Ist der Islam ursprünglich eine Version des Christentums?

Islamwissenschaftler Karl-Heinz Ohlig über die Frühgeschichte des Islam

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In den letzten Jahren meldeten sich Islamwissenschaftler, Philologen und Historiker zu Wort, die historisch-kritisch die Geschichte des Islams untersuchen. Zu ihnen gehört Professor Karl-Heinz Ohlig von der Universität Saarland. In einem zweiteiligen Interview spricht der deutsche Religionswissenschaftler über seine Forschungsergebnisse, die die Frühgeschichte des Islam in einem vollkommen neuen Licht zeigen.

Eines Ihrer Bücher zur frühen Geschichte des Islam trägt den Titel „Die Dunklen Anfänge“. Was ist denn dunkel an der Entstehung des Islam, die man doch in jedem bekannten Lexikon detailliert nachlesen kann?

Karl-Heinz Ohlig: Schon Ignaz Goldziher, einer der „Väter“ der Islamwissenschaft, hat in einem Vortrag im Jahr 1900 an der Sorbonne davon gesprochen, dass diese Anfänge recht ungeklärt sind. Tatsächlich bietet der Koran keinerlei biographisches Material zu Mohammed. Nur vier Mal kommt dieser Begriff vor, und nur an einer Stelle ist mit Sicherheit damit ein arabischer Prophet gemeint – wahrscheinlich eine recht späte Versgruppe. Mekka wird nur einmal, ohne irgendeinen Zusammenhang, erwähnt, Medina („Stadt“) dreimal, wobei unklar ist, ob nicht einfach „Stadt“ zu verstehen oder ob das spätere Medina („Stadt [des Propheten]“) gemeint ist. Auch sonst gibt es keine Hinweise auf die Arabische Halbinsel. So sind alle „Informationen“ zu den Anfängen des Islam erst späteren Texten entnommen: „Biographien“, die im 9. und 10. Jh. aufgeschrieben wurden. Aus einem dieser Texte, den „Annalen“ des at-Tabari (10. Jh.) stammen auch die Schilderungen der weiteren Geschichte. So fehlen für die ersten zwei Jahrhunderte zeitgenössische Texte, auf die man sich stützen könnte.

Die Geschichte des Islam wurde also 150 bis 200 Jahre nach dem Tod von Propheten Mohammed (632 n. Chr.) aufgeschrieben. Warum wurde erst so spät mit der Niederschrift einer islamischen Geschichte begonnen?

Karl-Heinz Ohlig: Wahrscheinlich konnte man erst ein Leben Mohammeds und weitere Abläufe beschreiben, nachdem sich diese Vorstellungen über die Anfänge herausgebildet hatten, ansatzweise nicht vor der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, und sich der Islam als eigenständige Religion des arabischen Reichs ausgebildet hatte. In Analogie zum Vorgehen des Pentateuch, der die Anfänge der Jahwereligion in die Moseszeit verlegt, hat man nun einen großartigen und kohärenten Anfangsmythos entworfen.

Können die Aufzeichnungen nach einer Zeitspanne von ein, zwei Jahrhunderten noch genau sein? Ist die islamische Literatur des 9. und 10. Jahrhunderts nicht notgedrungen ein Sammelsurium von Halbwahrheiten, das man nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten vielleicht sogar als eine Fälschung bezeichnen müsste?

Karl-Heinz Ohlig: Diesen Entwurf als Fälschung zu bezeichnen, ist – ebenso wie bei den Büchern Mose oder der Romulus-Remus-Erzählung – falsch, weil dabei die literarischen Gattungen nicht berücksichtigt werden. Religiös-politische Gründungsmythen sind keine Geschichtsschreibung, und wollen dies auch nicht sein.

Aber sind es nicht genau diese „religiös-politische Gründungsmythen“, die heute unter vielen Muslimen für real gehalten werden? Selbst in der Fachliteratur zur Islamgeschichte wird die tradierte Version nicht in Frage gestellt.

Karl-Heinz Ohlig: Gründungsmythen haben die Funktion, durch Rückgriff auf eingängige narrative Traditionen Identität zu stiften. In vorkritischen Gesellschaften werden sie selbstverständlich für real gehalten. Davon unabhängig aber fragt historisches Denken nach den tatsächlichen Abläufen. Dies ist auch in der Islamwissenschaft in Gang gekommen, wenn auch reichlich spät. So vertritt z.B. die in Amerika lehrende Islamwissenschaftlerin Patricia Crone die These, die Anfänge des Islam seien nicht auf der Arabischen Halbinsel zu suchen. Die Gestalt Mohammed hält sie aber für historisch, seltsamerweise nicht auf Grund muslimischer, sondern christlicher Texte. Bei letzteren erweisen sich allerdings die sehr seltenen Erwähnungen eines Mohammed als Jahrhunderte spätere Interpolationen von Abschreibern in ältere Texte, die von ihm nichts wussten.

Welche Rolle spielen die Hadithe, die überlieferte Lebensgeschichte und Aussprüche des Propheten Mohammeds? Sie wurden ebenfalls über ein Jahrhundert lang mündlich von Erzähler zu Erzähler weiter vermittelt, schließlich gesammelt und niedergeschrieben. Wie zuverlässig sind die Überliefererketten?

Karl-Heinz Ohlig: Die Hadithe und ihre Sammlung im 9. Jh. wurden notwendig, weil neue Probleme und Fragen auftauchten, für die im koranischen Material kein Bezug zu finden war. Durch sie konnten neue Rechtsfragen, Gemeindesituationen usw. mit Bezug auf Mohammed beantwortet werden. Diesem, seit dem 19. Jh. schon als weithin legendarisch beurteilten Material sollte ein hohe Autorität durch die Vorschaltung von Überliefererketten, die die Berichte als Überlieferung seit Mohammed kennzeichnen wollen, zugewidmet werden, die als theologische Legitimationsformeln, nicht als historische Information zu verstehen sind.

Aber in der Realität ist das doch, wie auch im Fall des Gründungsmythos, anders. Hadithe werden als historische Information verstanden. In einigen muslimischen Ländern sind sie die Basis der Rechtsprechung. Taugen sie als Basis für Richtersprüche?

Karl-Heinz Ohlig: Hadithe sind Basis für die Rechtsprechung neben anderen Quellen: dem Koran, der Übereinstimmung in der Rechtstradition oder dem freien Ermessen des Richters. Ob sie als Basis „taugen“, entzieht sich meiner Kenntnis. Historische Informationen aber bieten sie prinzipiell nur für das, was man in den Kontexten ihrer Entstehung dachte, nicht für Worte Mohammeds.

Der Islam wurde die Staatsreligion des mächtigen arabischen Großreichs im 9. Jahrhundert

Sie haben in den letzten drei Jahren zwei Bücher zur neusten Forschung über die Entstehungsgeschichte des Islam herausgebracht. Laut Ihrer These war der Islam zu Anfang nicht als eigenständige Religion gedacht. Welche Beweise haben Sie und Ihre Forscherkollegen dafür gefunden?

Karl-Heinz Ohlig: Laut Zeugnis der christlichen Literatur unter arabischer Herrschaft im 7. und 8. Jh., aber auch der arabischen Münzprägungen und der Inschriften, z.B. im Felsendom in Jerusalem, vertraten die neuen Herrscher ein syrisch-persisches Christentum, das die Beschlüsse des Konzils von Nizäa nicht anerkannte: Jesus ist für sie Gesandter, Prophet, Knecht Gottes, aber nicht physischer Sohn Gottes, und Gott ist unitarisch einer, ohne „Beigesellung“. Deswegen ordnet sie der Kirchenvater Johannes von Damaskus, gest. um 750, unter die christlichen Häretiker ein, weil sie seinem griechischen Verständnis von Christentum nicht entsprachen. Vor dem 9. Jh. ist von einer neuen, eigenständigen Religion der Araber nicht die Rede.

Das heißt, der Islam wurde erst später zu einer eigenständigen Religion gemacht?

Karl-Heinz Ohlig: Diese Formulierung klingt ein wenig nach Willkür oder bewusster Aktion. Es ist vielmehr so, dass Religionen oft entstehen, indem sie bei religiösen Vorstellungen der Tradition, aus der sie kommen, eine neue Gewichtung des Ererbten vornehmen, dieses anders interpretieren und in spezifischer Weise verfestigen und systematisieren.

Spielte die Politik der damaligen Zeit nicht auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Islam als eigenständige Religion?

Karl-Heinz Ohlig: Der Islam wurde die Staatsreligion des mächtigen arabischen Großreichs im 9. Jahrhundert, das damit seinen Anspruch auf „universale“ Geltung und Herrschaft untermauern konnte.

Das arabische Großreich machte eine verbindende neue Religion nötig, als Fundament einer neuen Welt quasi, um sich vom Rest abzusetzen, Differenz zu schaffen? Ein Imperium braucht auch eine spirituelle Quelle? Eine Religion und Botschaft, die es auch zu verbreiten gilt?

Karl-Heinz Ohlig: Dies scheint, in Konkurrenz zum Byzantinischen Reich, eine plausible Erklärung zu sein.

Warum wurde in der gängigen Forschung bisher selten über diese Faktoren und Zusammenhänge nachgedacht und meist von einer unverrückbaren islamischen Geschichte ausgegangen? Warum hat man nicht, wie beim Christentum, kritisch hinterfragt?

Karl-Heinz Ohlig: In der muslimischen Theologie sind Fragestellungen dieser Art verboten; sie hat bisher noch keine Aufklärung durchlaufen. Die westliche Islamwissenschaft beschäftigt sich weithin mit Philologie, ohne die in der Geschichtswissenschaft etablierten Methoden anzuwenden. Ebenso wenig untersuchen sie den religionsgeschichtlich und christlich-theologisch äußerst differenzierten kulturellen Raum des Vorderen Orients, so dass die Wurzeln und Motive aus diesen Traditionen nicht erkannt werden. Aber es gibt dennoch auf der ganzen Welt eine Reihe von Islamwissenschaftlern, die kritische und weiterführende Beiträge und Untersuchungen publiziert haben, die insgesamt gänzlich neue Perspektiven aufscheinen lassen. Weil es gegen zeitgenössische Quellen und historische Belege keine Argumente gibt, werden sich die traditionellen Auffassungen auf Dauer nicht halten können.

Welche Fehler wurden von der nicht-kritischen Forschung gemacht, beziehungsweise, was hat man unterlassen?

Karl-Heinz Ohlig: Man hat vergessen, dass historische Abläufe nur dann beschreibbar sind, wenn sie historisch-kritisch anhand von zeitgenössischen Quellen verifiziert werden können. Es gibt nicht wenige Epochen, über die nur kaum Zeugnisse erhalten sind. Das gilt für die Entstehungsphasen vieler Religionen, z.B. für den Buddhismus, den Zoroastrismus, die jüdische Religion, und auch im Christentum gibt es Fragen zum historischen Jesus. Die Anfänge des Islam werden in der sehr viel späteren Literatur detailliert entfaltet, und es mag durchaus sein, dass auch historische Traditionen in sie eingegangen sind. Aufs Ganze gesehen aber dokumentiert sie nicht die Anfänge, sondern das Denken des 9. und 10 Jahrhunderts über die Anfänge. Die westliche Islamwissenschaft hätte alle Möglichkeiten kritischer Untersuchungen gehabt. Aber sie hat sie nicht ausreichend wahrgenommen.

Von Alfred Hackensberger ist gerade das Lexikon der Islamirrtümer im Eichborn Verlag erschienen.