Wittgenstein und Hitler?

Hinweis auf ein vergessenes Buch

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor zehn Jahren erschien in Deutschland das Buch eines australischen Autors, das sofort bei seinem Erscheinen zunächst von der Kritik nieder gewürgt und dann von den Kulturmedien totgeschwiegen wurde. Es handelt sich um das Buch „Der Jude aus Linz“, erschienen im Ullstein Verlag1.

Der Autor, Kimberley Cornish, im Hauptfach Physiker, hatte sich dabei in die Gefilde der Historiker gewagt, und war von der zuständigen Zunft in Deutschland und Österreich, aber auch anderswo, arg gerüffelt worden. Als ein Wirrkopf, eine Art von Däniken der Geschichtsschreibung, wurde er abgekanzelt. Und er vertrat in der Tat die recht abenteuerliche These, dass Hitler und Wittgenstein in der Jugendzeit miteinander bekannt – wenn nicht eng befreundet oder gar in einem homoerotischen Liebesverhältnis stehend – und nachher tief verfeindet waren. Und dass die Initialzündung für Hitlers Judenhass auf seinen Hass gegen Wittgenstein zurückzuführen sei. Heute, zehn Jahre später, kann man das Buch, möglicherweise etwas weniger verkrampft, erneut einer kritischen Würdigung unterziehen.

Der Diktator und der Denker

Hinten, in der letzten Reihe, im äußersten linken Winkel, der dann auf dem Foto, seitenverkehrt, als ganz oben, ganz weit rechts außen erscheint, kauert er, mit verschlafenem Gesichtsausdruck, Marke "Dumpfbacke", kurz geschoren, noch ohne die berühmte Stirnlocke, aber schon mit einem Schatten, den ihm die Kamera unter die Nasenlöcher zaubert, wie eine Vorahnung auf jene Fliege unter der Nase, die man als sein Markenzeichen kennt. Ein Kind, das einmal als größter Diktator des 20. Jahrhunderts in Deutschland Karriere machen wird.

In der Reihe vor ihm, drei Sitze weiter einwärts, im neumodischen Jankerl, dessen kurzer Rundkragen sich gegen die überdimensionalen Revers an den Firmungsanzügen der übrigen Schüler abhebt, sitzt ein anderes Kind. Fast genau altersgleich mit seinem Mitschüler, denn beide sind im Abstand weniger Tage im April 1889 geboren, wird dieser Junge einmal in England Karriere machen und dort als größter Philosoph des 20. Jahrhunderts gelten. Zwei epochale Österreich-Exporte also, die hier zusammengefügt sind auf einem gemeinsamen Schulfoto aus Linz.

Sind sich Adolf Hitler und Ludwig Wittgenstein begegnet? Hatten Sie Kontakt miteinander? Die Antwortet lautet offenbar: Ja, und ihre Begegnung war keineswegs oberflächlich - sie hatte für das Leben beider entscheidende Folgen. Dennoch blieb der Umstand, dass der Diktator und der Denker in ihrer Jugend miteinander bekannt waren, und sogar ein intimes Verhältnis hatten, fast 90 Jahre lang der Öffentlichkeit verborgen. Man fragt sich, wie das passieren konnte? Und wieso es ausgerechnet erst des Spürsinns eines australischen Physikers bedurfte, um der Jugendbeziehung dieser beiden Männer nachzugehen und die auf dem Foto Dargestellten richtig zu identifizieren? Schließlich gehören sowohl Hitler wie Wittgenstein zu den am stärksten durchleuchteten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Eine Beziehung der beiden zu übersehen gehört somit zu den größten Fehlleistungen der Historikerzunft.

Nun: der eine war natürlich noch nie übersehen worden. Zu deutlich haben sich Adolf Hitlers Gesichtszüge in das kollektive Gedächtnis der gesamten Menschheit eingebrannt. Schwieriger stand es um den anderen, um Ludwig Wittgenstein. Es war zwar lange schon allgemein bekannt gewesen, dass es diese knappe Zeitspanne gab, 1903 auf 1904, als beide Jugendliche die gleiche Schule besuchten, die Realschule in Linz. Aber da der eine ein Jahr zurücklag und der andere ein Jahr voraus war, da sie beide also durch zwei Schulklassen voneinander getrennt waren, nahm man an, es wäre zwischen ihnen zu keinem nennenswerten Kontakt gekommen.

Wer das fragliche Foto sah, vermutete darin ein Klassenfoto: eine Gruppe von 41 etwa gleichaltrigen Schülern. In der Mitte steht ein bärtiger, vermeintlicher "Klassenlehrer". Auf die Idee, dort nach Wittgenstein Ausschau zu halten, kam niemand. Kimberley Cornish, der australische Forscher, der bei Paul Feyerabend studiert hat, ging der Geschichte des Fotos unbefangen nach und stellte fest: Es stammte aus einer Broschüre über "Die Jugend des Führers" aus dem Jahr 1938. Es zeige den oberen rechten Ausschnitt eines Gruppenbildes, schreibt Cornish, und scheine demnach eine Fotografie nach Altersgruppen zu sein, aber kein Klassenfoto. Die Namen der Abgebildeten seien heute nicht mehr eruierbar, da der Diktator nach der Machtübernahme dafür sorgte, dass sämtliche Unterlagen seiner früheren Schule zerstört wurden.

Der Australier ließ jedenfalls das vorhandene Bild in Melbourne mithilfe spezieller, gesetzlich geschützter Software der Polizei vergrößern. Der kleine "Wittgenstein" wurde künstlich gealtert und anschließend mit seinem erwachsenen Ebenbild vermessen und verglichen. Resultat: der Abgebildete sei "höchst wahrscheinlich" identisch mit sich selbst. Diese Kategorie stellt den höchsten Grad an Gewissheit dar, den die Identification Division des Victoria Police Department anbieten kann, hieß es. (Vermutlich war der Bildband aus dem Suhrkamp Verlag, "Wittgenstein", herausgegeben 1983 von Michael Nedo und Michelle Ranchetti, in Melbourne noch unbekannt. Dort hätte man etwas weniger mühevoll den rein optischen Vergleich mit einem Familienfoto aus dem Jahr 1903 anstellen können. Der kleine Ludwig auf diesem und anderen Kindheitsbildern bestätigt freilich nur die positive Identifikation der Melbourner Kripo. Der kleine Junge auf dem Linzer Schulfoto ist tatsächlich Ludwig Wittgenstein.)

Das Bild kann frühestens im Herbst 1903 entstanden sein, denn der zukünftige Philosoph wurde erst nach dem Sommer in Linz eingeschult. Der spätere Diktator wurde zu Pfingsten 1904, eben fünfzehnjährig, gefirmt. Die Linzer Schule hatte er schon vorher verlassen müssen. Die Zeitspanne, in der beide, der spätere Politiker und der Philosoph, auf ein und dasselbe Foto kommen konnten, ist also denkbar eng, auf maximal etwa sechs Monate, vom Herbst 03 bis Frühjahr 04, begrenzt.

Die Suche nach Geneinsamkeiten

Ist es wirklich denkbar, dass zwei Vierzehnjährige durch einen so kurzen Kontakt miteinander auf einen bestimmten Kurs für ihre restliche Lebensbahn festgelegt werden konnten? (Der ursprüngliche Untertitel des Buches heißt "Wittgenstein, Hitler, and Their Secret Battle for the Mind", deutet also auf eine lebenslang fortgesetzte Zweikampfsituation.) Es ist denkbar, dass der gegenseitige Einfluss tatsächlich sehr stark war, vor allem dann, wenn man annimmt, (wie es Cornish offenbar tut), dass beide zuerst in der Schule Kontakt miteinander bekamen, und dass dieser Kontakt nachher noch anhielt. Tatsächlich verbrachte Wittgenstein weitere zwei Jahre in Linz -- er machte 1906 dort seine Matura an der gleichen Realschule, während sein ehemaliger Mitschüler Hitler im Sommer 1904 im benachbarten Steyr mit drei "Nicht genügend" in Stenographie, Deutsch und Mathematik den Sprung in die nächste Klasse wieder nicht schaffte und die Schule endgültig abbrach, um nur noch als Flaneur und Nichtstuer in Linz herumzulungern.

Er genoss (wie einer seiner damaligen Spezis, Kubizek, später anmerkte) ein müßiges Leben als Kritiker und Kunstmäzen in der Provinzhauptstadt, besuchte das Ortsmuseum, die Bücherei und versäumte selten eine Aufführung der Linzer Oper. Er kleidete sich makellos in weiße Hemden, elegante Schlipse mit Krawattennadeln, einen breitrandigen schwarzen Hut und maßgeschneiderte Tweedanzüge, die der Neid der Jünglinge in der Stadt waren. Im Winter zog er einen seidengefütterten schwarzen Mantel an. Für die Oper trug er schwarze Handschuhe aus Ziegenleder zur Schau, einen elfenbeinernen Spazierstock und einen Zylinder." So gekleidet habe er ausgesehen wie ein Student. "Da Linz keine Universität besaß, ahmten die jungen Menschen aller Schichten und Stände umso eifriger studentische Sitten nach.

Auch seine Sprache sei "sehr gewählt" gewesen, erklärte Kubizek:

Das heißt, dass er im Gegensatz zu seiner Umgebung hochdeutsch und nicht Dialekt sprach.

Nicht schlecht, für den Sohn einer armen Zöllnerswitwe! An welchen Vorbildern orientierte er sich dabei? Dem Sohn des Milliardärs Wittgenstein - die Wittgensteins gehörten um die Jahrhundertwende zu den reichsten Familien des Landes - wäre ein solcher Stil vermutlich eher angemessen gewesen. Cornish vermerkt, dass Wittgensteins Manierismen auch späterin England so ausgeprägt waren, dass man sie noch zehn Jahre nach seinem Tod an Menschen aus seiner Umgebung beobachten konnte. Wäre es nicht denkbar, dass der junge Wittgenstein eine ebensolche Wirkung auf einen jungen Provinzlackel gehabt haben könnte?

Zeit genug, einander zu begegnen, hatten sie jedenfalls. Denn nach dem Selbstmord des älteren Bruders Rudolf, 1904, gestatte Vater Wittgenstein dem glücklich davongekommenen jüngeren Sohn, "Lucki", der Schule fernzubleiben. Er solle "...sich ausfaulenzen, schlafen, essen, schwitzen, Theater gehen etc..."

Kimberley Cornish fragt, zu Recht, wie viele andere unter den gleichaltrigen Jugendlichen in Linz wohl einen solchen Lebensstil pflegen konnten? Aber auch: Wie viele andere Kids von 15, 16 Jahren konnten, wie diese Jungen es beide (!) vermochten, virtuos ganze Wagnerpartituren Note für Note genau aus dem Gedächtnis pfeifen (!)? Wie viele andere Fünfzehnjährige Siezten (!) habituell ihre Mitschüler, wie diese beiden es taten? Und wie viele andere beschäftigten sich mit Fragen nach dem "Sinn der Geschichte" und offenbarten einander, dass sie die "Natur des menschlichen Bewusstseins" erkannt hätten und Schopenhauer läsen? In Linz: sicher nicht viele.

Homoerotische Erfahrungen?

Und weiter: Beide, der spätere Philosoph und der spätere Diktator, blieben zeitlebens für die Bizarrerie ihres Verhaltens bekannt, für ihre absolute Unfähigkeit zu normalen, unverklemmten Kontakten mit anderen Menschen. Der Philosoph besaß zwei homosexuelle Brüder, die Selbstmord begingen; er selbst war homosexuell und drängte spätere Liebhaber mehr als einmal in Situationen hinein (beispielsweise zur Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg), die zu deren Tod führten.

Cornish greift hier wohl etwas zu kurz, wenn er die Frage nach der Sexualität des Diktators nur en passant streift. War Hitler homosexuell? War er das, was man im Englischen einen "closet gay" nennt? (War er also ein "verdeckter Schwuler", der seine "wahre Natur" möglicherweise sogar vor sich selbst - "im Schrank": "in the closet" - schamvoll versteckt hielt?) Ist es nicht auffallend, wie der Diktator mit Homosexuellen in der eigenen Bewegung verfuhr? Röhm und andere schwule Gefolgsleute der SA, die sich anfangs hinter den "Führer" gestellt hatten, aber ihm später "gefährlich" hätten werden können, wurden liquidiert. Bewohner der Wiener Männerheime, die ihn aus seinen jüngeren Jahren kannten, wurden systematisch ausgeforscht und beseitigt. Und alle seine "normalen" sexuellen Beziehungen fanden, auch als er schon im besten Mannesalter war, mit fast knabenhaften, knapp zwanzigjährigen jungen Frauen statt, die durchweg im Verlauf dieser Beziehungen in den Selbstmord getrieben wurden. (Das gleiche gilt, in abgewandelter Form, für die Beziehung mit Eva Braun.)

Kurios? Gewiss. Und gab es vielleicht ein bestimmtes Erlebnis, an dem sich der Beginn dieser Entwicklung festmachen ließe? Cornish glaubt, es sei die Begegnung mit Wittgenstein gewesen. Der hatte schon mit Pepi, dem Sohn seiner Linzer Gasteltern, eine Beziehung, die in rascher Folge "Verliebtheit", "Bruch", "halbe Versöhnung", "Schein der Unschuld", "Versöhnung" und "Zärtlichkeit" (so die Tagebuchnotizen) umfasste. "Zärtlichkeiten" dieser Art mögen im Haus Wittgenstein, der feinsten Adresse im kulturellen Wien jener Tage, mit zwei älteren, einschlägig erfahrenen Brüdern, alltäglich gewesen sein. In Linz scheint das zumindest fraglich. Unter Pubertierenden mag es wohl gelegentlich Momente geben, die man später am liebsten unter den Teppich eines gnädigen Vergessens kehrt. Wie aber, wenn es zu "Zärtlichkeiten" zwischen diesen beiden Jugendlichen gekommen wäre?

In der Realschule lernte ich wohl einen jüdischen Knaben kennen, der von uns allen mit Vorsicht behandelt wurde, jedoch nur, weil wir ihm in Bezug auf seine Schweigsamkeit, durch verschiedene Erfahrungen gewitzigt, nicht sonderlich vertrauten.

Adolf Hitler

Cornish ist überzeugt, dieser "jüdische Knabe" sei kein anderer als der junge Wittgenstein gewesen. Die "Vorsicht" gegenüber seiner mangelnder Diskretion war, wie der Autor anmerkt, durchaus angebracht; auch in späteren Jahren empfanden die Menschen in Wittgensteins Umgebung (Bertrand Russell und viele andere sind hier zu nennen) es als "äußerst unangenehm", seine "Geständnisse", "Beichten", "Rezitation der Sünden" über sich ergehen lassen zu müssen. Auch in der Realschule empfand der Junge das zwanghafte Bedürfnis, anderen gegenüber Äußerungen über sein Innenleben abzugeben. Die Folge: er fühlte sich anschließend erst recht von den Mitschülern "verraten und verkauft".

Eines der Themen, die Wittgenstein in Cambridge immer wieder zum Thema seiner "Beichten" machte, war sein angebliches "Judentum". (In Wirklichkeit war die einst jüdische Familie Wittgenstein längst, auch durch Heirat mit Nichtjuden, christlich assimiliert.) Möglich aber, dass Wittgenstein mit diesem Wort nichts weiter bezeichnen wollte als das Schuldgefühl, das ihn wegen seiner spezifischen sexuellen Ausrichtung plagte. Er fühlte sich als "Jude", als Ausgestoßener, weil er "homosexuell" war, und "homosexuell", also sexuell unangepasst, weil er "Jude" war. Hitler selbst hat offenbar diese Terminologie übernommen, als er sich mit ihm auf einen "jüdischen" Kontakt einließ. Vielleicht war es eine anschließende "Beichte" des jungen Wittgenstein, die den Grund für Hitlers unehrenhaften Schulabgang lieferte? Hinweise dazu finden sich im zweiten Band von "Mein Kampf":

Ein Junge, der seinen Kameraden angibt, [d. h., bei den Lehrern verpfeift] übt Verrat [kursiv im Original] und bestätigt damit eine Gesinnung, die, schroff ausgedrückt und ins Große übertragen, der des Landesverräters genau entspricht.

(Dass Hitler später gezielt die Entfernung der Linzer Schulberichte veranlasste, deutet darauf hin, dass es tatsächlich etwas zu verbergen gab, dass es zumindest für Hitler keine Bagatelle war.) Der Kontakt scheint damit aber nicht abgebrochen zu sein, nicht allein weil zwei solche Dandys sich in Linz nicht zwei Jahre lang aus dem Weg gehen konnten. Denn darüber hinaus stellt sich die Frage: Scheint es nicht völlig unwahrscheinlich, dass die Zinsen vom Ersparten eines Zollbeamten (Hitlers Vater war am 3. Januar im Jahr 03 gestorben) eine vierköpfige Familie ernähren und zugleich dem Sohn das Leben eines wohlhabenden "Kunstkenners" erlauben konnten, der sich standhaft weigerte, irgendeine Lehre aufzugreifen? Diese Jahre, die von Armut gezeichnet hätten sein sollen, beschrieb er später als "die glücklichsten Tage, die mir nahezu als ein schöner Traum erschienen." Er habe als "Muttersöhnchen" in "der Hohlheit des gemächlichen Lebens, in weichen Daunen" gelebt.

Wer bezahlte diesen Luxus? War es der kleine Junge mit dem großen Geld, der auch später bekannt dafür war, dass er immer wieder sein Geld weg gab - "um eine gute Tat zu tun?" Und wenn es so war - gab es da noch mehr? Vielleicht eine homoerotische Liebesbeziehung? Und wenn ja - was verursachte den Bruch? War es einfach nur Wittgensteins sang- und klanglose Abreise, als er nach der Matura 1906 Linz verließ?

Liest man die Berichte über Hitlers antisemitische Ausfälle, seine kollerartigen Tobsuchtsanfälle, kommt man um den Eindruck nicht herum, hier würde jemand von tief liegenden, eigenen traumatischen Erlebnissen gebeutelt. Solche Leidenschaft konnte von "angelesenen Erkenntnissen" aus antisemitischen Schriften kaum mobilisiert werden. Wenn Hitler in den späten Zwanzigern gefragt wurde, warum er Antisemit sei, erwiderte er immer, dass es sich um etwas "Persönliches" handele. Tatsächlich gelingt Cornish der überzeugende Nachweis, dass im Zentrum von Hitlers Judenhass ein pathologischer Hass auf alles glühte, was mit der Familie Wittgenstein zu schaffen hatte.

Der Verrat, der Hitlers glühenden Hass auf seinen früheren Wohltäter, auf den Plan rief, muss erst später, in Wien statt gefunden haben. Der 17jährige Wittgenstein, der in Wien von Alfred Adler und vielleicht sogar von Freud persönlich psycho-analysiert wurde, stellte offenbar ein ausgesuchtes Paket an persönlichen Neurotismen dar; beispielsweise, dass er sich, in Momenten sexueller Erregung, in die Hosen kackte, oder dass er beim Schwimmen zwanghaft abtauchen und dabei bis 49 zählen musste – bis er, japsend, fast dem Ertrinken nahe, wieder auftauchte. Für seinen Linzer Freund blieb ihm wohl in der großen Stadt keine Zeit mehr. Der eben noch Verwöhnte wurde zum jugendlichen Stadtstreicher und mittellosen Möchtegern-Künstler, angetrieben und aufgerieben von nagenden Ressentiments gegen seinen „jüdischen“ Ex-Lover.

Es scheint fast unerlaubt trivial, die Ungeheuerlichkeit des Holocausts an der Türe einer schief gelaufenen homosexuellen Leidenschaft zwischen zwei Jugendlichen abzusetzen. Und doch beginnen auch große, reißende Flüsse gewöhnlich als harmlose kleine Bäche. Kimberley Cornishs durchweg kühles, analytisches Buch, scheint mir, hilft viele bisher unverständliche Aspekte im Leben dieser beiden Männer klarer zu sehen.

Das Buch ist in der deutschen Ausgabe2 etwas zähflüssiger als es sein müsste, weil der Autor zuviel Material allzu kompakt präsentiert - er verfolgt verschiedene Arme seiner Theorien bis in Schopenhauer und Rosenberg hinein, tief in Wagners Schriften, und so fort. Interessant ist grundsätzlich die Zusammenschau Hitler/Wittgenstein. Außerdem wird Wittgenstein als Drahtzieher der Spione von Cambridge (Philby und Co) enttarnt, was für englische Leser spannender ist als für deutsche.

Ich habe Cornishs Thesen hier noch ein wenig mit anderen Daten, etwa aus Brigitte Hamanns "Hitlers Wien" und anderen Quellen angereichert. Das Buch hatte bereits nach der Veröffentlichung der englischen Ausgabe mächtige Verrisse aus deutschen Landen kassiert, aber ich halte es für so interessant, dass das totale Totschweigen seit dem Erscheinen der deutschen Ausgabe mir als eine geradezu fahrlässig unzulässige Verfahrensweise erscheint, als bewusstes Festhalten an einer festgefahrenen Optik, als Verteidigung des blinden Flecks, im Grunde also als Weigerung, die eigene Geschichte wirklich unverzerrt wahrzunehmen.