Das deutsche Universitätssystem befindet sich in Auflösung, und keiner merkt’s

Wie der Bologna-Prozess die europäischen Hochschulen einnivelliert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Amerikaner pflegen ihr Universitätsdiplom im Büro aufzuhängen. Dies geschieht nicht nur aus typisch amerikanischem Selbstbewusstsein heraus, sondern hat auch einen nachvollziehbaren Grund. Es ist nicht sehr schwer, in den Vereinigten Staaten eine Hochschule zu gründen und Abschlussdiplome zu verteilen. Entsprechend wichtig ist die ausgebende Institution. Wer einen Abschluss von einer unbekannten Universität hat, bei dem wird schon genauer hingesehen.

Dagegen war ein akademischer Titel in Deutschland gleich viel wert - ob er nun von der Universität Heidelberg verliehen wurde oder der Gesamthochschule Essen. Das deutsche System war übersichtlicher. Aber wenn man ein bisschen drüber nachdenkt, war auch das amerikanische System nicht sonderlich problematisch.

Noch bunter als die Hochschulvielfalt in den USA ist (oder man möchte bereits sagen: war) diejenige in Europa. Die jeweiligen Systeme unterschieden sich enorm. Dabei stellte das „deutsche“ System (die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass es auch in anderen Ländern in Gebrauch war) ein Extrem dar: Abgesehen von den „verschulten“ Fächern (BWL z.B.) wurde dem Studenten extrem viel Freiheit gegeben. Die tatsächlich notwendigen Scheinleistungen ließen sich, bei harter Arbeit in kürzester Zeit erledigen, so dass extrem viel Zeit blieb, um eigene Schwerpunkte zu setzen. Der eine tat dies im Studium, der andere extra-universitär und wurde Taxifahrer - was dann auch bereits den Nachteil des „deutschen“ Systems zeigt: Ein hohes Maß an Freiheit bedeutet auch viel Verantwortung. Wer damit nicht klarkommt, setzt keine Schwerpunkte - und lernt letztlich gar nichts.

Am anderen Ende der Skala standen vor allem südeuropäische Staaten, die praktisch nur Auswendiglernen in der Universität betrieben. Es ist nicht so, dass Auswendiglernen an sich schlecht ist – nur braucht man dafür keine Universität, sondern einfach ein Lehrbuch. Und wer das deutsche System richtig nutzte, der wird viel von seiner freien Zeit ebenfalls für stupides Pauken genutzt haben.

Umgekehrt lernt sich selbstständiges Formulieren, Referieren, Gliedern usw. nicht aus Büchern. Diese Aufgabe kann nur eine Universität leisten. Denn nur dort gibt das entsprechend geistig anregende Publikum, an dem man sich selbst schärfen kann.

Damit kann man auch übergehen zum angelsächsischen Modell. Dort steht dem Studenten ein persönlicher Tutor zur Verfügung, den man einmal pro Woche trifft, und vor dem man die wissenschaftliche Betätigung der Woche darlegt. Das gibt dem Ganzen etwas mehr Struktur, und zudem ist eine solche Privatsprechstunde ein weiterer Wetzstein, an dem der eigene Intellekt geschliffen werden kann.

Es ist einerseits klar, dass keines dieser Systeme einen wirklich tumben Menschen zum Intellektuellen machen kann, wie es andererseits ebenfalls klar ist, dass selbst die albernsten Universitätssysteme große Wissenschaftler hervorbrachten. Aber es ist eben ungleich schwieriger, ein paar Bücher mehr zu lesen, ein paar Sprachen mehr zu erlernen, ein paar Reisen mehr zu machen, wenn man Berge von unnützen Informationen auswendig lernen muss.

Einnivellieren auf südeuropäischem Standard

Diese ganze lange Vorrede führt uns zum Bologna-Prozess. Der Bologna-Prozess soll das europäische Hochschulsystem vereinheitlichen, damit es durchlässiger wird. Die Idee ist ungefähr folgende: Es studieren gar nicht so furchtbar viele Leute an ausländischen Universitäten. Das liegt daran, dass die Studiensysteme so unterschiedlich sind. Lasst sie uns vereinheitlichen, dann werden mehr Studenten Auslandsjahre einschieben, und das nutzt dem europäischen Gedanken!

Naiv, nicht? Dass so wenige Stundenten ein Auslandsjahr einschieben, hat vielerlei Gründe: Allgemeine Bequemlichkeit, persönliche Situation (Was wird aus der Wohnung oder dem Wohnheimplatz? Gute, langfristige Arbeitsstelle; enge Beziehung, die nicht riskiert werden soll), finanzielle Gründe, mangelnde Bereitschaft, sich mit einer Fremdsprache auseinander zu setzen usw.

Schon seit langer Zeit existiert das ERASMUS-Programm, das den Studentenaustausch innerhalb von Europa vereinfachte. ERASMUS an sich ist eine hervorragende Sache. Auf der anderen Seite vereinfachte ERASMUS das Auslandsstudium fast zu sehr. Da praktisch gar keine Fremdsprachenkenntnisse erforderlich waren und die an sich relativ komplizierte Organisation eines Auslandsaufenthalts komplett von den Austauschpartnern übernommen wurde, konnten selbst extrem organisationsfaule Studenten in einem Art Urlaubsbiotop ein Auslandsjahr absolvieren, ohne ihre Fremdsprachkenntnisse über das Niveau „touristisch“ zu verbessern. Gleichwohl bot ERASMUS eben auch dem engagierten Studenten eine sehr einfache Möglichkeit ins Ausland zu kommen, und damit wäre die vorhandene Situation eigentlich ganz vernünftig gewesen.

Aber nein, man musste die europäische Vielfalt im Hochschulwesen im Bologna-Prozess einnivellieren, um reibungsloses Wechseln zu ermöglichen – als ob das ein Grund für organisationsunfähige Studenten wäre, doch ein Auslandsjahr einzuschieben, oder als ob dies einem engagieren Studenten, der in der Lage ist, sich Scheine anerkennen zu lassen, irgendeinen Vorteil bringen würde.

Das Einnivellieren findet leider auf südeuropäischem Standard statt, d.h. Studenten müssen heute überall, eben auch in Deutschland, öde Vorlesungen absitzen und danach Klausuren bestehen, um damit „Credits“ zu erwerben. Dabei ist die Vorlesung die albernste alle universitären Unterrichtsformen. In der Zeit, die man in der Vorlesung verbringt, könnte man auch ein Standardwerk zu dem entsprechenden Thema lesen. Ein Fachbuch bietet unendlich viele Vorteile gegenüber der Vorlesung. Erstens können sich Fachbücher nicht versprechen oder man kann sie akustisch nicht missverstehen, zweitens kann man sie im Gegensatz zu Vorlesungen zitieren („Aber Prof. Schmid sagte anno WS 1988/89 das Gegenteil in seiner Vorlesung!“ „Da müssen sie ihn missverstanden haben!“) und drittens kann man absetzen, einzelne Punkte woanders nachsehen und dann weiterlesen. Das einzige Argument für Vorlesungen ist: „Wenn ich Leuten zuhöre, kann ich mir Sachen besser merken, als wenn ich sie lese“; doch wer dieses Argument ins Feld führt, sollte sich ernsthaft überlegen, ob er überhaupt an einer Universität richtig aufgehoben ist.

Kurzum: Ohne große politische Diskussion – der Bologna-Prozess wurde wie so viel Unsinn von der EU ohne demokratische Legitimierung, sondern als gemeinsamer Ukas der Regierungen gestartet – befindet sich das deutsche universitäre System derzeit in kompletter Auflösung.