Eisblockade vor Amerika

20.000 Jahre lang blieben die Vorfahren der Amerikaner auf Beringia

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Wie eroberten sich die Menschen die Neue Welt? Über diese Frage diskutieren die Wissenschaftler seit Jahren heftig. Längst gilt nicht mehr als gesichert, dass alle Uramerikaner von Norden über die Beringstraße zuwanderten. Aber zumindest ein Teil der Einwanderer kam aus Sibirien und eine neue Studie zeigt, dass mehr Menschen von dort aus den Kontinent besiedelten, als bisher angenommen – und ihre direkten Vorfahren legten auf der Schwelle zu ihrer neuen Heimat eine sehr lange Pause von 20.000 Jahren ein.

Die Rekonstruktion eines frühen Amerikaners, des Kennewick Man, Bild: Jim Chatters und Thomas McClelland (in 3D online)

Lange gingen die Anthropologen davon aus, dass sibirische Jäger vor ungefähr 13.000 Jahren die damalige Landbrücke über die Beringstraße überquerten, um nach Amerika einzuwandern und dass alle Ureinwohner der Neuen Welt von dieser relativ kleinen Gruppe abstammen, deren Nachfahren zügig bis nach Südamerika vordrangen.

In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in der Nähe der Stadt Clovis in New Mexico geschickt bearbeitete Speerspitzen entdeckt, die sich mit einem Alter von mehr als 11.000 Jahren als Überreste der ältesten Besiedlungsspuren des Kontinents erwiesen. Es handelte sich um eine steinzeitliche Kultur von Jägern und Sammlern, die nach dem ersten Fundort Clovis-Kultur genannt wird.

Doch die südamerikanischen Forscher mischen in den letzten Jahrzehnten das gefestigte Bild gründlich auf. Sie entdeckten Hinweise darauf, dass es möglicherweise ältere Uramerikaner gab, die von Asien aus mit Booten den Küstenlinien entlang schippernd, schon vor den Sibiriern Amerika erreichten. Im chilenischen Monte Verde fanden die Archäologen Besiedlungsspuren, die älter als die Clovis-Kultur sein könnten und uralte Brasilianer ähneln verblüffend den australischen Aborigines. Auch andere, sehr alte südamerikanische Schädel weisen eher südasiatische Merkmale auf (vgl. Von Schädeln und Vorfahren).

Für weitere Verunsicherung sorgte Mitte der 90er Jahre der Fund des Skeletts des Kennewick Man, der vor 8.500 Jahren lebte, und um dessen wissenschaftliche Erforschung es einigen Streit gab (vgl. Ran an die Knochen). Seine Schädelform spricht dafür, dass er ein "Weißer" war – wie auch die Rekonstruktion seines Gesichts zeigt, dessen Züge an den Raumschiffkapitän Jean-Luc Picard aus der Fernsehserie Star Trek erinnern. Der Kennewick Man sieht aus wie ein Europäer – was die Fraktion der Wissenschaftler, die schon länger auf die große Ähnlichkeit der Clovis-Steinwerkzeuge mit jenen der Solutréen-Kultur hinweisen, als Beleg für ihre Hypothese von sehr frühen Zuwanderern aus Europa deuten. Er hat aber auch durchaus Ähnlichkeit mit den Ainu aus Japan.

Ein langer Fußmarsch durch Sibirien mit langer Rast

Jetzt legen Andrew Kitchen, Michael M. Miyamoto und Connie J. Mulligan von der University of Florida in Gainesville neue wissenschaftliche Belege für den Weg der Uramerikaner vor. In der frei zugänglichen Internetzeitschrift PLOS one veröffentlichen sie die Ergebnisse ihrer Forschung, die verdeutlichen, dass die ersten Amerikaner ihren weiten Weg aus Sibirien langsam, in mehreren Phasen und mit einer langen Rast an der Schwelle des Kontinents zurücklegten.

Die Forschergruppe analysierte und verglich das Erbgut (sowohl mitochondriale als auch nukleare DNS) von Native Americans mit verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen aus Asien. Diese Daten glichen sie zusätzlich mit den bereits vorliegenden Ergebnissen archäologischer, geologischer und paläo-ökologischen Untersuchungen ab.

Das Resultat ist verblüffend: Erstens war die Gruppe der Einwanderer viel größer als bisher angenommen, denn es waren nicht nur etwa hundert sibirische Jäger und Sammler, sondern zwischen 1.000 bis 5.000, die als erste über die Landbrücke im hohen Norden den Kontinent betraten und so die Ur-Eltern der „Indianer“ wurden. Und sie brachen zu ihrer langen Reise bereits vor circa 40.000 Jahren aus ihrer Heimat in Zentralasien auf. Vor ungefähr 35.000 Jahren kamen sie an der Beringstraße an, aber der Weg auf den amerikanischen Kontinent war noch versperrt, denn die damals existierende Landbrücke Beringia, die Amerika und Asien verband, war durch riesige Eismaßen auf amerikanischer Seite versperrt.

Also blieb den Migranten nichts anderes übrig, als eine lange Rast einzulegen. 20.000 Jahre lang lebten sie in dem Gebiet, bis das Ende der Eiszeit dafür sorgte, dass die Gletscher schmolzen und ihnen den Weg frei gaben. Sie betraten Amerika und hinter ihnen versank Beringia vor 10.000 Jahren unter den Wassermassen, die durch die gigantische Eisschmelze vom Land ins Meer strömten. Die Beringstraße entstand.

Die Karten verdeutlichten schematisch das Modell der drei Phasen der Besiedelung Amerikas durch Zuwanderer aus Asien, Grafik: University of Florida/PLOS

Eine der beteiligten Wissenschaftlerinnen, Connie Mulligan, erklärt:

Unser Modell präsentiert ein interessanteres und komplexeres Szenario als die Idee, dass die Menschen aus Asien auswanderten und in einem Rutsch in die Neue Welt eroberten. Diese Leute wussten nicht, dass sich in eine neue Welt aufbrachen. Sie bewegten sich aus Asien heraus und erreichten eine Landmasse, die durch den damals tiefer liegenden Meeresspiegel während des glazialen Maximums, das Wasser überragte – aber zwei riesige Gletscher blockierten den Durchgang zur Neuen Welt. So blieben sie für 20.000 Jahre an Ort und Stelle. Es war nicht das Paradies, aber sie überlebten. Als das nordamerikanische Eisschild zu schmelzen begann und sich ein Durchgang zur Neuen Welt öffnete, verließen sie Beringia, um zu einem besseren Ort weiter zu ziehen.

Beringia war zu dieser Zeit ein Lebensraum, der mit seinen Pflanzen und Tieren durchaus eine Population von bis zu 5.000 Menschen ernähren konnte. Der große Bevölkerungsanstieg erfolgte erst, als diese Vorfahren der Amerikaner den Kontinent erreicht hatten und ihn sehr schnell von Nord nach Süd eroberten. So weit die mit interdisziplinärem Ansatz gewonnene Theorie vom Drei-Phasen-Modell der Besiedelung, die sich substanziell auf das genetische Material stützt.

Team-Mitglied Michael Miyamoto erläutert, wie sich die Wissenschaftler die Urgruppe der Vorfahren vorstellen:

Das war das Rohmaterial, die originale genetische Quelle für alle Amerikaner Man kann sich diese Leute als abgeschiedene, und von den Gletschern blockierte Gruppe vorstellen. Sie hatten sich schon nach Westen bewegt und keinen Grund zurück zu gehen. Sie verharrten in dieser Warteposition und in den 20.000 Jahren durchliefen sie viele Generationen – die genetischen Unterschiede akkumulierten sich. Wenn wir uns die Arten und Häufigkeiten dieser Mutationen ansehen, bekommen wir eine Vorstellung davon, wann diese Mutationen entstanden und wie viele Leute als Träger dabei waren.

Die DNS-Analyse der heute lebenden Indigenen spricht also nicht für eine Besiedlung Amerikas in mehreren Wellen, bzw. aus verschiedenen Richtungen. Und russische Anthropologen haben vor einigen Jahren bereits entdeckt, dass Jäger und Sammler bereits vor mehr als 27.000 Jahren den Hohen Norden Ostsibiriens bevölkert haben (vgl. Es war einmal in Sibirien...). Vielleicht ein Teil der Auswanderer, die in der Steppe unweit des Polarkreises blieben, statt bis Beringia vorzustoßen. Oder ist ein Teil der frühen Amerikaner doch bereits über die Landbrücke auf den Kontinent vorgestoßen, bevor die Gletscher wieder zusammen wuchsen?

Die archäologischen Beweise für eine lang andauernde Besiedlung Beringias liegen unzugänglich auf dem Meeresboden in der Beringstraße, das hält das Forscherteam um Andrew Kitchen für den Grund, warum bislang keiner diese Möglichkeit erwogen hatte. Allerdings macht diese Tatsache es auch nahezu unmöglich, die Theorie mit lokalen archäologischen Fundstücken abzusichern. Noch sind viele Fragen offen – unter anderem auch die nach den frühen Amerikanern, die so sehr Südasiaten ähneln. Nur weitere Funde und Forschung können Gewissheit bringen.