Der Reichstagsbrand und die Mär vom "Alleintäter"

In jener Nacht des 27. Februar 1933, da vor nunmehr 75 Jahren das Reichstagsgebäude zu Berlin in Flammen aufging, ist nicht nur das Haus des deutschen Parlaments in Trümmer gefallen

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Der Großbrand führte auch zum Untergang von Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland und zur Errichtung der totalen NS-Diktatur mit all ihren apokalyptischen Folgen bis hin zu Weltkrieg und Judenvernichtung.

Auch nach der Aufhebung des Todesurteils gegen Marinus van der Lubbe durch die deutsche Bundesanwaltschaft schwelt der Historikerstreit um die Frage nach der Täterschaft weiter. War es ein Einzelttäter, der das Reichstagsgebäude in einen Hort der Flammen verwandelte? Oder waren es die Nazis selbst, die mit dieser Tat den Vorwand schufen für die flächendeckende Verfolgung der politischen Opposition und die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie? Improvisation oder Planung? Die Beantwortung dieser Frage ist für die Einschätzung der NS-Machtübernahme von entscheidender Bedeutung (Der Reichstagsbrand).

Marinus van der Lubbe, Anhänger einer „rätekommunistischen“ Splittergruppe, war am 27. Februar 1933, gegen 21.23 Uhr im brennenden Reichstag festgenommen worden. In seiner Manteltasche hatte man Reste von Kohlenanzünder gefunden. Er wurde am 23. Dezember 1933 im sogenannten Leipziger Reichstagsbrandprozess wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt und am 10. Januar 1934 unter dem Fallbeil hingerichtet. Das Reichsgericht hatte ihn für schuldig befunden, das Reichstagsgebäude und zuvor andere öffentliche Gebäude in Berlin in Brand gesetzt zu haben.

Am 6. Dezember 2007, also beinahe 74 Jahre nach diesem Justizmord, hat die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe „von Amts wegen“ aufgehoben. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Unberührt von der Karlsruher Entscheidung bleibt das Urteil hinsichtlich der vier „mangels Beweisen“ freigesprochenen kommunistischen Mitangeklagten – darunter der spätere bulgarische Ministerpräsident und Generalsekretär der Komintern Georgi Dimitroff und der damalige Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion Ernst Torgler.

Unbestritten ist bis heute, dass Brandstiftung im Spiel war und dass die Regierung Hitler – dem Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 die Kanzlerschaft übertragen hatte – den Brand skrupellos für ihre Zwecke nutzte. Ohne zu zögern und ohne jegliche Beweise beschuldigten Hitler und Göring, kommissarischer preußischer Innenminister und Polizeigewaltiger im Land Preußen, sofort die Kommunisten der Brandstiftung. Kurzerhand erklärten sie den Brand im Reichstagsgebäude zum Signal für den angeblich unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Aufstand. So jedenfalls lautete die offizielle Rechtfertigung für die nur einen Tag später „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ erlassene Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ sowie ihre Zwillingsschwester, die „Verordnung gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe“, mit denen die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt wurden.

Die beiden Verordnungen, die bis zum Ende des „Dritten Reiches“ Gültigkeit behalten sollten, bildeten die pseudo-legalistische Grundlage für die gesamte NS-Diktatur. Sie sicherten der Hitler-Regierung auch die alleinige Verfügungsgewalt über die Presse und den Rundfunk und eröffneten ihr damit völlig neue Propagandamöglichkeiten. Erst mit ihrer Hilfe, sowie flankiert vom Terror der SA, war es der NSDAP und ihren deutsch-nationalen Verbündeten möglich, bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 einen knappen Sieg einzufahren.

Bis 1949 keine Zweifel an NS-Täterschaft

Bis 1949 zweifelte kaum jemand an der Täterschaft der Nazis, hatte sich doch die NS-Führung im Leipziger Reichstagsbrandprozess, der allen rechtsstaatlichen Prinzipien spottete, vor den Augen der Weltöffentlichkeit selbst aufs Gröbste desavouiert. Auch die deutsche Geschichtsschreibung nach 1945 hatte dazu keine Veranlassung.

Doch dann tauchte plötzlich die Behauptung auf, der im Reichstag festgenommene Niederländer habe den Brand ganz alleine gelegt. Urheber dieser Legende war der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, damals noch Leiter der Preußischen Politischen Polizei und Organisator der Großrazzia unmittelbar nach dem Reichstagsbrand. Zehntausende – vorwiegend linke – Oppositionelle waren, zum Teil noch in der Brandnacht, in „Schutzhaft“ genommen und in improvisierte Konzentrationslager (KZ) verschleppt worden.

Die Rolle des „Spiegel“

Mit Hilfe ehemaliger Mitarbeiter strickte Diels seit 1949 an seiner Apologetik, in der der Reichstagsbrand eine zentrale Rolle spielte.1. In einer mit großem Brimborium inszenierten „Spiegel“-Serie2 behauptete dann 1959/60 Fritz Tobias, ein bis dahin unbekannter „Verfassungsschutz“-Beamter, zweifelsfrei beweisen zu können, dass der im Reichstagsgebäude festgenommene, zu 75 Prozent erblindete Niederländer Marinus van der Lubbe den Reichstag allein angezündet habe – eine grandiose Irreführung, die vor Fehlern und Manipulationen strotzte. Dabei stützte sich der Autor einseitig auf voreingenommene Zeugen, nämlich auf den schon erwähnten Gestapo-Chef Rudolf Diels und dessen ehemalige Mitarbeiter, die später im Dritten Reich Karriere machten und nach dem Krieg im Polizei- und Verwaltungsapparat der Bundesrepublik Deutschland Verwendung fanden.

Beim „Spiegel“ selbst hatte ein gewisser Paul Karl Schmidt alias Paul Carell, vormals Pressesprecher von NS-Außenminister Ribbentrop und Spezialist für antisemitische Provokationen, den Boden für die Alleintäterthese bereitet. Schmidt-Carell3 war übrigens auch derjenige, der das Manuskript von Fritz Tobias als erster redigierte. Die NS-Führer seien vom Reichstagsbrand völlig überrascht worden und hätten ehrlich an ein kommunistisches Attentat geglaubt. Keine zielgerichtete Planung also, sondern ein „blinder Zufall“ und geschicktes Improvisieren hätten die Nazis in den Alleinbesitz der Macht gebracht – eine These, die der „Spiegel“, unbeeindruckt von allen gegenteiligen Forschungsergebnissen, bis heute wiederkäut.

Hans Mommsens Sündenfall

Das Institut für Zeitgeschichte in München beauftragte damals seinen jungen Mitarbeiter Hans Mommsen, die Arbeit von Tobias zu prüfen. Statt einer kritischen Analyse lieferte er eine mehr oder weniger vollkommene Übernahme der Darstellung des Hobbyhistorikers4, ohne die zahlreichen Irrtümer, Verzerrungen und Manipulationen zu bemerken, die von der Forschung nachträglich festgestellt worden sind. Darüber hinaus sorgte Mommsen mit allen (auch unlauteren) Mitteln dafür, dass ein anderer Experte, der die Thesen des Herrn Tobias als haltlos entlarvt hatte, mit fadenscheinigen Argumenten ausmanövriert wurde.

Als die entsprechenden Akten dieses Manövers zutage kamen, sah sich das Institut veranlasst, Mommsen öffentlich zu bescheinigen, dass sein Vorgehen „unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel“5 gewesen sei. Dieses für einen Wissenschaftler im Grunde vernichtende Verdikt, ausgesprochen von einem in der Zeitgeschichtsforschung führenden Institut, hat Herrn Mommsen offensichtlich wenig beeindruckt: Nach wie vor lehnt er jede Korrektur an längst widerlegten Thesen ab und erklärt anderslautende Forschungsergebnisse für unwichtig, wenn er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt.

Alleintäterthese wissenschaftlich widerlegt

Dabei wurde die so genannte Alleintäterthese gerade in jüngerer Zeit schwer erschüttert. Als sich Anfang der 1990er Jahren die Archive in Ostdeutschland öffneten, waren auch die Originalakten des Reichstagsbrandprozesses von 1933 (von Politischer Polizei, Reichsgericht und Oberreichsanwalt) erstmals allgemein zugänglich. Der Mitverfasser dieses Beitrags gehört zu den ersten Forschern, die diese Akten einsehen und vollständig auswerten konnten.

Die Ergebnisse dieser Forschungen liegen inzwischen gedruckt vor6. Sie bestätigen in weiten Teilen die Erkenntnisse, zu denen eine interdisziplinäre Forschergruppe um Walther Hofer bereits in den 1970er Jahren gelangt war.7 Kernstück der damaligen Untersuchungen, an der auch der spätere Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs Christoph Graf leitend mitgewirkt hatte, war ein Gutachten des Thermodynamischen Instituts der TU Berlin. Die Expertise gelangt zu dem eindeutigen Schluss, dass van der Lubbe den Großbrand im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes unmöglich allein in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und mit den vom ihm verwendeten Brandmitteln (Kohlenanzünder) verursacht haben kann – es sei denn, der Raum wäre zuvor entsprechend präpariert gewesen.

Die Expertise bestätigte die Gutachten der seinerzeit vom Reichsgericht bestellten Sachverständigen, die, bei Unterschieden im Detail, zum gleichen Ergebnis gekommen waren, nämlich, dass van der Lubbe Mittäter gehabt haben muss. Einer dieser Gutachter, der chemische Brandsachverständige Dr. Wilhelm Schatz hatte überdies im Plenarsaal Spuren einer selbstentzündlichen Flüssigkeit entdeckt (Phosphor in Schwefelkohlenstoff), die identisch ist mit der Substanz, die seinerzeit auch die Berliner SA benutzt hatte, um z.B. gegnerische Plakate zu zerstören. Die Auswertung der nun zugänglichen Ermittlungsakten ergab u.a., dass van der Lubbe noch weniger Zeit für die Brandlegung im Reichstagsgebäude gehabt hatte, als man bislang annahm: nämlich nur max. 15 Minuten.

Inzwischen wurden weitere brandtechnische Untersuchungen durchgeführt, die eine Alleintäterschaft van der Lubbes praktisch ausschließen. Eine Untersuchung des Allianz Zentrums für Technik aus dem Jahr 2005 kam zu dem Ergebnis: „Mit den Mitteln […], die van der Lubbe verwendet haben soll, hätte die Zeit nicht ausgereicht – es sei denn er hatte Helfer.“ Ein identisches Ergebnis erbrachte ein Experiment im Rahmen der ZDF-Sendung Abenteuer Wissen, das im Juni 2007 unter Beobachtung der Berliner Feuerwehr und des Landeskriminalamts Berlin durchgeführt wurde.

Zauberformeln und Nebelkerzen

Bis heute haben die Anhänger der Einzeltäterthese keinerlei Forschungsergebnisse vorgelegt, die ihre These stützen bzw. die oben genannten wissenschaftlichen Gutachten und Expertisen widerlegen würden. Außer unbewiesenen Behauptungen und längst widerlegten Fälschungsvorwürfen sowie offenkundigen Manipulationen haben sie nichts zu bieten. Auch eine von Mommsen angeregte semifiktionale Publikation folgt dieser Linie. Alle Fakten, die der Alleintäterthese zuwiderlaufen, werden darin konsequent ignoriert bzw. geleugnet. In seinem Vorwort brandmarkt Mommsen alle als „Verschwörungstheoretiker“, die wie der bekannte Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher nach wie vor nicht an die Alleintäterthese glauben wollen.

Das einzig Neue: die Behauptung, mittels des so genannten „Backdraft“-Effekts (schon lange als „Rauchgasexplosion“ bekannt) sei der Reichtagsbrand spielend als das Werk eines Einzelnen zu erklären. „Zum Phänomen des 'Backdraft' passen alle bekannten Details des Brandes im Reichstagsplenarsaal“, heißt es darin. Damit hat der Verfasser freilich ein fulminantes Eigentor geschossen.

„Unterstellt man die Richtigkeit dieser Aussage“, so Prof. Karl Stephan vom Institut für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik der Universität Stuttgart, „so beweist sie allerdings das Gegenteil von dem, was bewiesen werden soll, denn ein 'Backdraft' wäre vor allem dann wahrscheinlich, wenn man zuvor flüssige Brennstoffe in den Plenarsaal eingebracht hätte.“ Stephan folgert: „Keinesfalls lässt sich damit die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes begründen.“ Auch das Zauberwort „Backdraft“ entpuppt sich hinsichtlich seines angeblichen Beweiswerts für die Alleintäterthese also bei näherem Hinsehen als bloße Nebelkerze.

Prof. Dr. Walther Hofer ist emeritierter Ordinarius für Neuere Geschichte und ehem. Direktor des Historischen Instituts an der Universität Bern. 1983 wurde ihm für seine Forschungen zum Nationalsozialismus das Verdienstkreuz der BRD verliehen.

Dr. Alexander Bahar ist Historiker und Publizist. Er lebt bei Stuttgart.