Geheimdienste haben Zugriff auf gespeicherte Kommunikationsdaten

Die Behörden haben durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ungezählte Möglichkeiten, sich auf "Gefahren" zu berufen, um an die Verbindungsdaten zu kommen

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Es ist soweit. Alle Verbindungsdaten werden gespeichert. Wer telefoniert mit wem, von welchem Ort, wie lange. Wer mailt wem, von welchem Computer aus. Sechs Monate lang sollen die Telekommunikationsanbieter diese Informationen bereithalten. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe jetzt bestätigt. Ermittler dürfen auf diese Daten nur zugreifen, um eine schwere Straftat zu verfolgen. Oder um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Andererseits dürfen auch die Nachrichtendienste mit den Daten arbeiten.

Kaum war der Richterspruch gefallen, jubelten alle: Sowohl die Datenschützer, die die Vorratsdatenspeicherung kritisieren, als auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der die Vorratsdatenspeicherung will. „Das sollte uns zu denken geben“, findet der ehemalige Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Hannover Helmut Weidemann. Es sei unlogisch, wenn sowohl Kritiker als auch Befürworter applaudieren. „Das aber scheint bislang kaum jemandem aufgefallen zu sein“, meint der pensionierte Richter.

Tatsächlich wiegt der Richterspruch die Menschen in falscher Sicherheit. Es klingt beruhigend, wenn die Daten nur abgerufen werden dürfen, um schwere Straftaten zu verfolgen. Ist es aber nicht. Die landläufige Auffassung von "schweren Straftaten" ist, dass sich dabei um Mord und Totschlag handele. Ein Irrtum. Zu den schweren Straftaten zählen auch Delikte wie Betrug, Computerbetrug, Bankrott, Bestechlichkeit und Bestechung sowie Steuerhinterziehung. Das erweitert den Kreis der möglichen Betroffenen erheblich.

Auch ein Delikt wie Schleusung fällt unter die juristische Definition schwerer Straftaten. Helmut Weidemann gibt zu bedenken: „Wer gelesen hat, dass in letzter Zeit immer wieder Taxifahrer wegen Schleusung verurteilt werden, weil sie sich von ihren Fahrgästen die Personalausweise nicht haben zeigen lassen, kommt hoffentlich ins Grübeln. Wer weiß, dass auch die kleinen Reisebüros, die nicht kontrollieren, was ihre Kunden so machen, unter dem Verdacht der Schleusung stehen, müsste bereits Kopfschmerz empfinden.“

Die "Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit" ist ebenfalls ein weites Feld. Ein Fußballspiel zum Beispiel reicht aus, um die Reisebewegungen der Fans zu untersuchen. Politische Großveranstaltungen wie der G8-Gipfel liefern erst recht einen Vorwand, die Besucher unter die Lupe zu nehmen - gleichgültig, ob sie ihr Bürgerrecht zu demonstrieren nutzen wollen oder nicht.

Kurzum: Die Behörden haben ungezählte Möglichkeiten, sich auf "Gefahren" zu berufen, um an unsere Daten zu kommen. Jeder von uns kann unschuldig ins Fadenkreuz staatlicher Verdächtigung und Überwachung geraten.

Der Karlsruher Richterspruch bestätigt darüber hinaus: Geheimdienste dürfen die Daten abrufen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Der normale Bürger mag sich denken, er sei kein James Bond und habe deshalb mit den Nachrichtendiensten nichts zu tun. Auch das ist ein fataler Irrtum. Einer der Aufgaben der Dienste ist es, Schleusung zu bekämpfen. „Also kümmern sie sich auch um Taxifahrer und kleine Reisebüros“, merkt Helmut Weidemann an. Der 69-Jährige urteilte in zahlreichen polizeirechtlichen Rechtsstreitigkeiten sowie über diverse Verfassungsschutzverfahren.

Doch damit nicht genug. Der Bundesnachrichtendienst (BND) wirbt in seiner Selbstbeschreibung damit, dass er ein "Frühwarnsystem" sei. Früh warnen kann aber nur, wer schon im Vorfeld ermittelt, also präventiv, unabhängig von jedem Verdacht.

Helmut Weidemann urteilt aus seiner beruflichen Praxis: „Der BND wird also die Telefon- und Internet-Daten in einem viel breiteren Rahmen abrufen und auswerten, als das vielen zunächst aufgefallen ist. Gleiches gilt für den Verfassungsschutz.“ Kein Wunder, dass sich Bundesinnenminister Schäuble über das Karlsruher Urteil so freut. Er weiß, wie seine Behörden arbeiten. Wollten Ermittler eine richterliche Genehmigung, eine Wohnung zu durchsuchen, hätten sie diese bisher relativ leicht bekommen, erzählt Weidemann. Bei den Telefon- und Internet-Daten werde es nicht anders sein.

Die staatliche Datensammelwut ist damit jedoch noch lange nicht befriedigt. Ein Beispiel: die Fluggastdaten, die neuerdings generell - und nicht nur für Flüge in die USA - erhoben werden. EU-Justizkommissar Franco Frattini hat angekündigt, dass dies nur der erste Schritt sei. "In der nächsten Stufe müssen wir uns um die Züge kümmern", sagte er. Der Computerkonzern IBM hat bereits eine Technik angeboten, mit der sich Zugpassagiere überwachen lassen. Es fehlt nur noch das entsprechende Gesetz. Aber das wird kommen.

Wenn die Telefon- und Internetprovider verpflichtet sind, bestimmte Verkehrs- und Standortdaten, die bei der Nutzung von Telefon, Handy, E-Mail und Internet anfallen, für einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern, so werden alle diese Daten Objekt der Begehrlichkeit bleiben. Sind solche Daten erst einmal erfasst, dann werden sie auch früher oder später genutzt werden.

Bislang haben wir immer nur über staatliche Ermittler uns Sorgen gemacht. Aber: All diese sensiblen Daten befinden sich zunächst in den Händen von Privatfirmen. Jeder von uns hat bestimmt schon so seine Erfahrungen mit deren call center gemacht. Wer dort arbeitet, verdient oft nicht mehr als fünf Euro. Und soviel Lebenserfahrung sollte jeder haben, um sich vorzustellen, was es heißt, ausgerechnet die sensibelsten Daten in die Hände von Menschen zu geben, die nur das Existenzminimum verdienen.