Der kanadische Ölsand-Komplex

Teil 1 - Ein Boom und seine Folgen

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Im Frühjahr 2004 wurde Kanada der größte Öllieferant der Vereinigten Staaten und löste Saudi-Arabien in dieser Rolle ab. Kanadisches Erdöl hat mittlerweile zu mehr als 17 Prozent Anteil am US-Ölimport – Tendenz steigend. Die Ölsand-Vorkommen am Athabasca River gelten dabei als Kernstück eines neuen kontinentalen Energienetzes. Die Gewinnung von Öl aus Ölsand soll bis 2015 von den heutigen etwas mehr als eine Million Barrel auf über drei Millionen Barrel täglich gesteigert werden.

Bild: David Dodge, The Pembina Institute

In kanadischen Ölsand werden gegenwärtig mehr als 100 Milliarden US-Dollar investiert. Die durchschnittlichen Förderkosten liegen bei knapp über 20 US-Dollar pro Barrel, mit der notwendigen Umwandlung des Bitumens in synthetisches Rohöl klettert der Preis auf ca. 40 US-Dollar. Doch dem vom gestiegenen Rohölpreis ausgelösten Boom haftet ein nicht zu übersehendes Preisschild an. Neben einer ungewissen Kostenentwicklung beim Ausbau der Förderung gibt es jede Menge weiterer Nuancen, die fast so schillernd und vielfältig sind wie die Interferenzmuster der Öllachen, die auf den Absetzteichen der Ölsand-Industrie schwimmen.

Im Norden der Provinz Alberta sollen sich unter einer Fläche von mehr als 140,000 Quadratkilometern Ölsande befinden – geschätzte ein Drittel der weltweiten Ölvorkommen. Mindestens 175 Milliarden Barrel (1 Barrel = 159 Liter) mit zeitgenössischer Technologie gewinnbares Roh-Bitumen werden hier vermutet. Gegenwärtig regeln ca. 2800 Pachtverträge auf einer Fläche von 43,800 Quadratkilometern die Ölsand-Förderung. Die wichtigsten Vorkommen sind die Athabasca-Wabiskaw-Ölsande sowie die Lagerstätten bei Peace River und am Cold Lake. Allein die Ölsand-Förderung der wichtigsten Unternehmen Shell, Syncrude und Suncor machen 30 Prozent der kanadischen Erdölförderung aus.

Neben Sanden, Tonen und Wasser bestehen Ölsande aus zwischen einem und zwanzig Prozent Kohlenwasserstoffen – von Bitumen bis hin zum Rohöl – ab 12% gelten sie als „reich“. Nach der Abtrennung von Sand und Wasser wird der Kohlenwasserstoff-Anteil im Upgrader hauptsächlich thermisch gecrackt, hydriert, entschwefelt und zu synthetischem Rohöl weiterverarbeitet.

Die Förderung oberflächennaher Vorkommen erfolgt im Tagebau, während die Kohlenwasserstoffe tieferer Schichten durch das Einleiten von heißem Wasserdampf in verschiedenen Varianten verflüssigt werden müssen. Da die oberflächennahen Vorkommen als zumeist erschlossen gelten, gewinnen diese energieintensiven in-situ-Verfahren an Bedeutung.

Syncrude-Tagebau. Bild: David Dodge, The Pembina Institute

Irakkrieg löst Ölboom aus – in Alberta, Kanada

Im März 2003 kletterte der Ölpreis auf 35 US-Dollar pro Barrel. Im gleichen Jahr entdeckte die United States Energy Information Administration das Öl im Ölsand. Das Ansteigen des Ölpreises ließ die Förderung der gewaltigen Ölsand-Vorkommen plötzlich wirtschaftlich erscheinen, so dass sie von Ressourcen zu Reserven befördert und Kanada zum Land mit den weltweit größten nachgewiesenen Erdölreserven wurde – gleich nach Saudi-Arabien. Noch im Jahre 2002 hatte das Oil and Gas Journal Kanadas konventionelle Ölreserven mit 4.8 Milliarden Barrel gelistet. 2003 rechnete das gleiche Journal die Ölsand-Reserven hinzu.

In der Folge wurde ein regelrechter Boom an neuen Förderprojekten im Athabasca-Ölsand beobachtet. Die meisten der großen Ölunternehmen engagieren sich in Alberta.

Ein wichtiger Investitionsanreiz: die Erkundungskosten der Lagerstätten sind verschwindend gering, denn ihre Lagen sind seit langem bekannt.

Skeptiker sehen die aggressiven Aussagen zur Abbau-Entwicklung trotz der profitablen Aussichten weniger euphorisch und weisen auf den steigenden Energieeinsatz hin, der umso mehr erzwungen wird, je weiter sich die Vorkommen von der Erdoberfläche entfernt befinden.

Den Teufel mit dem Beelzebub extrahieren?

Die Energie zur Dampfbereitstellung stammt zurzeit noch größtenteils aus der Verbrennung von Erdgas: für die Umwandlung eines Barrels Bitumen in „dickes“, gerade transportfähiges Öl müssen ca. 28 Kubikmeter Erdgas verheizt bzw. 1 Gigajoule aufgewendet werden; im Gegenzug hat ein Barrel Öl ein Energieäquivalent von 6,117 Gigajoule.

Caterpillar 797 – die Reifenhersteller können die wegen der rasanten Zunahme der Aktivitäten auf dem Rohstoffsektor stark gestiegene Nachfrage kaum noch befriedigen. In den Tagebauen wird viel Erdreich bewegt – für einen Barrel Öl durchschnittlich zwei Tonnen Ölsand. Großseilbagger und Laster sind für die großen Unternehmer preiswerter als Schaufelradbagger, Absetzer oder Abraumbrücken. Bild: Martin Kaste, National Public Radio

Erdgas ist eine der Hauptenergiequellen in Alberta. 2001 erreichte die Erdgasförderung in der Provinz jedoch ihr Maximum, seither sind andere Energiequellen im Gespräch. Außerdem ist das bei Extraktion und Umwandlung in synthetisches Rohöl anfallende CO2 in Rechnung zu stellen – rund 50 Kilogramm pro Barrel allein in der Dampferzeugung. Als kurzfristigen Ersatz sieht das kanadische National Energy Board die Vergasung von Bitumen und die Nutzung von Methan aus Kohlelagerstätten. Um einen weiteren Anstieg der CO2-Emissionen Kanadas durch zusätzliche Verbrennung fossiler Energieträger zu vermeiden, ist auch die Nutzung von Atomenergie als langfristige Alternative zum Erdgas ins Blickfeld gerückt. Doch bis dahin sind einige Probleme zu lösen. Ein Atomkraftwerk für nur ein Ölsand-Vorkommen gilt als überdimensioniert. Soll ein Reaktor mehrere Ölsand-Felder mit Wasserdampf beliefern, ist deren verstreute geografische Verteilung über große Distanzen zu beachten. 2017 könnte bei Grimshaw, westlich von Peace River, das erste Atomkraftwerk in Dienst gestellt werden.

Albertas Provinzregierung hatte von Anfang an keinen Hehl aus ihrer Gegnerschaft zu den kanadischen Kioto-Verpflichtungen gemacht. Und obwohl die kanadische Regierung im Rahmen dieser Verpflichtungen noch keinen besonderen Stellenwert der Atomkraft betont hat, gilt aufgrund der hohen Investitionskosten als unwahrscheinlich, dass die Atomkraft ohne Regierungsunterstützung Einzug in den Ölsand halten wird.

Mackenzie-Pipeline: Erdgas für die „Petroleum-Brauerei“

Kurzfristig jedoch wird auch das Erdgas trotz rückläufiger Förderung seine Rolle spielen: durch das Mackenzie-Tal soll eine 1400 Kilometer lange Pipeline gebaut werden, die Erdgas aus der kanadischen Arktis in die Ölsand-Gebiete befördert. Die drei Gasfelder nördlich von Inuvik führen jedoch nicht genügend Gas, um die Pipeline über 25 Jahre bei voller Kapazität zu betreiben. Man hofft im hohen Norden Kanadas auf die Erschließung weiterer Lagerstätten. Viele Probleme des Pipeline-Baus, von Landrechten der First Nations bis hin zu möglichen Permafrost-Schäden, sind bisher ungelöst.

Ein Konsortium aus Erdgasförderern plant parallel dazu eine 20-Milliarden-US-Dollar-Leitung, die von Alaskas North Slope 5700 Kilometer entlang des Alaska Highway nach Alberta führen und drei bis viermal mehr Gas als das Mackenzie-Projekt befördern soll. Eine Verbindung der beiden Pipelines wird erwogen.

Alberta: Wie der Ölsand-Boom zum Bumerang wird

Auch im sozialen Gefüge Kanadas hinterließ der jüngste Boom seine Spuren. Das hohe Tempo beim Ausbeuten der Ölsand-Vorkommen führte zu landesweiten Verwerfungen und verschärfte die Ungleichheiten zwischen den Provinzen. Längst kommt es in Alberta und selbst darüber hinaus zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere bei Fachkräften. Im gesamten Korridor Edmonton-Calgary sowie in den Öl-Boomtowns fände sich niemand mehr, der für 14 kanadische Dollar in der Stunde Mohrrüben schälen würde, Unternehmen von Fastfood-Ketten bis hin zu Sägewerken finden keine Arbeitskräfte mehr. Bis 2010 rechnet man in Alberta mit 400,000 Jobs, die nicht besetzt werden können. Angesichts des Arbeitskräftemangels steuert die Provinzregierung mit einem Spezialprogramm gegen; dieses Programm soll „Rentner, jugendliche Indianer und ausländische Arbeitskräfte“ in Lohn und Brot bringen. Unterdessen verzeichnet die fiebrige Ökonomie Albertas Wachstumsraten, die denen Chinas sehr ähnlich sind. Skeptiker der geplanten neuen Ölsand-Förderprojekte machen gerade den Fachkräftemangel als zusätzlichen limitierenden Faktor für deren vollständige Umsetzung aus.

Schichtwechsel bei Syncrude. Bild: David Dodge, The Pembina Institute

Als Folge der forcierten Deregulierung spiegelt sich das Fehlen jeder Planung auf Provinz- und Landesebene in der Unfähigkeit wieder, eine langfristige und nachhaltige Entwicklung in der Region zu gewährleisten. Stattdessen ist die gesamte Operation von einem Bonanza-Flair wie zum Ausgang des 19. Jahrhunderts umgeben. Ausländische und einheimische Arbeitskräfte, deren Arbeitseifer durch keinerlei gewerkschaftliche Ambitionen getrübt wird, gehören dazu.

Fort McMurray, Kanadas jüngste Boomtown und heute das Zentrum des Ölsand-Abbaus, war noch in den 1950er Jahren entlegener Außenposten in der Wildnis. Mit der Energiekrise der 1970er Jahre erfuhr der Ort eine jähe Entwicklung. Die anvisierten Investitionen für die nahe Zukunft lassen nun Arbeitskräfte aus dem ganzen Land nach Fort McMurray strömen. Mit den Neuankömmlingen kamen auch die Probleme. Wohnraum ist rar und teuer, der öffentliche Dienst ist kollabiert. Die soziale Kernschmelze im Ort wird mittlerweile durch Crystal Meth, Crack und Kokain befeuert, die Gewaltstatistik weist eine für die Provinz überdurchschnittlich hohe Anzahl von Delikten aus. Die Royal Canadian Mountain Police kann ihren Bediensteten keine finanzielle Unterstützung bei der Bewältigung der hohen Lebenskosten vor Ort bieten. Hier, inmitten des gelobten Landes, ist eine Art Dawson City des 21. Jahrhunderts entstanden.

Im 2. Teil:

Die Umwelt wird unterminiert. Pipeline-Fieber. Tankstelle für die Festung Amerika