Tibets Olympia-Kampagne

Der Konflikt zwischen Lhasa und Peking ist Jahrzehnte alt. Dass er ausgerechnet jetzt eskaliert, ist kein Zufall

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Auch mehrere Tage nach Beginn des antichinesischen Aufstandes in Tibet ist die Lage in der Himalaja-Region weitgehend unklar. Während die Regierung der Volksrepublik China von 13 Todesopfern während der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei spricht und Regierungschef Wen Jiabao die "Dalai-Lama-Clique" für die Gewalt verantwortlich macht, verbreitet das tibetische Exilparlament aus Indien Nachrichten über hunderte Tote. Gesicherte Informationen gibt es dazu ebenso wenig wie darüber, von wem die Gewalt ausging. Trotzdem wurde im Westen unmittelbar ein Boykott der bevorstehenden Olympischen Spiele in China gefordert. Der Eindruck einer politischen Kampagne drängt sich auf.

Chinesischer Pavilon vor dem Stadion "Vogelnest" in Peking. Bild: China Photo Press

Begonnen hatten die Demonstrationen in Tibet Anfang vergangener Woche. Zum 49. Jahrestag eines nationalistischen Aufstandes gegen die chinesische Verwaltung in Lhasa gingen politische Gruppierungen gemeinsam mit buddhistischen Mönchen auf die Straße. Sie protestierten damit auch gegen den Einmarsch chinesischer Truppen im Jahr 1950. Die Volksrepublik China hatte das tibetische Hochland damals besetzt und die Autonome Region Tibet gegründet. Sie setzte damit der quasifeudalen Herrschaft der buddhistischen Elite ein Ende. Der Dalai Lama, das geistige Oberhaupt der buddhistischen Tibeter, wurde ins Exil gezwungen.

Sorgsam geplanter Coup

Über ein halbes Jahrhundert später dreht sich der Streit aber nicht mehr nur um die Legalität der chinesischen Herrschaft. Die Tibet-Frage ist zu einem Reizthema zwischen China und dem Westen geworden, sie steht gleichsam für die zunehmende geopolitische Konkurrenz beider Lager. Es ist deswegen kein Zufall, dass die Proteste in Tibet ausgerechnet vor den Olympischen Spielen eskalieren, die im Sommer in China stattfinden. Auch wenn der Dalai Lama Peking nun medienwirksam einen "kulturellen Völkermord" in Tibet unterstellt, ist der Auslöser der aktuellen Eskalation unklar. Während man sich diesem Grund medial bestenfalls annähern kann, scheint die Verurteilung der chinesischen Seite als Aggressor von vornherein festgestanden zu haben. Kaum wahrgenommen werden andere Stimmen. So erhob der Bürgermeister der Stadt Lhasa, Doje Cezhug, schwere Vorwürfe gegen die Demonstranten. Bei ihnen handele es sich um "Separatisten". Der Präsident der Autonomen Region Tibet, Quiangba Puncog, wies Berichte über einen Schusswaffeneinsatz der Polizei zurück. Auch Quiangba sah die Schuld für die Todesopfer bei den Aufständischen.

Tatsächlich war es im Laufe der Proteste zu massiven Ausschreitungen gegen die chinesische Bevölkerung Tibets gekommen. Nach Angaben der Regionalregierung wurden über 200 Wohnungen und Geschäfte chinesischer Einwohner angezündet. Ob die Menschen dabei zu Tode kamen, wird in Peking erklärt. Bewiesen ist dies ebenso wenig wie die Behauptung des tibetischen Exilparlaments aus dem indischen Dharamshala über hunderte Todesopfer. Beide Seiten versuchen derzeit massiv auf die internationale Meinung Einfluss zu nehmen.

Sicherheitshalber werden die Gesichter der Protestierenden unkenntlich gemacht. Bild: Phayul

Dass die buddhistische Autonomiebewegung in Tibet aber mitnichten so friedlich ist, wie es ihre esoterischen Anhänger im Westen glauben und glaubend machen wollen, darauf weist Colin Goldner hin. Der bekannte Dalai-Lama-Kritiker verweist auf die Gründung einer Protestgruppe mit dem Namen "Tibetan People's Uprising Movement" (TPUM). Die TPUM war Anfang des Jahres mit dem (vor allem politischen) Segen des Dalai Lama ins Leben gerufen worden und hat sich zum Ziel gesetzt, "den historischen Moment der Olympischen Spiele zu nutzen, um das Ende der chinesischen Besatzung herbeizuführen". Angesichts der Berichte über Gewalttaten gegen ethnische Minderheiten in Tibet in vergangenen Tagen weist Goldner auf eine Parole einer separatistischen Untergrundorganisation Ende der 80er Jahre hin. "Chinesische Häuser anzünden: Sabotage!", hieß es damals.

Lhasa wird abgesperrt. Bild: Phayul

Von Olympia und Kosovo

Derzeit rückt China vor allem international ins Visier. Die Forderung nach einem Boykott der Olympischen Spiele wurde vor allem in tibetischen Kreisen erhoben und verbreitete sich schnell über westliche Medien. Anders als in der Vergangenheit - Boykotte der Spiele fanden 1980 und 1984 statt - kommt aber deutlicher Widerstand aus dem Sport. Der Reit-Olympiasieger Ludger Beerbaum hält einen Boykott für so sinnvoll "als würde eine Fliege einen Elefanten ärgern". Beerbaum verwies zudem auf die ungetrübten wirtschaftlichen Kontakte des Westens zu China. Auch der ehemalige Präsident des Nationalen Olympia-Komitees, Klaus Steinbach, meint: "Der Sport wäre das Bauernopfer." Tatsächlich zeigt der Blick in die Geschichte, dass die Ächtung der Olympischen Spiele 1980 in Moskau politisch keinen Effekt hatte. Damals war der Schritt von westlichen Staaten aus Protest gegen die sowjetische Truppenverstärkung in Afghanistan beschlossen worden, vom westdeutschen Bundestag mit sagenhaften 96 Prozent. Die Entscheidung war später von Sportorganisationen scharf kritisiert worden.

Die aktuelle Tibet-Krise weist aber nicht nur im Ausdruck, sondern auch in der Argumentation Neuerungen auf. Offen beziehen sich separatistische Politiker und Medien auf die Loslösung der Provinz Kosovo von Serbien. Diese Sezession war vor wenigen Wochen gegen den Willen Belgrads und gegen völkerrechtliche Standards von der EU und den USA durchgesetzt worden. Nun macht das Beispiel Schule: "Wenn schon das Kosovo, warum dann nicht Tibet?", fragt die tibetische Internetseite phayul.com. Auch das mag ein Grund sein, warum die russische Regierung Peking derzeit den Rücken stärkt. Russland sehe Tibet als einen eindeutigen Teil Chinas, heißt es in einer Erklärung des Außenministeriums in Moskau.