Harter Kampf auf dem Bildungsmarkt

Der Aktionsrat Bildung hat sein zweites Jahresgutachten vorgelegt. Diesmal geht es um die Frage, ob das deutsche Bildungssystem für die Globalisierung gerüstet ist

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Wer sich die Zeit nimmt, drängende Gegenwartsprobleme genauer zu betrachten, stellt nicht selten fest, dass sie die Öffentlichkeit schon seit geraumer Zeit beschäftigen. Das gilt auch für den Zusammenhang zwischen der Qualität nationaler Bildungssysteme und dem (keineswegs nur ökonomischen) Erfolg im internationalen Wettbewerb, der nicht erst im 21. Jahrhundert entdeckt wurde. Schon Theodor Fontane - und viele vor und nach ihm - wussten, dass Lernprozesse, wenn sie der Selbstfindung und Persönlichkeitsbildung dienen sollen, eine Tendenz zur Grenzüberschreitung aufweisen, weil sie sich erst im Dialog voll entfalten und beweisen können.

Die Fremde lehrt uns nicht bloß sehen, sie lehrt uns auch richtig sehen. Sie gibt uns auch das Maß für die Dinge. Sie leiht uns auch die Fähigkeit, Groß und Klein zu unterscheiden.

Theodor Fontane

Auf dem Bildungsforum der Berliner Universitäten operierte Wolf Lepenies weit über 100 Jahre später, im November 1997, bereits mit Begriffen wie Globalisierung, Weltgesellschaft und Lerngemeinschaften. Dem Soziologen ging es aus ökonomischen Gründen, aber auch aus solchen der geistigen Ökonomie vor allem darum, „das Reservoir unserer Kompetenzen und Begabungen“ voll auszuschöpfen. Deutschland sollte sich eine „Fernkompetenz“ aneignen, um im Austausch mit anderen Ländern und Kontinenten neue Lern- und Erfahrungshorizonte zu gewinnen.

Das Allgegenwartswort „Globalisierung“ zeichnet das Bild einer sich unaufhaltsam vereinheitlichenden Welt. Aber während die Oberfläche der einen Welt immer einförmiger wirkt, stoßen darunter heftiger als je zuvor die unterschiedlichen Lebensweisen aneinander. Viel wird in der Weltgesellschaft der Zukunft davon abhängen, dass sich zwischen den einzelnen Kulturen zunehmend Lerngemeinschaften herausbilden und dass durch die Bündelung unterschiedlicher Erfahrungen unsere gemeinsamen Innovationschancen wachsen.

Wolf Lepenies

Weitere zehn Jahre später wird darüber nachgedacht, inwiefern eine „Strukturreform des Bildungssystems“ in den gefährlichen Zeiten der Globalisierung dazu beitragen kann, das "Obsolenzrisiko des Humankapitals" zu minimieren. Die Beschleunigung des technischen Fortschritts „als zentrale Triebfeder der Globalisierung“ macht es demnach notwendig, einen permanenten Upgrading-Prozess durchzuführen und „das Humankapital einer alternden Gesellschaft laufend zu aktualisieren“.

Inmitten dieser und vieler weiterer Sichtweisen hat der Aktionsrat Bildung nun sein zweites Jahresgutachten platziert. Nach der viel diskutierten Studie über Bildungsgerechtigkeit geht es in der aktuellen Untersuchung um die Auswirkungen moderner Globalisierungsprozesse auf das deutsche Bildungssystem und die möglichen Konsequenzen für die zukünftigen Bürger einer Wissensgesellschaft. Das Expertengremium, in dem mit Dieter Lenzen, Hans-Peter Blossfeld, Wilfried Bos, Detlef Müller-Böling, Manfred Prenzel und Ludger Wößmann erneut einige der namhaftesten Bildungswissenschaftler vertreten waren, ist davon überzeugt, dass in Deutschland zu wenig getan wird, um die Menschen auf die veränderten Anforderungen durch die Globalisierung vorzubereiten.

Unter dem viel zitierten Begriff versteht der Aktionsrat das Zusammenwirken von vier makrostrukturellen Entwicklungen:

  1. zunehmende Internationalisierung von Finanz-, Produkt- und Arbeitsmärkten
  2. Standortwettbewerb
  3. sprunghafter Fortschritt neuer Informations- und Kommunikationstechnologien
  4. Instabilität und Verwundbarkeit lokaler Märkte.

Um diese Herausforderungen langfristig bewältigen zu können, sind nach Einschätzung des Aktionsrats Reformprojekte für unterschiedliche Lebensalter notwendig.

Frühe Kindheit und Primarschule

Handlungsbedarf sehen die Bildungswissenschaftler vor allem im Bereich der frühkindlichen Erziehung. In Deutschland fehle es schon im Kindergarten an der systematischen Vermittlung einer Fremdsprache, dann aber auch an der institutionellen Förderung von Kindern aus benachteiligten und bildungsfernen Familien, die zu Hause mit einem „niedrigen Anregungsniveau“ auskommen müssen.

Der Aktionsrat kann sich vorstellen, dass die Kleinen bereits mit zwei Jahren in die Kita kommen und im Kindergarten Englisch lernen, vermisst aber überdies Maßnahmen zur Abstimmung und Vernetzung von Kindergarten und Grundschule sowie zur Kooperation des Fachpersonals. In der aktuellen Situation müsse viel eher die Frage erlaubt sein, „ob das Erzieherpersonal selbst ausreichend auf die Anforderungen der Globalisierung vorbereitet ist, und ob es über notwendige Qualifikationen verfügt, die für eine umfassende Bildungsförderung nötig sind“.

Im Primarbereich sehen die Forscher ähnliche Defizite und erwarten hier nicht nur eine stärkere Konzentration auf den Erwerb früher Sprachkompetenzen, sondern auch eine Orientierung an den Vorstellungen der interkulturellen Pädagogik.

Sekundarbereich und Berufsausbildung

Im Sekundarbereich scheint das Notwendige bereits erkannt, aber kaum ansatzweise umgesetzt zu sein. Eine „funktionale Sicht auf muttersprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen als basale Kulturwerkzeuge“ spielt in der Unterrichtspraxis nach Meinung des Aktionsrats noch keine ausreichende Rolle. Überdies würden Fremdsprachenkenntnisse neben der englischen Sprache vor allem an Haupt- und Realschulen „kaum gelehrt“. In Zukunft seien aber darüber hinaus noch „interkulturelle Kompetenzen, Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, Identitätsfindung und Perspektivenübernahme“ gefordert.

Deutschland habe mit der starken „Gliedrigkeit“ seiner Sekundarstufe bislang keine überzeugenden Erfolge erzielt und solle sich deshalb eher an Schulmodellen orientieren, bei denen mit dem Auflösen von Jahrgangsklassen, der Bildung größerer thematischer Unterrichtsblöcke oder geleiteten Selbststudien gearbeitet werde.

Die Trägheit des deutschen Bildungssystems wird u. a. dadurch bedingt, dass Kooperationen auf der Ebene der Schule nur unzureichend ausgebildet sind und Erfordernisse der Professionalisierung des Lehrpersonals im Sinne pädagogischer Akteure nicht erkannt werden. Kooperationsprogramme wie beispielsweise SINUS existieren bislang nur modellhaft. Auch Ansätze der Schulautonomie werden in Deutschland im internationalen Vergleich kaum verfolgt.

Bildungsrisiken und -chancen im Globalisierungsprozess

Doch auch der Unterricht selbst lässt vieles zu wünschen übrig. Nach Meinung der Experten ist er nicht nur „kleinschrittig und lehrergesteuert“, sondern verzichtet auch weitgehend auf Einzel- und Gruppenarbeitsphasen, konzentriert sich zu selten auf effektive Problemlösungen „und wählt kaum bedeutungsvolle Kontexte“.

Das duale Ausbildungssystem hat demgegenüber zwar historische Meriten und mancherlei praktische Vorteile, doch auch hier sieht der Aktionsrat erheblichen Verbesserungsbedarf und kritisiert neben der mangelnden Flexibilität und Durchlässigkeit vor allem die weitgehende Chancenlosigkeit leistungsschwacher Schulabgänger. Vorgeschlagen wird stattdessen eine radikale Reduktion der Ausbildungsberufe nach dem Berufsgruppenprinzip und die Verstärkung der Bemühungen im Rahmen erfolgversprechender Projekte wie des Nationalen oder Europäischen Qualifikationsrahmens.

Veränderungsprozesse der Globalisierung erfordern letztlich auch eine Stärkung allgemeiner Bildungsinhalte. Eine zu berufsspezifische Ausbildung birgt die Gefahr, im Zuge der schnellen Wandlungsprozesse obsolet zu werden. Es besteht ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den engen berufsspezifischen Erwartungen der Unternehmen einerseits und den Flexibilitätserfordernissen und der Anpassungsfähigkeit des Einzelnen andererseits. Eine Stärkung allgemeiner Inhalte erhöht die Anpassungsfähigkeit des Einzelnen im Zuge des Globalisierungsprozesses.

Bildungsrisiken und -chancen im Globalisierungsprozess

Hochschulbildung

Der Bologna-Prozess, der die „Entwicklung einer Marke“ initiiert habe, ist für den Aktionsrat der Schlüssel zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Hochschulpolitik. Dabei geht es aber nicht allein um neue Organisationsformen, sondern um grundlegende Strukturveränderungen, die das Bildungsverständnis selbst tangieren und – wenn möglich – korrigieren sollen.

Der Bologna-Prozess impliziert auch ein verändertes Modell des Lernens, dem zufolge kompetenzorientierte, aktivierende Lehr- und Lernformen in den neuen Studiengängen gestärkt werden sollen. Hinsichtlich des Erwerbs globalisierungsrelevanter Kompetenzen müssen eine Reform der Studiengänge in Richtung eines veränderten Grundverständnisses erfolgen und solche Kompetenzen gestärkt werden, die in einer globalisierten Welt erforderlich sind: Ambiguitätstoleranz, Entscheidungsfähigkeit und Transferfähigkeit. Aber auch unmittelbar globalisierungsrelevante Kompetenzen wie Fremdsprachenkenntnisse oder interkulturelle Kompetenz gewinnen an Bedeutung.

Bildungsrisiken und -chancen im Globalisierungsprozess

Die Bildungswissenschaftler verlangen ausdrücklich eine „Stärkung arbeitsmarktrelevanter Ausbildungselemente“ und bemängeln, dass nur etwa ein Drittel der Hochschulen „die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts systematisch in die Gestaltung der Curricula einbezieht“.

Zu allem Überfluss zeichnet sich langfristig ein deutlicher Rückgang der Schulabsolventenzahlen ab, dem nicht nur durch das berühmte lebenslange Lernen beizukommen ist, selbst wenn es gelingt, ein „Weiterbildungsmarketing in differenzierter Form altersspezifisch auszurichten, um Disparitäten im Weiterbildungssektor langfristig zu überwinden“. Der Aktionsrat empfiehlt angesichts des perspektivischen Absinkens der Studierendenzahlen und des Akademikeranteils insgesamt neue Studierende zu gewinnen, „die nach Abschluss dem heimischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen“.

Marktführerrollen im Anstieg an Studierwilligen werden von 2000 bis 2025 Indien mit einem Anwachsen von 9,6 auf 61 Mio. und China mit einer Zunahme von 8 auf 45 Mio. Studierwilligen einnehmen. In Europa wird der Bedarf an Studienplätzen von 25 auf 41 Mio. steigen. Für Deutschland resultieren daraus zwei Aufgaben: Zum einen muss sich Deutschland in neuen Märkten mit steigender Bildungsnachfrage etablieren und zum anderen seine Führungsposition in anderen Märkten verteidigen. Dies bedarf einer systematischen Hochschulentwicklung.

Bildungsrisiken und -chancen im Globalisierungsprozess

Die Bildung und der Markt

Wer schon mit dem ersten Jahresgutachten des Aktionsrats terminologische Schwierigkeiten hatte, wird mit dem Nachfolger erst recht Probleme bekommen. Denn das „Expertengremium“ um den nicht überall gleichermaßen beliebten Präsidenten der FU Berlin Dieter Lenzen spricht diesmal noch unverhohlener aus, worum es den Forschern bei der von der Informationszentrale der Bayerischen Wirtschaft in Auftrag gegebenen Studie eigentlich ging.

Insgesamt müssen deutsche Hochschulen in diese Marktsegmente einsteigen, wenn sie im Globalisierungsprozess nicht benachteiligt werden und Lösungen für die sinkenden Studierendenzahlen im eigenen Land finden wollen.

Bildungsrisiken und -chancen im Globalisierungsprozess

Die Frage, die der Aktionsrat gar nicht mehr stellt, ist freilich die entscheidende. Sollen Hochschulen in Marktsegmente einsteigen und ihre Absolventen den Bedingungen der Globalisierung anpassen oder Studierenden – unabhängig von Alter, Nationalität, Herkunft und Geschlecht – ein Bildungsangebot unterbreiten, das ihnen hilft, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich in der Welt auch jenseits utilitaristischer Erwägungen zurecht zu finden?

Wer sich für die zweite Option entscheidet, kann weiten Teilen der ernüchternden Analyse, die der Aktionsrat dem deutschen Bildungssystem angedeihen lässt, übrigens durchaus zustimmen. Soziale Auslese, mangelnde Effizienz und fehlende Lern- und Leistungsbereitschaft sind keine Qualitätsnachweise, doch das gilt umgekehrt eben auch für die bloße Funktionstüchtigkeit.

Womit wir denn wieder bei den Problemen wären, welche die Menschheit schon vor langer Zeit beschäftigten. „In alten Zeiten“, so notierte Konfuzius vor rund 2500 Jahren, „lernte man, um sich selbst zu vervollkommnen; heute dagegen lernt man, um anderen gegenüber etwas zu gelten.“