Die NATO im Kampf um die Welt

Vor dem Gipfeltreffen der Allianz in Bukarest fordert ein Strategiepapier eine radikale Umorientierung - und atomare Erstschläge

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Wenige Tage vor dem NATO-Gipfel in Bukarest sorgt ein neues Strategiepapier für Aufsehen. Die Studie mit dem Titel Towards a Grand Strategy for an Uncertain World (etwa: Zu einer Gesamtstrategie für eine unsichere Welt) wurde von gleich fünf ehemaligen Stabschefs des Militärbündnisses verfasst und birgt brisante Vorschläge. Der deutsche General a. D. Klaus Naumann, US-General John Shalikashvili, der britische Feldmarschall Lord Peter Inge, der französische Admiral Jacques Lanxade und der niederländische General Henk van den Breemen wollen die NATO an der Seite der USA und der EU zu einem offensiv ausgerichteten Militärbündnis machen. Das bisherige Völkerrecht - vor allem das Prinzip der staatlichen Souveränität - soll beiseite geschoben und durch ein Gewohnheitsrecht ersetzt werden, das vom Westen definiert wird. Die Autoren bestehen zudem auf eine Strategie atomarer Erstschläge.

Das 152-seitige Papier, das früher geäußerte Ideen aufgreift (Die Nato soll Pipelines und Energieressourcen sichern), kursiert seit Anfang Januar in Brüssler EU-Kreisen. Obwohl einige wenige Medien wie Die Zeit oder The Guardian über das Dokument berichteten, ist die Brisanz der Vorschläge offenbar nur wenigen politischen Entscheidungsträgern klar. Denn die Militärs fordern nicht nur eine grundsätzliche, langfristige und irreversible Neuausrichtung der NATO von einem Defensiv- zu einem Offensivbündnis. Auch die Einsatzgründe verschieben sich. So soll die Bedrohung der geopolitischen Dominanz des Westens und seiner Kultur künftig ebenso als Kriegsgrund dienen wie die Sicherung von Energieressourcen. Das Papier bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der geopolitischen Gegenspieler der NATO und bedeutete - würde es umgesetzt - das Ende des bisherigen Völkerrechtes.

Atomwaffen im Köcher

Wem das übertrieben scheint, sollte einen Blick in das Papier werfen, das vom 2. bis zum 4. April in der rumänischen Hauptstadt zur Debatte stehen wird. In einem derzeit im Internet kursierenden englischsprachigen Entwurf heißt es zu den Gründen etwaiger künftiger Kriege der NATO:

Den westlichen Alliierten steht eine lange, andauernde und präventiv zu führende Verteidigung ihrer Gesellschaften und ihrer Lebensart ("way of life") bevor. Durch diesem Umstand müssen sie Risiken auf Distanz halten, während sie ihre Heimatländer beschützen.

Towards a Grand Strategy for an Uncertain World

Wenige Seiten weiter empfehlen der deutsche General a. D. Naumann und seine Mitautoren die NATO ausdrücklich als militärisches Instrument zur Sicherung der Energieversorgung ihrer 26 Mitgliedsstaaten

Derzeit unterliegen Energiesicherheit und Energiepolitik der Verantwortung jeder souveränen Nation. (…) Es gibt keine Diskussion über den Schutz der Energieressourcen und ihrer Transportwege. (…) Aus diesem Grund dürfte es sinnvoll sein, die NATO als ein Instrument zur Sicherung der Energieversorgung zu erwägen.

Towards a Grand Strategy for an Uncertain World

Auf gleich mehreren Seiten gehen die NATO-Strategen auf den Einsatz von Atomwaffen ein, den sie ausdrücklich auch im Rahmen einer Erstschlagsstrategie verteidigen. Die Offenheit in der Einschätzung der damit einhergehenden Probleme und Konflikte ist beachtlich:

Die gleichzeitige Beachtung von Verhältnismäßigkeit und Schadensbegrenzung wird in jenen Fällen schwieriger werden, in denen der Einsatz von Nuklearwaffen erwogen werden muss. Der nukleare Erstschlag ("first use of nuclear weapons") muss als letzte Option im Köcher verbleiben, um den Einsatz von Massenvernichtungswaffen und dadurch eine tatsächlich existentielle Bedrohung zu verhindern. Auf den ersten Blick mag das unverhältnismäßig erscheinen; aber angesichts des Schadens, der so verhindert werden könnte, wäre diese Verhältnismäßigkeit durchaus gegeben. Trotz der immensen Zerstörungskraft nuklearer Waffen bleibt das Prinzip der Schadensbegrenzung unberührt und muss weiter beachtet werden. Schließlich war dies auch eines der Prinzipien, von denen die Nuklearstrategien der NATO während des Kalten Krieges bestimmt war. …

Da Abschreckung mitunter wirkungslos bleiben könnte, bleibt die Fähigkeit, diese Abschreckung durch eine Eskalation jederzeit wieder herzustellen, ein weiteres Element präventiver Strategien. …

Eskalation ist unmittelbar mit der Option eines Erstschlags verbunden. Eine Strategie, die eine Eskalationsoption beachtet, kann deswegen einen Erstschlag weder ausschließen noch darf sie Eskalation als vorprogrammiert und unvermeidbar ansehen. Eskalation und Deeskalation müssen flexibel angewandt werden. …

Nuklearwaffen sind das zuletzt anzuwendende Instrument einer asymmetrischen Antwort - und zugleich das letzte Mittel der Eskalation.

Towards a Grand Strategy for an Uncertain World

Damit brechen die Autoren gleich mehrfach mit dem globalen sicherheitspolitischen Konsens seit Ende des Kalten Krieges. Denn die NATO-Militärs drängen nicht nur auf die Reaktivierung offensiver Nuklearstrategien. Sie postulieren auch den Einsatz atomarer Massenvernichtung gegen solche Staaten, von denen keine entsprechende Bedrohung ausgeht ("asymmetrische Antwort"). In letzter Konsequenz geht diese Offensivstrategie sogar über die Militärpolitik des Westens während des Kalten Krieges hinaus. Würden die Ideen von Naumann & Co. umgesetzt, geriete die Welt von einem Gleichgewicht des Schreckens in ein Ungleichgewicht des Atomterrors.

Parallele zu außenpolitischen Überlegungen in Berlin

In Anbetracht solcher Forderungen sind die Reaktionen von politischer Ebene erstaunlich verhalten. Nach den ersten Presseberichten meldete sich Ende Januar lediglich die SPD-Bundestagsabgeordnete Uta Zapf zu Wort. Mit den Plänen der fünf ehemaligen NATO-Stabschefs würde die "Diskussion über einen eventuellen Erstschlagsverzicht der NATO im Keim erstickt", schreibt Zapf, die den Unterausschuss für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung des Bundestags leitet.

Eine Folge davon wäre ein Wettlauf der Nicht-Nuklearwaffenstaaten auf Atomwaffen - ein Todesstoß für den Atomwaffensperrvertrag und ein Verzicht auf jegliche Abrüstung.

Uta Zapf

Die Sozialdemokratin verweist auch darauf, dass die Befürworter einer neuen "Grand Strategy" der NATO auf ein Mandat des UN-Sicherheitsrates für Einsätze des Bündnisses verzichten wollen. "Damit", schreibt Zapf, "verließe die NATO den Boden des Völkerrechts." Doch eben dieser Bruch mit geltenden internationalen Rechtsprinzipien wird durch General a. D. Naumann und seine Mitautoren explizit empfohlen. Eine künftige offensive Interventionspolitik der transatlantischen Allianz könnte sich ihrer Meinung nach auf ein "Gewohnheitsrecht" ("customary law") berufen, das mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und den westlichen Besatzungsregimes in Afghanistan (2001) und Irak (2003) begründet werden könnte. Die Ironie der Geschichte ist, dass Naumann bis zu seiner Pensionierung 1999 selbst dem NATO-Militärausschuss vorstand und in dieser Funktion für den bis heute völkerrechtlich höchst umstrittenen Angriff auf Jugoslawien maßgeblich verantwortlich zeichnete. Nun führt er seine eigene Politik als Argument für eine weitere Auflösung des Völkerrechts an.

In einem Interview führte der höchst dekorierte deutsche Soldat diese Ideen aus. Die letzte NATO-Strategie sei 1999 entworfen wurden, sagte er, "und seither hat sich die Welt dramatisch verändert". Zugleich verweist Naumann darauf, dass das Bündnis drei Jahre später bei einem Gipfeltreffen in Prag eine offensivere Politik beschlossen hat (Das ist doch der Gipfel!. Damals war der Aktionsraum der NATO auch auf Nicht-Mitgliedsstaaten ausgeweitet worden. "Unsere Konzept ist global ausgerichtet", sagt der Militär im Interview zu der von ihm geforderten militärischen Gesamtstrategie: "Es ist nicht länger regional bezogen wie das derzeitigen NATO-Strategiekonzept oder Strategiestudien der Europäischen Union."

Damit steht er nicht so alleine da, wie man zunächst vermuten möchte. In einer Studie der regierungsnahen deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik wurde schon im Jahr 2006 eine Umorientierung der NATO empfohlen. Die Ideen darin stehen denen Naumanns und seiner Mitautoren erstaunlich nahe. Die deutsche Außenpolitik und die US-amerikanischen Vorstellungen stimmten grundsätzlich darin überein, den laufenden Transformationsprozess der NATO fortzuführen, schrieb SWP-Autor Markus Kaim, der zu den gemeinsamen Zielen Deutschlands und der USA ein "erweitertes Aufgabenspektrum" der NATO ebenso zählte wie "Konfliktintervention", "Stabilisierungs- und Aufbaumissionen" und die Erweiterung des Bündnisses. Ebenso wie Naumann, der eine globale Dreierherrschaft von USA, EU und NATO anstrebt, empfahl der SWP-Mann damals die "Herstellung eines strategischen Konsens zwischen den USA und Europa". Zugleich wies Kaim auf die damit einhergehenden Konflikte in Europa hin. In Bezug auf die Erweiterung der Allianz schrieb er:

Fatal wäre es, in Vorwegnahme russischer Bedenken möglichen Erweiterungskandidaten eine Absage zu erteilen und Moskau ohne Not eine Veto-Position einzuräumen.

Markus Kaim

Die Frontstellung der NATO im Osten Europas wurde schon in dem SWP-Papier mit dem Streben des Westens nach Energieressourcen begründet. Die Pläne der USA zur raschen Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO, seien "von dem Interesse Washingtons geleitet, den russischen Einfluss im Kaukasus einzuhegen, den eigenen dort entsprechend zu stärken und post-sowjetische Staaten aus der russischen Einflusssphäre herauszulösen".

Mit welchen Mittel das geschehen könnte, lässt sich dann in dem aktuellen Papier nachlesen. Man darf auf die Debatten auf dem NATO-Gipfel in Bukarest gespannt sein.