Hat es Mohammed als historische Gestalt gegeben?

Islamwissenschaftler Karl-Heinz Ohlig über die Frühgeschichte des Islam

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Für Muslime sind der Koran, das Leben und Wirken ihres Propheten Mohammed unerschütterliche Wahrheiten. Gibt es aber tatsächlich nur eine einzige Version des Korans und hat Mohammed wirklich so gelebt, wie es die islamische Geschichteschreibung besagt? Um diese Fragen geht es im zweiten Teil des Interviews mit Professor Karl-Heinz Ohlig von der Universität Saarland über die Frühgeschichte des Islam. Erster Teil des Gesprächs: Ist der Islam ursprünglich eine Version des Christentums?.

Rudi Paret, ein bekannter Philologe und Islamwissenschaftler, sagte einmal, dass der Koran nicht anzuzweifeln sei. Teilen Sie diese Auffassung?

Karl-Heinz Ohlig: Rudi Paret hielt den Koran in allen seinen Sätzen für authentisch, d.h. auf Mohammed zurückgehend. Diese These ist durch keinerlei Quellen gestützt, also ein bloße Behauptung. Er meint auch, wie viele andere, die Sammlung der Sprüche Mohammeds sei unter dem dritten Kalifen Osman, wenig mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod des Propheten, abgeschlossen worden.

Das stimmt also nicht, dass es nur eine einzige Version des Korans gab? Welche Beweise gibt es dafür?

Karl-Heinz Ohlig: Die noch erhaltenen Fragmente von Koranhandschriften, die ältesten wohl alle aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts, zeigen ein anderes Bild: Es gab andere Surenfolgen, Textkomplexe fehlen noch usw. Der Koran war erst im Entstehen, die erste Ganzschrift lässt sich auf das Jahr 870 datieren. Vor allem aber sind die ältesten Handschriften „defektiv“ geschrieben: Sie kennen, wie alle semitischen Schriften, keine Vokalzeichen, anders als in anderen semitischen Buchstabenschriften sind aber auch die Konsonanten mehrdeutig. Diese werden auch in der heutigen arabischen Schrift in ihrer Bedeutung erst klar durch die sog. diakritischen (unterscheidenden) Zeichen: ein bis drei Punkte über einem mehrdeutigen Buchstabenzeichen, die den gemeinten Konsonanten exakt festlegen. In den alten Koranhandschriften aber sind die Konsonanten unbestimmt: Ein Zeichen kann für zwei bis fünf Konsonanten stehen, so dass diese Texte ohne weitere Erklärung nicht lesbar sind. Das ist der Grund, warum sie im Lauf der Zeit – bis zum Ende des 9. Jahrhunderts – voll ausgeschrieben wurden (Plene-Schreibung). Hierbei sind den Abschreibern naturgemäß Interpretationsfehler unterlaufen.

Mit den „Interpretationsfehlern“ beziehen Sie sich auf die Arbeiten von Christoph Luxenberg. Er hat den Koran mithilfe von Syro-Aramäisch, der lingua franca zurzeit von Prophet Mohammed, neu gelesen und plötzlich die zahlreichen dunklen, bisher unverständlichen Passagen im Koran entschlüsselt.

Karl-Heinz Ohlig: Christoph Luxenberg hat nachgewiesen, dass der Koran in einem aramäisch-arabischen Sprachumfeld geschrieben wurde, so dass nicht wenige Passagen erst ihren Sinn enthüllen, wenn sie als mit arabischen Buchstaben geschriebene aramäische Texte gelesen werden. In einer neuen Untersuchung hat er darüber hinaus anhand von Abschreibefehlern aufgezeigt, dass die Schreiber des Koran syrische Textvorlagen benutzt haben, der Koran also eine syro-aramäische und somit christliche Vorgeschichte hat. Dies entspricht auch dem Befund der arabischen Münzprägungen, die zeigen, dass die koranische Bewegung ihre Ursprünge weit östlich von Mesopotamien, also im syrisch-persischen Raum hat.

Warum findet erst jetzt eine kritische Auseinandersetzung mit der islamischen Historie statt? Sicherlich, es gab Ausnahmen, aber die wurden stets von der ‚scientific community’ abgetan.

Karl-Heinz Ohlig: Seit dem 19. Jh. hat die europäische, vor allem die deutsche Islamwissenschaft, die oft von jüdischen Gelehrten betrieben wurde, bedeutende Leistungen erbracht. Die Zeit des Nationalsozialismus brachte eine schlimme Zäsur. Heute kommt es darauf an, an die früheren wissenschaftlichen Traditionen anzuknüpfen, zugleich aber das Spektrum der Forschung durch interdisziplinäre Zusammenarbeit von Islamwissenschaftlern mit Semitisten, Indogermanisten, Theologen, Religionswissenschaftlern, Numismatikern oder – für Spanien – Hispanisten zu vertiefen. Nur auf diese Weise können die komplexen Entstehungsbedingungen des Islam sachgerecht erfasst werden. Ein wichtiges Postulat wäre, wie in den Bibelwissenschaften selbstverständlich, die Erstellung einer kritischen Koranedition anhand der frühen Handschriften, damit die Koranexegese sich nicht weiterhin ausschließlich auf den Kairiner Text von 1925 stützen müsste, von dem einfach – fälschlich – behauptet wird, er entspreche dem von Osman festgelegten Text.

Keine Religion ist vom Himmel gefallen

Sie haben auch versucht, historisch-kritisch über die Figur Propheten Mohammeds zu forschen. Hat es ihn tatsächlich gegeben?

Karl-Heinz Ohlig: Nachweisen lässt sich, dass die frühesten Münzprägungen mit dem Motto MHMT im Osten Mesopotamiens um 660 auftauchten, ihren Weg nach Westen nahmen und dort bilinguale Münzen geprägt wurden, in deren Mitte MHMT und am Rand in arabischer Schrift muhammad steht. Diese Münzen tragen eine christliche Ikonographie, z.B. immer wieder Kreuze, so dass muhammad offensichtlich, wie im Sanctus der Messe („hochgelobt sei, der da kommt ...“) als ein Prädikat Jesu verstanden wurde; muhammad heißt der Gelobte, Gepriesene oder der zu Lobende, zu Preisende. Dies entspricht auch dem Text der Inschrift im Felsendom, wo der Titel muhammad auf den Messias, Jesus, Sohn der Maria und Knecht Gottes bezogen ist, ebenso auf die Polemik des Johannes Damascenus gegen diese für ihn häretische Aussage.

Später scheint sich dieses christologische Prädikat von seinem Bezugspunkt gelöst zu haben, so dass es auf den im Koran häufig angesprochenen, namenlosen Propheten bezogen und somit in der Gestalt eines arabischen Propheten historisiert werden konnte. Diese Historisierung ist ebenfalls, die früheste Quelle, von Johannes von Damaskus bezeugt, der von dem Pseudopropheten Mamed spricht. Erst danach konnten die reichhaltigen Erzählungen von diesem Mohammed die historischen Defizite auffüllen.

Nach ihren Erläuterungen bleibt nur ein Schluss, dass Mohammed als historische Figur, wie sie heute bekannt ist, nicht existierte. Und er wurde erst im 9. und 10. Jahrhundert zu dem, was er ist?

Karl-Heinz Ohlig: Es ist durchaus möglich – wenn auch bisher nicht historisch erweisbar -, dass es am Anfang oder auch an einer anderen Stelle in der Geschichte der koranischen Bewegung einen wichtigen Prediger gegeben hat. Nach dem Zeugnis der arabischen Münzen oder z.B. der Inschrift im Felsendom aber muss angenommen werden, dass der Begriff muhammad, der Gelobte oder zu Lobende, ursprünglich ein christologischer Würdename war.

Strenggläubige Christen sind von Ihren Forschungsergebnissen sicherlich hoch erfreut. Sie können nun behaupten, das Christentum ist die eigentlich richtige, wahre Religion.

Karl-Heinz Ohlig: Bei historischen Untersuchungen geht es nicht um die religiöse Wahrheitsfrage. Zudem gibt es keine Religion, die vom Himmel gefallen ist. Alle sind aus Vorgängerreligionen entstanden, so z.B Taoismus und Konfuzianismus aus der chinesischen Reichsreligion, Hinduismus und Buddhismus aus der vedischen Religion, die jüdische Religion setzt die ganze kulturelle und religiöse Tradition des Alten Orients voraus, das Christentum die jüdische Mutterreligion, der Islam das syrische Christentum. Im Ergebnis sind somit alle Religionen vielfältig bedingt und vereinigen in sich synkretistisch viele traditionelle Motive, Erzähltraditionen, Kultbräuche, ethische Auffassungen, Institutionen usf.

In der Einleitung ihres Buchs, „Der Frühe Islam“ schreiben Sie, dass Sie diese Religion nicht beschädigen wollen. Viele Muslime sehen das sicherlich anders, sie werden ihre Forschung eher als Angriff empfinden. Was können Sie ihnen entgegenhalten?

Karl-Heinz Ohlig: Die Aufklärung wurde seit dem 18. Jh. von vielen Christen – von manchen bis heute – als Angriff und Destruktion ihrer Religion empfunden und angesehen. In Wirklichkeit aber hat sie es dem Christentum ermöglicht, in der Moderne zu bestehen und auch für moderne Menschen lebbar zu sein. Diese Schritte hat der Islam noch vor sich, aber sie sind auch für ihn unausweichlich, wenn er eine Zukunft nicht nur in ghettohaft abgeschlossenen Gesellschaften haben will.

Gerade heute sieht es nicht so aus, als würde es viel Bereitschaft für eine Aufklärung in muslimischen Ländern geben. Warum hat dort noch keine Aufklärung stattgefunden?

Karl-Heinz Ohlig: Vom 9. bis zum 11. Jh., mit einer Nachblüte in Spanien, sind in den islamischen Gesellschaften bedeutende kulturelle Entwicklungen festzustellen, in Philosophie, Medizin, Mystik, „Naturwissenschaft“ usw. Danach begann eine Phase der Regression. Unter der Vorherrschaft traditionell-rechtlichen Denkens konnten diese Ansätze nicht fortgeführt werden. Die Konfrontation mit der europäisch-christlichen Welt seit den Zeiten von Kolonisation und Imperialismus hat eine Rezeption des aufgeklärten Denkens schwierig gemacht, weil sie mit dem Makel des Unislamischen einherging und –geht. In den islamischen Gesellschaften fehlt auch ein wichtiges Element der europäischen Aufklärung: ein Bürgertum. Aufklärung scheint zwar in der globalisierten Welt unausweichlich, aber sie wird anders verlaufen als in Europa, dort aber, im Euro-Islam, wohl ihren Anfang nehmen. Aber auch in der islamischen Staatenwelt wird sie, mit zunehmender Alphabetisierung auch der Frauen, durch die Zwänge des Wirtschaftens und die mediale Präsenz der ganzen Welt und den Zugang zu allem verfügbaren Wissen, das Denken verändern. Über die zu erwartenden Zeitperspektiven kann man nur spekulieren.

Und wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung innerhalb der westlichen Islamwissenschaften und der breiten Öffentlichkeit. In einem großen Islam-Artikel im Spiegel wurde ihre Forschung eher am Rande abgetan. Muss nicht auch der Westen seine Perspektive verändern?

Karl-Heinz Ohlig: Das sind viele Fragen. Ich beschäftige mich als Religionswissenschaftler in Forschung und Lehre seit 1973 mit allen möglichen Religionen, auch dem Islam, besonders aber mit dem Christentum. Nirgendwo aber sind in der wissenschaftlichen Literatur die überprüfbaren historischen Aussagen so mager wie für die Anfänge des Islam. Einen bequemen Konsens in Frage zu stellen, ist immer ein wenig schwierig, und es erfordert Zeit. Dies gilt auch für die Medien, deren Vertreter gelegentlich nicht geeignet sind, diese Probleme und Motive zu verstehen. Mittlerweile gibt es aber eine große internationale Forschergruppe aus einer ganzen Reihe von Disziplinen, die diese Fragen aufgreift und die Quellen kritisch untersucht. Diese wissenschaftliche Entwicklung lässt sich nicht mehr aufhalten.