Edle Wilde gegen eine schießwütige Soldateska

Das deutsche Fernsehen handelte auch bei der Tibet-Berichterstattung nach dem Motto "Was nicht passt, wird passend gemacht."

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Erinnert sich noch jemand daran, wie wohlig überlegen sich die deutsche Öffentlichkeit zu Beginn des Irakkrieges den angeblich so beeinflussbaren Amerikanern fühlte? Wie konnten die nur daran glauben, dass Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfügt und mit al-Qaida unter einer Decke steckt? Kein Wort mehr davon, dass man vier Jahre zuvor noch auf keineswegs weniger haarsträubende Lügen hereingefallen war. Und fünf Jahre später zeigt sich wieder, wie unkritisch die Medienöffentlichkeit hierzulande sein kann – wenn es denn nur gegen den richtigen Feind geht und die "Opfer" pittoresk genug aussehen.

"Edle Wilde" erobern spätestens seit Karl-May die Herzen der Deutschen im Flug. Wenn "Rebellen" zu Pferde kommen, wer möchte sich da noch groß Gedanken darüber machen, wo und warum genau das ganze Spektakel stattfindet, das Spiegel Online "an der Grenze zu Tibet in der nordwestchinesischen Provinz Gansu" verortete – offensichtlich, ohne sich vorher die Mühe gemacht zu haben, einen Blick auf die Landkarte zu werfen.

Der Bilderhunger deutscher Medien zu den Unruhen in Tibet war so groß, dass man auf Material aus anderen Himalayaländern zurückgriff, wo es Demonstrationen von Exiltibetern gab, die in gewalttätige Auseinandersetzungen mit den dortigen Sicherheitskräften mündeten. So verwendete etwa der Fernsehsender N-TV zu den Meldungen über die Unruhen in Tibet Bilder von Menschen in Mönchsroben, auf die nepalesische Sicherheitskräfte mit so etwas wie Zaunlatten einprügeln.1 Allerdings hatten diese Sicherheitskräfte eine für Chinesen ungewöhnlich dunkle Hautfarbe – und trugen zudem Uniformen, die in China weder von der Polizei noch von der Armee verwendet werden.

Als die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua auf die Fehler hinwies, bekundete man bei N-TV, es täte dem Sender "schrecklich leid". Überraschenderweise hielten sich die öffentlichen Proteste gegen Nepal nach dieser Richtigstellung in Grenzen. Offenbar war die Noch-Monarchie pittoresk genug, um Demonstranten in entsprechender Weise anfassen zu dürfen, ohne dass in deutschen Massenmedien ein Aufschrei der Empörung folgte.

Auch bei Bild.de benutzte man Krawallfotos aus Nepal für den Reißer "Hunderte Tote bei schweren Unruhen in Tibet" – was jedoch angesichts eines Kommentars von Franz Josef Wagner fast schon wieder seriös wirkte: "Kein Tibeter schlägt nach einer Fliege, die ihn belästigt, die Fliege könnte seine verstorbene Großmutter sein. Der Tibeter glaubt an die Wiedergeburt. […] Ein Tibeter tötet nicht. Mord ist für einen Tibeter unvorstellbar." Man darf gespannt sein, wann Wagner mit dieser Methode der Interpretation geschichtlicher Vorgänge aus religiösen Idealen heraus zu dem Schluss kommt, dass die Kreuzritter immer nur die andere Wange hinhielten.

Eine andere beliebte Bildquelle waren Standbilder aus Beiträgen des chinesischen Fernsehsenders CCTV. Auch sie ließen sich in durchaus verschiedener Weise verwenden. Anhand einer Bildunterschrift in der Berliner Morgenpost kann man verfolgen, wie die Beschreibung eines Bildinhalts Stück für Stück den Erwartungen angepasst wird: Aus zwei Polizisten, die einen von Randalierern verletzten Han-Chinesen stützen, wurde ein "Aufständischer", der von der Polizei "abtransportiert" wird. In der Druckausgabe hatte die Zeitung sogar geschrieben: "Aufnahmen des chinesischen Fernsehens zeigen einen Jungen, der von bewaffneten Streitkräften in Kampfanzügen durch die Straßen von Lhasa gejagt und verhaftet wird." Nachdem der Fehler ans Licht kam, verwies die Morgenpost auf die Agentur Reuters, die zu dem von ihr verbreiteten Standbild geschrieben hätte, dass der Mann von der Polizei "eskortiert" werde.

Geschehnisse und Maßstäbe

Etwas seriöser als deutsche Medien war beispielsweise die New York Times: Sie druckte auf Seite Eins ein Foto des amerikanischen Bloggers Kadfly, einer der wenigen "westlichen Ausländer", die tatsächlich Bilder aus Tibet lieferten. Kadfly selbst wies nach der teilweise sehr verzerrenden Verwendung seiner Fotos in anderen Medien darauf hin, dass von den keineswegs gewaltlosen Randalierern nicht nur Polizisten, sondern auch Zivilisten angegriffen wurden.

Auch der Economist hatte Mitte März einen Berichterstatter vor Ort, der die Unruhen in Lhasa als "primarily an eruption of ethnic hatred" beschrieb. Die von anderen Medien kolportierte Auslösergewalt gegen Mönche schilderte er als bloßes Gerücht, das von ihm selbst beobachtete Vorgehen der Polizei eher defensiv. Dem Korrespondenten zufolge plünderte und brandschatzte der tibetische Mob nicht nur chinesische Geschäfte, sondern warf auch Betonbrocken auf Passanten, Radfahrer, Taxis und Busse. Ein Vorgehen, gegen das in Deutschland "Null Toleranz" gepredigt wird. Wer Steine auf Polizisten wirft, der erhält beispielsweise in Bayern auch als Jugendlicher ohne Vorstrafen 5 Jahre Haft. Egal ob er einer seltsam gekleideten Bevölkerungsgruppe angehört, die sich als "kulturelle Minderheit" sieht, oder nicht. Ob die chinesischen Urteile gegen die tibetischen Steinewerfer tatsächlich härter ausfallen, wird sich zeigen.

Von Amerika lernen heißt siegen lernen

Das Haltbarkeitsdatum von Falschmeldungen ist häufig begrenzt – aber diese Begrenzung zeitigt wiederum nur begrenzte Effekte: Bei den Berichten über Babys, die angeblich von Irakern aus kuwaitischen Brutkästen gerissen wurden, als auch beim Hufeisenplan oder bei den angeblichen Uranankäufen und Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein blieben Richtigstellungen zwar nicht aus, aber im öffentlichen Bewusstsein weit weniger gut haften als die ursprünglichen Falschmeldungen.

Mit den Tibet-Berichtigungen verhielt es sich kaum anders: Zwar wurde das Thema nicht nur vom Kaiyuan-Forum, sondern auch von Spiegelfechter und Bildblog aufgegriffen, die Mainstreammedien präsentierten es jedoch deutlich zurückhaltender.

China reagiert auf die Vorgänge in der deutschen Presse offenbar damit, dass es nun auch in Tibet den Grundsatz "Von Amerika lernen, heißt siegen lernen" beherzigt und ganz auf "Embedded Journalism" setzt. Schließlich schafften es damit auch die USA, die Berichterstattung über den Irakkrieg unter Kontrolle zu halten. Zumindest bis Abu Ghuraib.

Ähnlich fraglich wie die Bebilderungspolitik der deutschen Mainstreammedien ist allerdings, ob die von der chinesischen Regierung verbreitete (und außerordentlich bequeme) Version, Ursache der gewalttätigen Ausschreitungen sei allein die Demagogie der "Dalai-Lama-Clique", tatsächlich zutreffend ist: Zum einen gibt es mit der Umweltpolitik und der Inflation zwei sich geradezu aufdrängende innenpolitische Ursachen, zum andern sind auch die Exiltibeter kein solch monolithischer Block, wie es der Glaube an einen "Ozeangleichen Lehrer" vermuten lassen würde.

Vor allem die Jugendorganisation "Tibetan People’s Uprising Movement" (TPUM) opponiert derzeit offen gegen die offiziell vom Dalai Lama propagierte Politik und wirbt für Gewalt – wofür sie unter anderem von amerikanischen Neocons hofiert wird.