Juden in muslimischen Ländern

Die größte jüdische Gemeinde im Nahen Osten gibt es im Iran

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Nach den antisemitischen Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad oder bei den Hasstiraden, die radikal-islamistische palästinensische Organisationen gegen Israel loslassen denkt kaum einer noch an die Möglichkeit, dass Juden in muslimischen Ländern in Frieden leben können. Heute sind es lange nicht mehr so viele Juden wie noch vor 50 oder 100 Jahren, aber es gibt immer noch hebräisches Leben und Kultur in muslimischen Ländern.

Im jüdischen Kasino von Tanger scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Gutgekleidete Damen und Herren, die meisten rauchend, sitzen an mit grünem Filz belegten Tischen und spielen Karten. Mehrere Kronleuchter geben dem großen Saal eine exklusive Atmosphäre. Wem nicht nach Kartenspiel zu Mute ist, sitzt an der Bar und lässt sich einen Aperitif oder einfach nur ein Bier servieren. Eine Abendgesellschaft im Club, wie sie vor 50 oder 60 Jahren noch zum guten Lebensstil gehörte. „Früher war es hier jeden Abend voll“, erzählt eine Dame im kurzärmligen, rosa Seidenkleid. „Heute sind es noch wenige Alte, die regelmäßig kommen.“ Man sei eben nur mehr eine kleine Gemeinschaft von etwa 150, erklärt die Dame und fügt betont „Hebräer“ hinzu. Als Jude will hier niemand bezeichnet werden, das habe einen negativen Beigeschmack.

In der marokkanischen Hafenstadt lebten einst bis zu 40.000 Hebräer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Unabhängigkeit Marokkos 1956 langsam, aber stetig abwanderten. Ein kleiner Teil, gemessen an den 265.000, die noch 1948 in Marokko gelebt haben. In Tanger boten sich keine gut bezahlten Jobs mehr und das vormals dominant westliche Ambiente der Stadt verschwand zusehends. Der überwiegende Teil der Auswanderer ging nach Kanada, in die USA oder nach Südamerika.

„Nur die Armen der Armen zog es nach Israel“, erinnert sich Rachel Pimienta, die ich nach dem Kasino im Restaurant Casa Espana treffe. Dazu gehörte auch die Familie des späteren israelischen Verteidigungsminister Amir Peretz. „Damals nannte man Israel noch Palästina“, fügt die 75-Jährige erklärend an, deren Nachname Pimienta (zu Deutsch „Pfeffer“) auf die spanische Inquisition am Ende des 15. Jahrhunderts zurückgeht. Unter den katholischen Königen, Isabella I. von Kastilien (1451-1504) und Ferdinand II. von Aragonien (1452-1516), wurde die jüdische Bevölkerung gezwungen, zum Christentum zu konvertieren. Um Verwechslungen mit katholischen Spaniern zu vermeiden, gab man Juden so unübliche wie prägnante Namen. Die Zwangskonvertierung, die mit Folterungen und Mord einhergingen, verursachte 1492 einen Massenexodus. Zwischen 200.000 bis 300.000 Juden verließen die iberische Halbinsel Richtung Nordafrika, aber auch bis in die Türkei oder Griechenland.

In Marokko genossen die Sepharden, wie die Flüchtlinge in Anlehnung an die hebräische Bezeichnung für die iberische Halbinsel genannt wurden, den Status der Dhimmi, der Schutzbefohlenen des Sultans. Man lebte unbehelligt in jüdischen Vierteln, den so genannten Mellahs, von denen diejenige in Fes lange Zeit die größte war. Noch heute zeugt der imposante und gut gepflegte jüdische Friedhof von einer großen Gemeinde. Diskriminierungen oder Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger hatten Seltenheitswert.

„Bis heute lebt es sich gut in Marokko“, bestätigt Rachel Pimienta. Anfeindungen oder Antisemitismus habe sie nie erfahren und Angst vor radikalen Islamisten, die erneut Anschläge wie 2003 in Casablanca gegen jüdische und spanische Einrichtungen begehen könnten, habe sie nicht. So etwas könne doch überall passieren. „Außerdem leben wir unter dem Schutz des marokkanischen Königs“, fügt die ehemalige Fahrschullehrerin an. Nach den Bombenattentaten in Casablanca hatte Mohammad VI. seine historische Pflicht bekräftigt, die Rechte der Juden seines Landes zu schützen. Verständlicherweise muss man sagen, denn jüdische Mitbürger arbeiten als Ratgeber des Königs, sind Minister, hohe Militärs, Mitglieder des Parlaments, Richter und Botschafter. In Casablanca lebt die größte jüdische Gemeinde mit mehr als 3.000 Mitgliedern, die 10 Schulen unterhalten. In ganz Marokko gibt es etwa 30 Synagogen.

Das nordafrikanische Königreich ist eine positive Ausnahme unter muslimischen Ländern, was die Integration und den staatlichen Schutz der jüdischen Bevölkerung betrifft. Im Nachbarland Algerien nahm die Regierung 1962 den Juden ihre ökonomischen Rechte, worauf 120.000 nach Frankreich emigrierten. Weitere Abwanderungen folgten im algerischen Bürgerkrieg, nachdem die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) 1994 Anschläge gegen Juden angekündigt. In Tunesien sind von den einst 40.000 tunesischen Juden nur mehr etwa 1.300 übrig. Trotz staatlicher Protektion ereigneten sich wiederholt gewalttätige Übergriffe von Muslimen, die ihren Zorn über die Politik Israels an den heimischen Juden ausließen.

In Syrien spielte der Nahost-Konflikt ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die Juden wurden in den 1960er und 1970er Jahren als politisches Risiko angesehen, deshalb überwacht und ständig kontrolliert. 1994 ließ der damalige Präsident Hafez Assad nur auf Druck der USA 1.200 Juden ausreisen, die in der Arabischen Republik nicht mehr leben wollten und konnten. Dabei ist auch die Geschichte Syriens seit Jahrhunderten mit jüdischer Kultur verbunden. Ende des 19. Jahrhunderts lebten dort rund 50.000 Juden, davon 10.000 in Aleppo. Heute sind in der im Norden Syriens gelegenen Stadt gerade noch 50 übrig. Im benachbarten Libanon wurde das jüdische Leben auch ein Opfer des politischen Konflikts mit Israel. Wo in den 1950er Jahren rund 7000 Juden wohnten, gibt es heute so gut wie keine mehr und die wenigen wollen nicht als Juden erkannt werden. Die Synagoge im Zentrum Beiruts rottet vor sich hin, niemand wagt sie zu restaurieren, geschweige denn wieder in Betrieb zu nehmen.

Das Zuhause der größten jüdischen Gemeinschaft (25.000) im Nahen Osten außerhalb Israels bleibt heute der Iran. Das würden wohl die wenigsten nach den antisemitischen Äußerungen von Präsident Mahmud Ahmadinedschad erwarten.

Seit 3.000 Jahren sind Juden im Iran ansässig. Heute unterhalten sie Synagogen, koschere Schlachtereien, Schulen und ein eigenes Krankenhaus in Teheran. Es ist eines von vier jüdischen Krankenhäusern weltweit und wird ausschließlich von der jüdischen Diaspora finanziert. Eine Besonderheit im Iran, wo lokale Hilfsorganisationen Probleme mit ausländischen Geldern haben, die sie in den Verdacht der Spionage bringen können. Patienten und Belegschaft des Hospitals sind überwiegend Muslime. Nur der Direktor, Ciamak Morsathegh, ist jüdischer Herkunft.

„Antisemitismus ist kein östliches Phänomen“, sagte er in einem Interview, „genauso wenig ein islamisches oder iranisches – Antisemitismus ist ein europäisches Phänomen.“ Selbst in den schlechtesten Tagen im Iran hätten die Juden nie so gelitten wie in Europa.