Caerleon Island

Virtuelles Kunstkollektiv und Testareal für artifizielles Leben

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Über Second Life wurde im letzten Jahr nun wirklich genug verzapft. Der Avatarchat polarisiert nicht nur Internetbefürworter und Kritiker der neuen Medien, sondern die Gemeinde der Internetuser und Web 2.0-Aktivisten selbst. Allgemein wird er als profitabel vermarktetes, völlig sinnfreies Spielzeug für Realitätseskapisten abgeurteilt – und das sowohl von Medienkritikern im Allgemeinen als auch von aktiven Gamern, die sich sonst für alle Arten von 3D-Universen begeistern. Letztere stößt bekanntermaßen die noch immer recht simple Grafik des Linden Multiversums ab. Schnell gehyped wurde Second Life ebenso schnell wieder verflucht und von manchen sogar zur Brutstätte des Bösen erklärt. Wer sich dort aufhält, muss demnach entweder bescheuert, pervers oder kriminell sein – Mischformen sind natürlich auch denkbar. So muss sich der, der Second Life nutzt – ich verwende nur ungern das Wort spielen –, zwangsläufig damit abfinden, misstrauisch von seiner Umgebung gemustert zu werden.

Ich gestehe es hier gleich, ohne zu zögen. Ich bin noch immer ein Second Life-Bewohner und will an dieser Stelle erst gar nicht anfangen, über sinnlose Pros und ebenso überflüssige Contras zu lamentieren. Ich mag weder fanatisierte Second Life-Nonstop-Bewohner mit Dekubitus am Hintern, die ihr zweites Leben und dessen fast religiöse Bedeutung mit dem flammenden Schwert gegen jede kritische Nachfrage verteidigen, noch schätze ich jene Kritiker, die es für ihre intellektuelle Pflicht halten, jeden, der dazu steht, sich in Second Life zu amüsieren, zu einem Soziopathen zu erklären oder zumindest zu einem Forrest Gump, der gerade schlau genug ist, sich sein Passwort zu merken.

Was mich an Second Life angezogen hat, ist die schlichte Tatsache, aus der C64-Generation zu stammen, in der man wohl an virtuelle Multiplayer-Rollenspiele dachte oder, besser gesagt, von ihnen träumte, sie aber für kaum oder gar nicht realisierbar hielt. Mit Second Life ist dieser alte Traum nun zumindest beinahe wahr geworden. Für mich persönlich hat der Avatarchat etwa den Status einer elektrischen Eisenbahn – nicht mehr oder weniger. Tatsächlich gibt es Parallelen: Man baut an seiner kleinen Welt, versucht funktionierende Prozesse her zustellen und hat Spaß daran, wenn die kleine Raumstation, die man sich in den Himmel über Second Life gehängt hat, so funktioniert, wie sie soll. Schweben ist dabei das kleinste Problem, denn auf Gravitation kann man im Linden Universum getrost verzichten, wenn man in den Eigenschaften eines Objektes den Haken bei physical entfernt.

Die Frage ist aber, ob der Avatarchat auch zu mehr gebrauchen ist. Obwohl ich die 3D-Welt schätze, habe ich mit einer gewissen Genugtuung das Abwandern diverser großer Konzerne zur Kenntnis genommen. Zuletzt hat sich die deutsche Post aus Second Life zurückgezogen. Der Postboten-Avatar, dem ich noch vor wenigen Wochen begegnete und der nach eigener Aussage Werbung für die Sackpost machte, war anscheinend Teil einer letzten verzweifelten Kampagne. Die Post bezeichnete nach ihrem Abgang das Experiment Second Life übrigens nichtsdestotrotz als vollen Erfolg.

Wie schon zu Beginn des Internetzeitalters hat der plötzlich aufkommende Hype von Second Life Ende des vorletzten Jahres manche Unternehmer in eine neue Goldgräberstimmung versetzt. Die hatten offenbar übersehen, das SL eigentlich schon drei Jahre existierte und nur wir hier dem 3D-Chat keine Beachtung geschenkt hatten. Einmal mehr glaubte man daran, dass Menschen vor dem Computer plötzlich viel mehr Geld ausgeben würden, als sie es tun, wenn sie Produkte im Laden kaufen. Dem ist nicht so. Naiv die Vorstellung, irgendjemand würde Markenturnschuhe oder ein echtes Auto in Second Life kaufen.

Was den Hype ausgelöst hatte, war natürlich nicht das plötzlich aufkeimende Interesse an virtueller Realität und den technologischen Möglichkeiten von Simulationen, sondern das schlichte Verlangen nach Cybersex. Second Life wurde von einer Woge von Sextouristen überrollt. Meistens leicht identifizierbar anhand einer stolz zur Schau gestellten Gummierektion. Von einer durchschnittlichen Zeit von maximal 30 Minuten von der Geburt eines SL-Bürgers bis zu dessen Entjungferung war zu dieser Zeit die Rede. Ob dem so ist, kann ich nicht beurteilen, denn mein Avatar ist bis heute jungfräulich geblieben und besitzt nicht mal ein Geschlechtsorgan.

Doch zurück zur Frage, welche Möglichkeiten Second Life bieten könnte. Natürlich gibt es welche. Viele sogar. Es muss sie nur jemand nutzen.

Jemand wie der Avatar Georg Janick – an dessen Fäden in der realen Welt der Philosophiedozent Gary Zabel von der University of Massachusetts in Boston die Fäden zieht. Begegnet bin ich ihm vor einigen Monaten durch Zufall – online versteht sich. Zabel, selber Amateurrobotiker, Kunstfan und Second Life-Enthusiast, ist einer von denen, die andere Vorstellungen über die Verwendung virtueller Welten haben. Er träumt von einer nichtkommerziellen Nutzung als Plattform für Lehre und Ausbildung und als einem Ort, an dem Künstler – und zwar auch solche, die ganz reale Kunst herstellen – sich an überdimensionierten Installationen versuchen können oder an Ideen, die sich später in der Realität umsetzen lassen.

Er hat seinen Ideen Taten folgen lassen und mit Caerleon Island einen Ort erschaffen, an dem man etwas nicht tun kann, das sonst in Second Life an jeder Ecke möglich ist: Geld ausgeben. Dabei ist der Kauf einer Insel – in Second Life SIM genannt - nicht billig. Aber die Investition ist tragbar, nicht zuletzt, weil Linden Labs immerhin ansatzweise durch etwas verringerte Landpreise Non-Profit und Bildungsprojekten entgegen kommt.

Caerleon Island versteht sich als Kunstkollektiv, als Museum, als Werkstatt, als Reißbrett, als Experimentiertisch und als virtuelle Universität. Derzeit hält Gary Zabel dort einmal wöchentlich eine Philosophievorlesung ab. Ein mehr als passender Rahmen für das Thema der Veranstaltung: „Multiple Universen und parallele Welten“.

Virtuelle Unterrichtsveranstaltungen in Second Life sind natürlich längst keine Innovation mehr. So hält Bernd Schmitz von der rheinischen Fachhochschule Köln schon seit geraumer Zeit Vorlesungen über das Thema Multimedia in der von ihm ins Leben gerufenen online Dependance der Kölner Fachhochschule ab. Ein Trend, der mittlerweile auch von vielen anderen Universitäten aufgegriffen wird – es sei dahingestellt, ob das immer Sinn macht.

Vor einiger Zeit hatte ich selbst die Ehre, im Rahmen des Philosophiekurses auf Caerleon eine Art Gastvorlesung halten zu dürfen. Rund eine Stunde lang „referierte“ ich in der virtuellen Realität von Second Life über die Geschichte der virtuellen Realität in der Science Fiction. Und durfte dabei die Nachteile globaler Vernetzung am eigenen Leib erfahren. Die in Boston von 19 Uhr bis 21 Uhr angesetzte Veranstaltung begann für mich um nämlich 1 Uhr nachts. Man kann sich ein Jetlag heute tatsächlich schon einfangen, während man vor dem eigenen Schreibtisch hockt.

Während ich ganz unprofessionell und mehr oder weniger aus dem Bauch heraus über Daniel F. Galouyes Roman „Simulacron 3“ und Gibsons „Neuromancer“ lamentierte, wurde mir einmal mehr bewusst, was Second Life ist: Ein Spielzeug. Aber eines, das die Zukunft des Internets, des Web 2.0, der Kommunikation und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft bereits jetzt mit vereinfachten Mitteln simuliert.

Nach der Vorlesung konnte ich mir selbst ein Bild von Zabels Inselkollektiv machen. Dort haben sich mittlerweile vier Künstler niedergelassen, die an verschiedenen Projekten arbeiten. Aiyas Aiya entwirft Skulpturen, ist Kurator der Node Zero-Galerien und interessiert sich für die Schnittstellen zwischen Kunst in Second Life und der realen Welt. Hinter ihm verbirgt sich der kanadische Künstler Chris Postill. Seine Würfelskulptur entsteht derzeit auch als etwas verkleinerte reale Version. Auf der Insel arbeitet er außerdem an einer Diplomarbeit unter dem Titel „An inquiry into new aesthetics and sensibilities of art inherent within 3D virtual worlds“.

Ihn beschäftigt die Frage, ob 3D-Welten wirklich neue kreative Möglichkeiten für Künstler bieten. Gelegenheit, das herauszufinden, hat er hier genug. Feathers Boa entwirft riesige Spielzeugroboter mit schlagenden Herzen, die mich ein wenig an japanische Monsterfilme erinnern. Aber sie schreckt auch nicht vor konkreten Aussagen zurück: In einer riesigen blutverschmierten Mülltonne verbrennt sie die Erde. Der Deckel ist die amerikanische Nationalflagge. Die Amerikanerin hat wenig Verständnis für den Einsatz von US-Truppen in Afghanistan. Die Erde im Müll ist ihr Statement gegen die aktuelle Politik. Als ich sie frage, ob ich ein Bild davon machen darf, antwortet sie nur: „Make them think.“ Es stellt sich heraus, dass der Bruder eines Freundes der Avatarin vor wenigen Tagen in Afghanistan ums Leben gekommen ist.

Bryn Ohs biomechanische Skulpturen will sie selbst als Steampunk verstanden wissen. Sie präsentiert einen ganzen Zoo mechanischer Lebewesen, die es, so perfekt gestaltet wie sie sind, real auch mühelos in große Galerien schaffen würden. Mich beeindruckt besonders ihre mechanische Katze mit erlegter ebenso mechanischer Maus. Eine Skulptur, die aussieht, als hätte Salvador Dali einen Tom und Jerry Cartoon gezeichnet. Tatsächlich malt (und verkauft) Bryn im realen Leben Ölgemälde, wie mir Gary erzählt.

Nonnatus Korhonens Projekt schließlich ist etwas ganz besonderes. Hinter seinem Avatar verbirgt sich der australische Installationskünstler Andrew Burrell. Der unterrichtet Kunst und Technik an der University of Sidney und ist schon seit einigen Jahren in Second Life aktiv, wenn er sich nicht gerade mit der Realisierung einer Installation in der wirkliche Welt beschäftigt.

Auf Caerleon Island füllt er derzeit eine ganze Bucht mit künstlichen Lebewesen. Sie interagieren miteinander, stehen in unterschiedlichen Beziehungen zueinander und äußern ihren Zustand durch Klänge. Burrell hatte bereits an anderer Stelle in Second Life ein künstliches System aus Räubern und Beutetieren etabliert, die selbstständig untereinander agierten. In seinem Projekt Street Walkers and Street Talkers erschuf er Objekte, die über Scripte die Unterhaltungen von Avataren in der Umgebung auffangen, die von ihnen verwendeten Wörter bei Google eingeben und aus den Einträgen der Suchmaschine auf Zufallsbasis Antworten erzeugen.

Nach eigener Aussage liegt im besonders daran, narrative Elemente mit Technik zu verbinden. Einige seiner Kreaturen werden umso gesprächiger, je mehr man sie füttert. In der Bucht wird ein in sich geschlossenes System entstehen, in dem künstliche Lebewesen ohne Eingriff von außen ein autonomes Lebenssystem bilden, dessen Entwicklung nicht vorhersehbar ist. Dafür bietet die SecondLife Struktur tatsächlich ideale Voraussetzungen, denn einzelne Objekte können mit individuellen Scripten versehen werden und sind so praktisch eigenständige Computerprogramme.

Caerleon Island ist jetzt gerade einige wenige Tage alt, hat sich in dieser Zeit aber bereits zu einer sehr sehenswerten Galerie entwickelt und das – für Second Life ungewöhnlich - ohne kommerziellen Hintergedanken. Stattdessen empfängt das Kunstkollektiv kreative Köpfe mit offenen Armen. Man steht schließlich erst am Anfang. Künstlern, die nicht gleich bleiben wollen, bietet Zabel die Möglichkeit einer Gastausstellung an – selbstverständlich der virtuellen Art.

Zabels Insel versteht sich aber auch als soziales Experiment. Begeistert berichtet mir Gary über eine Verfassung, die man in der Nacht zuvor verabschiedet habe. Sie soll Grundsätze wie Solidarität, gegenseitige Unterstützung und Demokratie verankern. Anscheinend konnte der Philosoph Gary Zabel nicht widerstehen, auch eine Art Mikroutopia in Second Life zu simulieren.

Am Ziel ist er mit seinem Projekt natürlich noch lange nicht, aber immerhin beweist er eines: Man kann mit Second Life auch noch etwas mehr anfangen, als sich eine virtuelle Puppenstube einrichten und seinen Barbie und Ken Clon einkleiden. Es lässt sich vielleicht doch noch etwas daraus machen…