Die Wohnungsfrage, neoliberal gestellt

Über "Heuschrecken" und die bezahlbare Heimat in der Stadt

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In seinem Roman „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ rückt Georges Perec eingangs die gleichsam kollektive Dimension des Wohnens ins rechte Licht: „Die Bewohner eines gleichen Wohnhauses wohnen nur einige Zentimeter voneinander entfernt, eine einfache Wand trennt sie, sie teilen sich die gleichen Räume, die sich über die Stockwerke hinweg wiederholen, sie machen zur gleichen Zeit die gleichen Bewegungen, den Wasserhahn aufdrehen, an der Wasserspülung ziehen, das Licht anknipsen, den Tisch decken, einige Dutzend gleichzeitiger Existenzen, die sich von Stockwerk zu Stockwerk, von Haus zu Haus und von Straße zu Straße wiederholen.“

Die Masse macht’s: Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg schrieb der deutsche Wohnungsbau, nicht nur quantitativ, eine Erfolgsgeschichte, die auch international gewürdigt wurde. Da sich privates Kapital damals kaum mehr im Mietwohnungsbau engagierte, entstanden zivilgesellschaftliche Initiativen (Berufsvereinigungen, Gewerkschaften, sozialpolitische Institutionen), die zur Gründung von Genossenschaften führten, und Wohnungsbaugesellschaften in öffentlicher Trägerschaft, die sich alle auf gemeinnützige Zwecke verpflichteten. Sie schufen den Grundstock für ein Segment des Wohnungsangebotes in der Stadt, das explizit marktfern angesiedelt war und mit Hilfe öffentlicher Subventionen qualitativ hoch stehende Wohnungen auch für jene Stadtbewohner bieten sollte, die sich das mit ihren niedrigen Einkommen auf dem offenen Markt nie hätten leisten können.

Es ging also um die Verbreitung humaner Wohnstandards auch in den proletarischen Schichten. Kurz gesagt: Unter dem Stichwort „Sozialer Wohnungsbau“ entwickelte sich – indem die Sphären des Bauens und der Sozialen miteinander verschweißt wurden – eine spezifische politische Innovation und zugleich, zumindest bis zu einem gewissen Grad, ein Reformmotor für die Architektur.

Inwieweit der Umstand, dass das Wohnen zu einem wichtigen Bezugsfeld der Politik wurde – was es ab ovo vielleicht nicht ist –, auf eine spezifische kollektive Mentalität der Deutschen schließen lässt, sei dahin gestellt. Immerhin: Seit der Mensch sesshaft ist, hat es eine besondere Bewandtnis mit seiner Behausung. Sie steht nicht nur für Schutz vor Witterung und Unwägbarkeiten, sondern auch für Identität, Wünsche, Status. Sie ist, im Wortsinne, essentiell.

Zahlen belegen das: 44 % ihres Privatvermögens haben die Deutschen in Immobilien angelegt, aber nur 16 % beispielsweise in Aktien und Pensionsrückstellungen. Obwohl das Dach über dem Kopf ein knappes Gut ist, kann es deshalb nicht wie eine gewöhnliche Ware gehandelt werden. In Deutschland augenscheinlich noch weniger als anderswo. Denn nach den Zerstörungen des II. Weltkriegs sahen öffentliche Hand und Unternehmen im Wohnungsbau eine gesellschaftliche Aufgabe von höchster Priorität.

Das neue Objekt der Begierde

Dass jede Kommune, insbesondere jede Großstadt, über einen erklecklichen Eigenbestand verfügen müsse, um aktiven Einfluss auf die Entwicklung innerhalb ihrer Gemarkung ausüben zu können, galt auch in Zeiten des Wirtschaftswunders als ausgemacht. Noch besitzen – vom Steueraufkommen der Bürger finanziert – Kommunen, Bund und Länder einen durchaus relevanten Marktanteil an Wohnungen. Sie sollen die Grundversorgung der Bevölkerung mit erschwinglichem Wohnraum sicherstellen.

Doch dieser (unausgesprochene) Konsens scheint sukzessive aufgekündigt zu werden. Vor zwei Jahren veräußerte die Stadt Dresden 48.000 Wohnungen an den amerikanischen Finanzinvestor Fortress. Dies hat, in der Wohnungspolitik wie auch den einschlägigen Fachverbänden, eine heftige Debatte entfacht, deren Echo noch immer nachhallt. Doch obgleich dieser Fall insofern einzigartig ist, als der gesamte öffentliche Wohnungsbestand einer Großstadt auf einen Schlag verkauft wurde, so ist er weder der erste noch der größte.

Bereits im Jahr 2000 hat der Bund 114.000 Eisenbahnerwohnungen veräußert, davon 64.000 an die Deutsche Annington. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) verkaufte 2004 ihre Wohnungsbaugesellschaft Gagfah mit 81.000 Wohnungen an Fortress. Die Gehag, 1924 als Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft in Berlin gegründet – und Bauherrin so namhafter Quartiere wie Onkel-Toms-Hütte oder der Hufeisensiedlung von Bruno Taut –, ist mit ihren 21.000 Wohnungen Anfang des Jahres 2005 an die in Los Angeles ansässige Investmentgesellschaft Oaktree Capital Management verkauft worden.

In Wohnimmobilien erkennen institutionelle Anleger augenscheinlich das neue Objekt der Begierde. Seit wenigen Jahren stürzen sich die Fondsgesellschaften, zumeist aus den USA und Großbritannien, geradezu auf deutsche Mietwohnungen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Da sind zum einen die im internationalen Vergleich niedrigen Immobilienpreise. Während die Haus- und Wohnungspreise in vielen anderen Ländern stark gestiegen sind, in Frankreich, in Spanien und Großbritannien sogar mit zweistelligen Steigungsraten, sind die Preise in Deutschland in den letzten Jahren gesunken. Zum anderen ist das Risiko-Rendite-Verhältnis attraktiv, weil sich das Mietausfallrisiko, anders als bei Büroimmobilien, auf sehr viele Einheiten verteilt.

Noch ist nicht recht erkennbar, welche Investitionsstrategie die neuen Eigentümer verfolgen. Angesichts dieser Unsicherheit – und der enormen Strukturverschiebung auf der Angebotsseite des Wohnungsmarktes – ist es nahe liegend, dass in der BRD eine heftige Diskussion über die Auswirkung der immobilienwirtschaftlichen Investments der internationalen Finanzinvestoren entbrannt ist.

Diese Kontroverse erhält zusätzlichen Zündstoff durch die von der Bundesregierung ins Auge gefasste Einführung eines neuen Finanzinstruments, den börsennotierten von Unternehmenssteuer befreiten Immobiliengesellschaften (REITs – Real Estate Investment Trusts).

Der Neubau hat an Bedeutung verloren

Dass Wohnung nicht nur Ware, vielmehr die wahre Wohnung Heimat sei: Dieser Satz ist nicht nur emphatische Metaphorik. Zumal es wohl kaum einen Bereich des modernen Lebens gibt, in dem die Beharrungskräfte jahrhundertealter Traditionen derart ausgeprägt sind. Mehr noch: An just diesem Punkt berühren sich der marxistische und der konservative Blick auf Wohnung und Haus. Beide sehen ihren Gebrauchswert nur gesichert, wenn sie auf Distanz gebracht sind zu den Bewegungen und Dynamiken von Märkten. Dem widersprechen indes die derzeitigen Entwicklungen.

Mithin steht als zentrale Frage im Raum: Darf eine Stadt ihre Wohnungsbaugesellschaft(en) restlos verkaufen? Das ist eine eminent politische Frage, weil sie an das Selbstverständnis von Stadt- und Kommunalpolitik rührt. Sie kann nur im Rahmen einer Vorstellung davon, welche Rolle die Stadt als Körperschaft für das Zusammenleben in der Gemeinde spielen soll, beantwortet werden. Man kann in dieser Frage ja auch nicht experimentell verfahren nach dem Motto: Probieren wir’s doch einfach mal aus – denn rückgängig zu machen sind solche Verkäufe nie, jedenfalls nicht ohne starke finanzielle Einbussen.

Nun kommt es allerdings nicht von Ungefähr, wenn plötzlich allerorts das „Marktliberale“ reüssiert. Zum einen sind die kommunalen Wohnungsunternehmen von aktiven Gestaltern sukzessive zu bewahrenden Verwaltern mutiert: Mit einer Doppelverschiebung – dem Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und der Verlagerung auf Eigentumsmaßnahmen – hat grundsätzlich der Neubau an Bedeutung verloren.

Schon seit längerem liegt für die städtischen Gesellschaften das Schwergewicht ihrer Aktivitäten in der Pflege und Verwaltung ihres hergebrachten Bestandes. Zum anderen muss man sehen, dass nahezu alle Kommunen unter großem Leidensdruck stehen, was wiederum seinen Ausdruck in einer strukturellen Haushaltskrise findet: Von 48 Großstädten mit mehr als 150.000 Einwohnern verfügen nur 10 über einen ausgeglichenen Haushalt oder gar einen Überschuss.

Man mag über Vor- und Nachteile der Zwangswirtschaft im Wohnungswesen geteilter Meinung sein, eines ist unleugbar, dass sie große Bauaufgaben in die Hände gemeinnütziger Bauherren, seien es nun Kommunen, Wohnungsfürsorgegesellschaften oder Genossenschaften, legt und damit ein nach wirtschaftlichen, sozialen und städtebaulichen Gesichtspunkten hin großzügiges Arbeiten ermöglicht, das richtig geleitet, unseren Volkswohnungsbau ein gutes Stück vorwärtsbringen muss.

Das schrieb der Revolutionär des deutschen Städtebaus, der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, 1926/27 in seiner Zeitschrift "Das neue Frankfurt". Die Sätze werfen ein Schlaglicht auf die Gründe, die in unserer Zeit die Götterdämmerung jener ‚neuen Stadt’ eingeleitet haben, für die nicht nur May, sondern viele prominente Avantgardisten vor 80 Jahren gekämpft haben. Eine solche „Zwangswirtschaft“ ist unter heutigen Bedingungen zwar keineswegs mehr opportun. Aber dass „Kommunen, Wohnungsfürsorgegesellschaften und Genossenschaften“ ihre Gemeinnützigkeit frisch beweisen und das Gut „Wohnung“ als stadtentwicklungspolitisches Instrument neu justieren müssen, ist Voraussetzung dafür, damit das, was Erbe jener Zwangswirtschaft ist, in die Hände der Gesellschaft zurück gelegt wird. Nur so lässt sich eine spezifisch deutsche (=europäische) Stadtkultur bewahren. Wohnraum(versorgung) ist ja nicht bloß eine fiskalische Frage, sondern nach wie vor auch eine der Umwelt- wie der Sozialpolitik. Und sie berührt nicht zuletzt auch die Gestalt der Stadt.