Politik der Angst

Von Realität und Mythos des hausgemachten und internationalen Terrorismus

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Laut einer Studie hat jeder Dritte in Europa, Indien und den USA Angst vor Terrorismus und Krieg. In Spanien ist es sogar jeder Zweite, in den USA nur jeder Vierte. Dabei überwiegt die Angst vor Terrorismus. In der aktuellen Ausgabe des Musikmagazins Rolling Stone werden Maßnahmen der US-Terrorabwehr und entsprechende Äußerungen der US-Regierung hinterfragt. Demnach ist der hausgemachte Terrorismus eine Illusion, eine sich selbst erfüllende und nährende Geisterjagd. Dieses Bild wird geschichtlich gestützt von dem Dokumentarfilm „The Power of Nightmares“ über den Aufstieg der Politik der Angst. Ist die angebliche Bedrohung des 21. Jahrhunderts durch „al-Qaida“ nur ein Mythos, erfunden von der US-Politik, weil es sich mit einem mächtigen Feind einfacher regieren lässt?

In den Bussen und U-Bahnen von Manhattan fordern Poster einen auf, Personen mit „verdächtigem Verhalten“ oder „unangemessener Bekleidung“ der Polizei oder dem Bahnpersonal zu melden. Die entsprechenden Durchsagen haben sich ins Gedächtnis der New Yorker eingebrannt. Hinweise wie diese sollen für Sicherheit sorgen.

Jährlich gibt die US-Bundespolizei FBI zwei Drittel ihres Jahresbudgets für den inländischen „Krieg gegen den Terrorismus“ aus, insgesamt vier Milliarden Dollar. Dafür zuständig ist die Joint Terrorism Task Force (JTTF). Nach 9/11 war die Anzahl der regionalen Einheiten verdreifacht worden. 2.000 FBI-Beamte arbeiten in 102 solchen Einheiten. Hinzu kommen Mitarbeiter der lokalen Polizei, der Einwanderungsbehörde, des Finanzamts sowie verdeckte Agenten des Auslandsgeheimdienstes CIA. Das Paradigma lautet „lawfare“ und vereint Polizei- und Militärarbeit. Die JTTF ist praktisch ein Inlandsgeheimdienst mit Verhaftungsbefugnissen.

Die US-Regierung ist in den letzten Jahren immer mehr dazu übergegangen, von einem inneren Feind zu sprechen: „hausgemachter“ Terrorismus durch fanatisierte Personen im Inland. Dieser „rekrutiert, trainiert und handelt selbständig“, wie FBI-Direktor Robert Mueller vor zwei Jahren sagte, und sei damit „vielleicht sogar gefährlicher als al-Qaida.“ Doch die Terrorprävention laufe erfolgreich. Seit 9/11 seien 619 Personen mit „terroristischer Aktivität“ gestoppt worden, manchmal in letzter Minute.

Bloß ein Einzelfall ...

Eine dieser 619 Personen ist Derrick Shareef, in den USA geboren und zum Islam konvertiert. Laut Fox News hatte dessen Plan alles von einem „Weihnachtlichen Blutbad“ im Einkaufzentrum seiner Heimatstadt Rockford im US-Bundesstaat Illinois. Shareef war Ende 2006 bei einer inszenierten Waffenübergabe verhaftet und wegen versuchter Zerstörung eines Gebäudes und Benutzung einer Massenvernichtungswaffe angeklagt worden.

In der aktuellen Ausgabe des Rolling Stone Musikmagazins hinterfragt der Journalist Guy Lawson diese und weitere „Erfolge“ der Terrorbekämpfung. Demnach wollte Shareef großen Schaden anrichten, um Rache zu üben für das Unrecht, das den Muslimen seit 9/11 angetan worden sei. Als Attentäter sei er allerdings denkbar schlecht geeignet gewesen. Der 22-Jährige arbeitete in einer Videothek, hatte keine Wohnung, kein Auto und keine militärische Ausbildung. Eines Tages kam ein muslimischer Bruder mit Namen Jameel in die Videothek und bot ihm eine Unterkunft an. Was er nicht wusste: sein neuer Freund hieß eigentlich William Chrisman und war ein ehemaliger Crack-Dealer mit einer Vorstrafe für versuchten Raub. Dieser sei von der lokal zuständigen JTTF-Einheit mit 8.500 Dollar bezahlt worden, um Shareefs Phantasien zu eskalieren und ihn zu einer Straftat zu verleiten.

Bei Jameel eingezogen, drängte dieser Shareef kontinuierlich, seine Pläne voranzutreiben. „Wann sollen wir es machen?“, fragte Jameel. „Ich mag die Weihnachtszeit“, antwortete Shareef, „aber wir werden niemanden töten – nur etwas in die Luft jagen.“ Jameel schlug als Ziel das örtliche Einkaufszentrum vor. „Ich schwöre bei Allah, Alter, ich bin dabei“, sagte Shareef, „Ich bin bereit, für die Sache zu leben und zu sterben, Alter.“ Eines Tages sagte sein Gastgeber, ein Bekannter – in echt ein verdeckter Ermittler – könnte Waffen besorgen. Shareef sollte 100 Dollar für zwei Handgranaten auftreiben, doch soviel hatte er nicht. Jameel sagte, sein Bekannter würde die Granaten auch gegen Shareefs Lautsprecherboxen tauschen.

Am Tag vor der Übergabe nahmen die Beiden Videos auf, in denen sie ihren letzten Willen verlesen und ihre geplante Tat begründen. Wessen Idee das war, gibt das Protokoll von Shareefs Verhör nicht her. Beim fingierten Tausch von vier Handgranaten und einer Pistole gegen zwei Lautsprecherboxen griff die JTTF zu. Das FBI habe Shareef systematisch zum Verbrecher aufgebaut, schlussfolgert der Journalist Lawson. Vor Gericht sagte Shareef, er sei „zu Handlungen genötigt und in die Falle gelockt“ worden. Wegen des Videos konnte die Tatsache, dass ihm eine Falle gestellt worden war, nicht zur Verteidigung verwendet werden. Also gestand er den versuchten Einsatz einer Massenvernichtungswaffe.

... oder ein Muster?

Doch „Shareef ist nicht der einzige Fall, wo die JTTF fragwürdige Methoden angewendet hat“, schreibt Lawson. Die Musikzeitschrift liefert den Hintergrund zu Presseberichten, wie sie auch in Deutschland kursierten:

US-Sicherheitsbehörden haben drei Terrorverdächtige festgenommen, die nach Angaben der Behörden eine Flughafenpipeline in New York sprengen wollten. Die Treibstoff-Röhren führen mitten durch ein Wohngebiet. ... Vor einem Jahr wurden in den USA sieben Männer festgenommen, denen die Planung eines Anschlags auf den Sears Tower in Chicago vorgeworfen wird. ... Kurz darauf deckten die Behörden einen Plan auf, demzufolge ein Teil von Manhattan mithilfe von Anschlägen auf unter Wasser verlaufende Eisenbahntunnel überflutet werden sollte. Und im Mai wurde mit der Festnahme von sechs Männern ein Anschlag auf den Armeestützpunkt Fort Dix in New Jersey vereitelt.

Associated Press, 2. Juni 2007

Die Gruppe, die die Treibstoff-Röhren am Flughafen sprengen wollte, habe anfangs keine Mittel zur Planung gehabt. Diese habe sie erst von der JTTF erhalten, vermittelt über einen Informanten, einen verurteilten Drogendealer, der seine Strafe verringern wollte.

In der Verhandlung gegen die sieben Männer, die angeblich den Sears Tower und weitere Gebäude in Chicago angreifen wollten, kam heraus, dass der Plan im Rausch gemeinsam mit FBI-Informanten ersonnen worden war. Die Miete des Lagerhauses, das die JTTF öffentlichkeitswirksam gestürmt hatte, hatten die Männer unbewusst von FBI-Geldern bezahlt.

Der Plan, die Wall Street und einen „Teil von Manhattan“ zu fluten, wurde zum zweiten Jahrestag der U-Bahn-Anschläge von London bekannt gemacht. Der Verdächtige war jedoch drei Monate vorher bereits verhaftet worden, nachdem er sich im Internet seiner Pläne gebrüstet hatte. Der Plan war unrealistisch und es gab keine Verbindung zu einer Terrorzelle.

Die sechs Männer, die Berichten zufolge Fort Dix angreifen wollten, wurden permanent observiert und ihr vermeintlicher Waffenhändler war FBI-Informant. Von einer „Vereitlung“ eines Anschlags kann also keine Rede sein.

Von den 619 Personen, die die Regierung wegen „terroristischer Aktivität“ seit 2001 angeklagt hat, sind bis 2007 nur 62 für eine terroristische Straftat verurteilt worden. Lawson sieht bei der Arbeitsweise des FBI ein Muster: Viele Terrorverdächtige oder -zellen seien unter ständiger Kontrolle. Die JTTF könne jederzeit eingreifen und es bestehe keine Gefahr für Leib und Leben. Oftmals würden Kleinkriminelle als Spitzel eingesetzt. Die JTTF wolle einfach nur zeigen, dass Verdächtige zum Terrorismus veranlagt seien, auch wenn sie unfähig oder schlecht ausgerüstet seien, gemäß ihrer Veranlagung zu handeln. Hightech-Video- und Audiobeweise gepaart mit Terrorhysterie machten es effektiv unmöglich, sich bei der Verteidigung auf eine Falle zu berufen. Die Folge seien häufige Geständnisse, aber keine Prüfung des Handelns der Strafverfolgung.

Ständige Bedrohung

Die praktische Terrorabwehr ist eine Sache. Die Nutzung dieser realen und inszenierten Ereignisse durch die große Politik ist eine andere. Vizepräsident Richard Cheney läutete den ersten Volkstrauertag nach 9/11 mit den Worten ein, ein neuer Angriff von al-Qaida sei „fast sicher – vielleicht schon morgen“. Dahinter stand die politische Entscheidung, alle Warnungen öffentlich zu machen – auch die haltlosen. Zu dieser Zeit stand die Regierung in der Kritik, 9/11 nicht verhindert zu haben, obwohl sie es gekonnt hätte.

Zum Volkstrauertag 2003 wurde die Stufe der nationalen Bedrohung mit der Begründung erhöht, dass „al-Qaida weltweit in eine operationelle Phase eingetreten“ sei. Spezifische Hinweise dafür gab es nicht. Zur gleichen Zeit zeichnete sich ab, dass die baldige Selbstverwaltung des Irak illusorisch sein würde.

Am darauf folgenden Volkstrauertag sagte der damalige Justizminister John Ashcroft, al-Qaida sei zu „neunzig Prozent auf einen Angriff auf die Vereinigten Staaten vorbereitet“. Doch die Äußerung kam von einer Gruppe, die in Geheimdienstkreisen selbst nicht ernst genommen wurde. Präsident George Bush und Co. standen wegen des Abu-Ghraib-Folterskandals mit dem Rücken zur Wand. Andere Manipulationen sind in einem weiteren Artikel aufbereitet.

Historische Hintergründe schildert der dreiteilige BBC-Dokumentarfilm The Power of Nightmares. Demnach ist der internationale Terrorismus und das Terrornetzwerk al-Qaida in weiten Teilen eine Erfindung der neokonservativen Intellektuellen, die ihren Aufstieg in den 70er Jahren begonnen und in der jetzigen Bush-Regierung endgültig Fuß gefasst haben. Dasselbe Muster der Verdrehung und Übertreibung von Tatsachen geht bis in den Kalten Krieg zurück, als der Feind noch Sowjetunion hieß.

Die Masche der Neokonservativen

Der Aufstieg der Neokonservativen begann 1976. Getrieben von der Vision, dass es die Aufgabe der USA sei, das „Reich des Bösen“, die Sowjetunion, zu besiegen und Demokratie in der Welt zu verbreiten, torpedierten sie Präsident Richard Nixons Annäherungspolitik. Unter dem damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Stabschef Cheney wurde die Propagandagruppe Team B innerhalb der CIA eingerichtet, die die Gefahr durch die Sowjetunion systematisch zuspitzte.

Ohne Beweise wurde etwa behauptet, die Sowjets seien im Besitz von Waffensystemen, die sich einer Auffindung prinzipiell entzögen. Basierend auf diesen und anderen Behauptungen, von denen heute klar ist, dass sie frei erfunden waren, machte das Committee on the Present Danger dann Stimmung in der Öffentlichkeit. Die Neocons behaupteten auch, Terrororganisationen wie die PLO, RAF und IRA seien allesamt Teil einer sowjetischen Terrorismusstrategie. Innerhalb der CIA wusste man jedoch, dass dieses sowjetische Terrornetzwerk nicht existiert, da man es selber erfunden hatte.

Als die Sowjetunion 1989 unterging, feierten dieses nicht nur die Neokonservativen als ihren Erfolg. Auch die arabischen Afghanen um Aiman al-Zawahiri, die zur selben Zeit ihren Dschihad gegen die sowjetischen Besatzer begonnen hatten, als die CIA die Unterstützung des afghanischen Widerstands begann, fühlten sich als Sieger. Sowohl bei den Neocons als auch bei den Islamisten kehrte jedoch rasch Ernüchterung ein. Mit der Abwahl der Konservativen mussten sich die Neokonservativen in ihre Denkfabriken und die Wirtschaft zurückziehen. Und die Islamisten scheiterten, weil ihr Terror gegen die Zivilbevölkerung islamischer Länder nicht zu dem gewünschten Ziel führte, dass sich die Menschen gegen ihre korrupten Regierungen auflehnten.

Während sich die Neokonservativen in den 90ern auf Bill Clinton einschossen und weiter an der militärischen Vormachtstellung arbeiteten, kehrten Islamistenführer al-Zawahiri und sein Schüler Osama bin Laden an den einzigen Ort zurück, an dem sie noch geduldet waren, nach Afghanistan. Dort richteten sie 1998 ihre berühmte Pressekonferenz aus, auf der sie ihre „Internationale Islamische Front zum Dschihad gegen die Juden und die Kreuzritter“ und ihre nun internationale Terrorstrategie vorstellten.

Eine Terrororganisation mit Namen „al-Qaida“ gab es damals nicht. Zur Zeit des Afghanistankriegs der Sowjets war das der Name der Liste der Personen, deren Guerillaausbildung bin Laden bezahlte. Viele dieser Kämpfer waren am Dschihad gegen Juden und Amerikaner jedoch gar nicht interessiert, nur am Kampf gegen ihre eigene korrupte Regierung. Al-Zawahiris und bin Ladens Organisation war ein Sammelbecken desillusionierter Dschihadisten, das zur Demonstration seiner Größe Statisten bezahlte, die ihre eigenen Waffen mitbringen mussten.

Manhattan als Schlüssel zum Verständnis

Die Zerstörung des World Trade Center am 11. September 2001 brachte die Neokonservativen zurück an die Schaltstellen der Macht. Diese nutzten sie, um nach alter Manier einen realen, aber mit polizeilichen Mitteln kontrollierbaren Feind zum allmächtigen Kriegsgegner aufzubauen. Vor 9/11 war al-Qaida in einem Gerichtssaal in Manhattan zu einer terroristischen Organisation gemacht worden, um bin Laden als Kopf dieser für die Anschläge auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia 1998 verurteilen zu können. Tatsächlich gibt es keinen Hinweis darauf, dass bin Laden den Namen vor 2001 benutzt hat. Nach 9/11 war al-Qaida der neue Feind der „freien Welt“, ein heimtückisches und schier unfassbares Netzwerk des Bösen, das über 50 Jahre bekriegt werden muss, weil sonst der Koran das Abendland vereinnahmt.

Dabei verlief auch das Schlüsselereignis des neuen Kalten Krieges gegen den Terrorismus nach demselben Muster wie die heutige Terrorabwehr. Viele der angeblichen 9/11-Attentäter standen im Ausland wie in den USA unter Observation gleich mehrerer Geheimdienste. Die so genannte „Hamburger Zelle“ von Mohammed Atta wurde in Hamburg von BKA, Verfassungsschutz, CIA und israelischem Mossad überwacht. In Florida war der Mossad laut Presseberichten Attas Nachbar. Der US-Militärgeheimdienst DIA hatte Attas Gruppe spätestens im Frühjahr 2000 im Visier. Seit dieser Zeit wusste die CIA auch, dass die beiden Terrorverdächtigen und angeblichen 9/11-Attentäter Nawaf al-Hasmi und Chalid al-Midhar sich im Inland befanden. In San Diego wohnten sie bei einem FBI-Informanten.

Wenn heute jemand in der U-Bahn von Manhattan oder irgendwo sonst in Amerika eine „verdächtige“ Person sieht und die Polizei informiert, entsendet die zuständige Joint Terrorism Task Force des FBI eine Field Intelligence Group (FIG). Viele Informationen sind absichtlich irreführend, etwa wenn sich jemand an seinem Nachbarn rächen will, hat Journalist Lawson vom Rolling Stone erfahren. Ein Streifenpolizist, der seit Jahren „verdächtigen Vorkommnissen“ nachgeht, erinnert sich daran, dass vor drei Jahren die Polizei gerufen worden war, weil zwei bärtige, traditionell gekleidete Muslime in einem Linienbus einen Zähler klickten. “Wir haben uns gefragt“, berichtet der FIG-Cop, "Zählen die Passagiere? Zählen die Gebäude? Zählen die Autos?“ Nach drei Tagen hatten sie den Muslim mit dem Zähler gefunden. Er wurde von Polizei, FBI und Secret Service verhört und erzählte allen die gleiche Geschichte – dass er ein Gebet 50.000 Mal aufsagen musste. „Sendet das ihrer Gemeinde eine Botschaft?“

Den Dokumentarfilm „The Power of Nightmares: The Rise of the Politics of Fear“ kann man im Web schauen:

Teil 1: Baby it’s Cold Outside
Teil 2: The Phantom Victory
Teil 3: The Shadows in the Cave