Kein "Verlangen nach Leben" mehr

Die mediale Flut der 1968er-Rückblicke unter den Bedingungen des Neoliberalismus

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Ein neues Hassobjekt ist zu besichtigen. Was vereint die ehemalige TV-Moderatorin Eva Hermann, den „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann und den Sternreporter Tielman Gerwien? Die Vorliebe für das intensive „68er-Bashing“, also das verbale Einprügeln auf einen Mythos auf möglichst niedrig gehaltenem Niveau. Die „68er“, also diese seltsamen Wesen aus einer fernen Vergangenheit, haben im Diktus nicht nur dieses medialen Dreigestirns schwere Schuld auf sich geladen. Sie haben „praktisch alles das, was wir an Werten hatten, abgeschafft“ (Herman), sie haben den „Gutmenschen“ erfunden (Diekmann) und sie haben „ganze Schülergenerationen“ mit „Trivialkitsch von Wallraff bis Böll“ betrogen (Gerwien).

Verblüffend ist, wie hoch emotional aufgeladen die „Abrechnung“ mit diesen „68ern“ ist, sie sind eine „Plage“, „abstoßend“ oder einfach ungepflegt und sprachen im „schneidenden Ton eines pietistischen Pfarrhauses“. Und wenn davon die Rede ist, dass sich die „68er“ es sich im System als „Gleichstellungsbeauftragte“ oder Uni-Dozent „gemütlich“ gemacht hätten und die Revolte in Zeiten von „Vollbeschäftigung und fetten Renten“ einfach „billig zu haben war, dann verstärkt sich der Verdacht, dass hier die „68er“ Projektionsfläche für die Ängste, die Enttäuschungen und die Zukunftslosigkeit der Gegenwart sind.

Und genau dies ist eine der eigenartigen Leerstellen im bunten Fleckerlteppich der Thematisierung von 1968. Zwar stellt sich Reiner Langhans noch einmal nackend an die Wand, plaudert Bundeskanzlerin Angela Merkel über diese ihre Zeit in der DDR und Historiker und Ex-Radikale wie Götz Aly ziehen Vergleiche zur Nazi-Zeit. Bei all diesem Erinnern, Drehen, Wenden und Dekonstruieren - man kann sozusagen bei der aktuellen Produktion von zeitgenössischer Ideologie zusehen - fehlt aber schlicht der Hinweis auf die Bedingungen dieser Produktion - auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse und ihr Vergleich mit 1968.

Vision einer „klassenlosen Gesellschaft“

Was immer zu „1968“ an schillernden Beschreibungen kursiert, das Datum verweist jedenfalls auf zwei sozialstrukturelle Tendenzen der damaligen Zeit. Zum einen den politischen und kulturellen Schulterschluss von Söhnen und Töchtern des Bürgertums, von Intelligenz und von Intellektuellen mit der „Sache der Arbeiterklasse“. 1968 war der Ausgangspunkt einer neuen Dynamik der ideologischen Lager, die schließlich zu einer rot-grünen Formation führte.

Dieses politisch-ideologische Lager, das einer konservativen Formation gegenüberstand, war nach den Gründerjahren nach 1968 von zwei Leitgruppen geprägt: Einerseits dem arbeitnehmerorientierten Intelligenzmilieu und andererseits den kritischen Aufstiegs- und höheren Bildungsmilieus. Diese Gruppen standen zunächst quer zu den alten vertikalen Klassenunterschieden und hatten eine gemeinsame Grundlage in den neuen sozialen Bewegungen. Die gemeinsamen Ziele wie etwa Frauenemanzipation schienen klassenübergreifend und „universalistisch“ zu sein. Illustrativ könnte man sagen, bei Demonstrationen gegen die Atomkraft fand sich der Sohn aus dem bürgerlichen Bildungshaushalt neben dem Sohn des Facharbeiters wieder.

Diese Annäherung der höheren sozialen Milieus an die Arbeitermilieus hatte immer auch groteske Züge, etwa wenn sogenannte „K-Gruppen“ ihren Mitgliedern Bier statt Wein empfahlen - das sei proletarischer. Oder wenn Künstler sich aus „Solidarität mit der Arbeiterklasse“ an das Band bei Opel in Bochum begaben und Rundfunkredakteurinnen von ihren Orgasmen mit dem proletarischen Liebhaber schwärmten. Trotzdem entstand zeitweilig eine Vision einer „klassenlosen Gesellschaft“, die englische Version der Pop-Art etwa verstand sich explizit als klassenlose oder klassenübergreifende Kunst.

Rückkehr der Klassengesellschaft

Die so lange durch Kultur und Lebensstil verdeckten vertikalen sozialstrukturellen Unterschiede traten allerdings in dem Maße wieder hervor, wie sich die neuen Gegeneliten mit den alten Eliten arrangierten und z. B. der einst rebellierende Sohn eines Richters selbst eine Position im Justizwesen einnahm - der historische Schulterschluss zwischen den sozialen Klassen war beendet. Früher oder später nahmen die bürgerlichen Söhne und Töchter wieder die sozialen und gesellschaftspolitischen Positionen ihrer Herkunftsmilieus ein. Ehemalige Linksradikale wie Telekom-Personalchef Thomas Sattelberger feuern heute jene Arbeiter, mit denen sie als 20-jähriges KPDML-Mitglied „Seit an Seit“ Flugblätter vor Werkstoren verteilt hatten. Stand 1968 also für einen gewissen Zeitraum für die Solidarität über soziale Klassen und Milieus hinweg, so ist die heutige Gesellschaft vom Gegenteil geprägt. Stand 1968 für eine Überwindung der Klassengegensätze, erleben wir heute eine Rückkehr der Klassengesellschaft.

Die zweite sozialstrukturelle Tendenz bezieht sich auf die in den 1960er Jahren stattfindende Öffnung des sozialen Raumes. Damit ist eine soziale Mobilität gemeint, in der durch ein durchlässigeres Bildungssystem und wirtschaftliche Prosperität vielfach soziale Aufstiege möglich waren, die Kinder von Facharbeitern wurden Angestellte, einige studierten sogar oder nutzen Aufstiegsmöglichkeiten in neuen expandierenden Berufsfeldern wie im Gesundheitsbereich. Die Jahre und Folgejahre des „Wirtschaftswunders“ und der Vollbeschäftigung waren der Humus für das Wachstum von emanzipatorischen Bestrebungen und Idealen - es ist ja ein Trugschluss zu glauben, dass zivilisatorischer Fortschritt im Gegenzug zur Repression stattfindet.

"Angst, die die Bürotürme hinaufkriecht"

Innerhalb der 1968er-Bewegung wurde viel Unsinn geredet - zum Beispiel von Daniel Cohn-Bendit und dieser Tradition ist er treu geblieben - aber Sätze wie Tant que j'aurai soif de musique, soif de justice, soif de lutte, soif de vie, je ne pourrai pas m'installer dans un bonheur tranquille (Solange ich Verlangen nach Musik, Gerechtigkeit, Kampf und das Leben habe, kann ich mich nicht in bürgerlichem Glück niederlassen), aus dem Pariser Mai 1968 tragen in sich den Keim der Hoffnung auf ein „anderes“ Leben jenseits ökonomischer Diktate und gesellschaftlicher Zwänge.

1968 waren die damaligen Protagonisten „in“ der Gesellschaft und wollten „hinaus“ - in ihre Projektionen alternativer Existenz, von der „Revolution“ über den Bio-Bauernhof und die Kommune bis zur fernöstlichen Erleuchtung. Heute ist die Situation genau umgekehrt - viele stehen „draußen“ in prekären Lebensverhältnissen und ungesicherter Zukunft und wollen „hinein“, in das Normalarbeitsverhältnis mit Einkommenssicherheit und planbaren Lebensentwürfen. Es gibt kein Leben mehr jenseits der neoliberalen Ordnung, und wo die „Angst, die die Bürotürme hinaufkriecht" (der Soziologe Stefan Hradil), das „bürgerliche Glück“ zutiefst bedroht, erstickt das „Verlangen nach Musik, Gerechtigkeit, Kampf und das Leben“. War 1968 ein Datum für die Öffnung des sozialen Raumes, so steht dem heute eine Schließung des sozialen Raumes gegenüber, die Gesellschaft schottet sich nach „oben“ ab und nach unten wird weit die Falltür geöffnet - dort wartet Hartz IV.

Es ist dieser Kontext, in dem die mediale Erinnerung an 1968 stattfindet. Und es ist bei aller notwendigen De-Mystifizierung und kritischer Aufarbeitung dieser Epoche verblüffend, wie wenig der emanzipatorische Entwurf von damals bei doch so viel heutigen Gründen für eine neue Revolte in Anschlag gebracht wird. Eine Antwort könnte in der Rückkehr der bürgerlichen Eliten in ihre angestammten gesellschaftlichen Positionen, zu denen heute die Negation der sozialen Emanzipation und damit verbunden die „Aufarbeitung“ und „Entsorgung“ der eigenen radikalen politischen Biografie gehört, zu finden sein.