ende dieses Monats will er seine Vorstellungen in einer Regierungserklärung präzisieren, denn Ideen habe er „da so einige“. Wer seine Neugier bis dahin nicht zügeln kann, erfährt aus dem Vorabbericht schon einmal, wohin sich Niedersachsens Gymnasien entwickeln sollen. „Neue Lernformen“ möchte Wulff den Schülern nahebringen, und zählt dazu „projektbezogenen Unterricht“. Außerdem soll die Klassenstärke reduziert und mehr Förderunterricht erteilt werden. Zu guter Letzt will der Ministerpräsident die viel zitierte Integration bereits in der Schule beginnen lassen, erklärte er anlässlich einer Stippvisite im Hamburger Wahlkampf. Ausländische Kinder sollen die gleichen Bildungschancen haben und deshalb so früh wie möglich mit der deutschen Sprache vertraut gemacht werden.

Parteifreund Roland Koch träumte vor nicht allzu langer Zeit noch von pädagogisch wertvollen Aufenthalten in Sibirien und einheimischen Erziehungscamps, doch mit dieser Strategie ist die CDU bekanntlich nicht sonderlich gut gefahren. Wulff setzt nun also auf den grundsätzlich mehrheitsfähigen Vorschlag, Schulen zu Stätten der Begegnung zu machen und insbesondere die Gymnasiasten vor übermäßigem Stress und Leistungsdruck zu bewahren.

Wenn es nach dem neuen Hoffnungsträger und seinem Kultusminister Bernd Busemann (CDU) geht, kann die Kultusministerkonferenz sogar die Grenze von 265 Jahreswochenstunden, die bis zum Abitur vorgeschrieben sind, senken. Bei acht Jahren Gymnasium hätten die Schüler ansonsten 33 Stunden Unterricht zu absolvieren, rechnen die Unionspolitiker vor. Die G8-Reform, die Kinder in 12 Jahren zum Abitur bringen und der Wirtschaft schneller die High Potentials zur Verfügung stellen soll, kann in der Realität also ohne weiteres zu einer 50-Stunden-Woche für Schülerinnen und Schüler führen.

Doch wenn die Zahl der Jahreswochenstunden deutlich reduziert werden soll, muss gestrichen werden. „Entrümpelung“ nennt Busemann das, weiß allerdings nicht so recht, wo denn der nicht mehr allgemeinbildende Sperrmüll abgeholt werden könnte. „Sollen wir Algebra im Mathematikunterricht streichen und in Geschichte den ersten Weltkrieg weglassen?“ fragte der Kultusminister vor Wochenfrist. Keine schlechte Idee, denn Geschichtskenntnisse sind bekanntlich relativ und selektiv und laufen überdies Gefahr, den Raum der Realhistorie unversehens zu verlassen.

In unmittelbarer Nähe des Busemannschen Einflussbereichs kursieren weitere interessante Vorschläge. Vielleicht, so eine Idee aus Nordrhein-Westfalen, könnten die Schulbuchverlage in Zukunft markieren, welche Themen im Unterricht behandelt werden sollen und welche dem engen Zeitplan geopfert werden müssen. In einem Punkt sind sich fast alle Diskussionsteilnehmer mittlerweile einig: Es wäre durchaus sinnvoll gewesen, diese Fragen vor der Umstellung zu klären!

Ein Brandbrief an die KMK – „G 8 wird beendet“

Noch vor Christian Wulff setzte ein anderer Prominenter das Thema ganz oben auf die Tagesordnung. TV-Moderator Reinhold Beckmann schaltete sich in einer bekannten deutschen Tageszeitung in die aktuelle Schuldebatte ein. Die Kinder, meinte der frisch gebackene Träger des Bundesverdienstkreuzes, würden „in diesem Schulsystem bloß auf Verwertbarkeit fürs Berufsleben gezüchtet“.

Dahinter steckt eine ungeheuer schlampig gemachte Schulreform. (...) Der immense Schulstoff wird im Unterricht bloß durchgehechelt. Da wird nicht mehr Wissen mit Lebenserfahrung verknüpft, wie es pädagogisch sinnvoll wäre. Fürs Wiederholen und Vertiefen fehlt die Zeit. Die Leidtragenden sind die Kinder. Die kommen täglich völlig k. o. aus der Schule.

Reinhold Beckmann

Wo Beckmann Recht hat, hat selbst Beckmann Recht. Kein Wunder also, dass in den 15 Bundesländern, in denen „G8“ auf den Weg gebracht wurde oder schon erste Konsequenzen zeitigt, mit Vehemenz gegen die ungeliebte Reform protestiert wird. Politiker, die darin keinen Anlass sehen, sich programmatisch einzurichten, sind selber schuld.

Hamburgs bald zur Wahl stehender Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hat die Zeichen der Zeit jedenfalls ebenso deutlich erkannt wie sein niedersächsischer Amtskollege. Die Freie und Hansestadt habe sich mit dem Saarland schon vor einem Jahr vergeblich für eine Verringerung der Jahreswochenstunden eingesetzt, ließ von Beust mitteilen. Er werde nun höchstpersönlich „einen Brandbrief“ an die Kultusministerkonferenz schreiben.

Die SPD hat den Stimmungswandel offenbar schon vorausgeahnt. Im Programm der erfolgreichen hessischen Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti hieß es kurz und knapp:

Die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit in der Mittelstufe wird aufgehoben, G 8 wird beendet.

Entwurf des SPD-Regierungsprogramms für die Wahlperiode 2008-2013 des Hessischen Landtags

Menschliche Gymnasien oder gemeinsame Schulen?

Ob die Kultusministerkonferenz in den letzten Jahren überhaupt besetzt war und dort irgendjemand die Umstellung von 13 auf 12 Schuljahre beschließen konnte, wird sich unter diesen Umständen wohl nicht mehr eindeutig klären lassen. Vereinzelte Belege existieren freilich noch.

Insgesamt ist das Berufseintrittsalter der jungen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu hoch. Deshalb wird die neue saarländische Landesregierung auch an dieser Stelle ein deutliches Signal setzen. Wir wollen als erstes der alten Bundesländer das Gymnasium im Saarland flächendeckend achtjährig ausgestalten.

Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) in seiner Regierungserklärung am 27.10.1999

Die Unionspolitiker haben allerdings längst Besseres zu tun und überbieten sich mit Vorschlägen, wie die Jahrhundertreform schnellstmöglich wieder kassiert werden kann. Doch mit einer Absenkung der Unterrichtsbelastung an Gymnasien wird das Grundproblem kaum zu lösen sein. Die Herstellung von Chancengerechtigkeit kann nicht an der Spitze des Schulsystems beginnen, weil die Kinder aus unterprivilegierten, finanzschwachen und bildungsfernen Familien hier nur in Ausnahmefällen ankommen. Das Deutsche Studentenwerk hat vor wenigen Tagen noch einmal nachdrücklich auf die „soziale Polarisierung“ von Bildungschancen hingewiesen.

Die soziale Herkunft, insbesondere der Bildungsgrad der Eltern, entscheidet in Deutschland noch immer über den Bildungsweg und darüber, ob jemand studiert oder nicht. Kinder aus Beamtenfamilien, in denen mindestens ein Elternteil studiert hat, haben eine fünfeinhalb Mal so hohe Studierchance wie Kinder aus Arbeiterfamilien. Im Jahr 2005 schafften 83 von 100 Akademiker-Kindern den Sprung an die Hochschule, aber nur 23 von 100 Kindern aus Familien ohne akademische Tradition. Im Jahr 2003 waren es auch 83 Akademiker-Kinder, die ein Studium aufnahmen, aber immerhin 26 Nicht-Akademikerkinder. Die soziale Selektivität des deutschen Hochschulsystems droht sich noch weiter zu verschärfen.

Deutsches Studentenwerk

Die Sozialdemokraten favorisieren vor diesem Hintergrund das Konzept einer "gemeinsamen Schule", die alle Kinder vom 5. bis zum 10. Jahrgang zusammen unterrichten und sie nicht vorzeitig auf verschiedene Schulformen verteilen will. Im Falle eines Wahlsieges in Niedersachsen hätte die Einführung allerdings freiwillig erfolgen sollen.

Wir wissen aber, dass noch viel Überzeugungsarbeit auf dem Weg zur „Gemeinsamen Schule“ nötig ist. Diese Überzeugungsarbeit wollen wir leisten. Wir werden deshalb diese neue Schule nicht „von oben“ verordnen. Eine so grundlegende Umwandlung der Schullandschaft ist nur in Übereinstimmung mit Eltern, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern und Kommunen möglich. „Gemeinsame Schulen“ werden überall da entstehen, wo Eltern in ausreichender Zahl dies wünschen. Dann muss der Schulträger dem Elternwillen Rechnung tragen.

Regierungsprogramm der SPD Niedersachsen 2008-2013

Muster ohne Wert und die Gefahr des Kommunismus

Nun haben Wahlprogramme nicht unbedingt etwas mit praktischer Politik zu tun – selbst wenn sie Regierungsprogramme genannt werden. Ob die SPD ihre Vorstellungen, die auch eine deutliche Verbesserung des Ganztagsschulangebots vorsehen, hätten durchsetzen können, bleibt vorerst dahin gestellt. Bis dato bieten bundesweit erst 2000 Schulen einen verlässlichen Ganztagsunterricht für alle Schüler an – um mehr Lehrer und Betriebspersonal zu beschäftigen und die Infrastruktur deutlich zu verbessern, wären Investitionen von vielen Milliarden Euro nötig, die auch findige Sozialdemokraten nicht einfach herbeizaubern können.

Überdies regt sich gegen die Pläne erbitterter Widerstand. Der Philologenverband Niedersachsen wehrt sich gegen die „von den Bildungsideologen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen massiv betriebene Einführung einer Zwangs-Einheitsschule“, und die Schüler Union Deutschlands sieht sich durch die unbefriedigende Gesamtsituation sogar veranlasst, ein wenig Klassenkampf zu spielen.

Gerade auch aufgrund der hohen Schulabbrecherzahl und der Gefahr durch die sozialistische Idee der Einheitsschule muss das Thema schnell behandelt werden. Derzeit führen die schwachen Ganztagsschulen mit ihrer hohen Belastung für die Schüler nur den Kommunisten in unserem Land in die Hände.

Schüler Union Deutschlands

Aber vielleicht gibt es mittelfristig doch konsensfähige Zwischenlösungen. Die Landesvorsitzende des niedersächsischen Verbandes Bildung und Erziehung, Gitta Franke-Zöllmer, hält es für einen Skandal, dass der historische Schulstrukturkompromiss des Deutschen Bildungsrates aus den 70er Jahren, der die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und damit die Chancengleichheit abgesichert hatte, „leichtsinnig aufgekündigt“ wurde.

Der VBE fordert deshalb eine Rückkehr zur 6jährigen Gymnasialen Mittelstufe, die wieder im Gegensatz zur heute üblichen „Abschulung“ den Wechsel zwischen den Schullaufbahnen und eine stressfreie Entwicklung während der Pubertät ermöglicht.

Gitta Franke-Zöllmer

Anschließend darf dann vielleicht gemeinsam darüber nachgedacht werden, ob es einem Schulsystem nicht möglich sein kann oder gar muss, leistungsstarke Schüler und Ausnahmebegabungen zu fördern und Kindern mit Lernschwierigkeiten oder Bildungsrückständen trotzdem und gleichzeitig eine realistische Chance zu geben, ihre Defizite aufzuholen. Dass ein dreigliedriges Schulsystem in seiner jetzigen verschlimmbesserten Form in der Lage ist, diese Aufgaben zu erfüllen, muss nach Lage der Dinge allerdings bezweifelt werden.