"Aufgezwungen und unnötig"

Die elektronische Gesundheitskarte kommt. Ärzte und Datenschützer bezweifeln ihren Nutzen und warnen vor totaler Transparenz

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Im April 2008 erfolgen konkrete Schritte zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte für alle versicherten Patienten in der Bundesrepublik. Dafür werden Kartenlesegeräte in Arztpraxen bereitgestellt, mit denen die neue Karte ebenso wie die alte Versichertenkarte gelesen werden kann. "Fast unbemerkt", so kritisieren die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges e. V. (IPPNW), werde "Europas ehrgeizigstes Großprojekt verwirklicht: Die elektronische Totalvernetzung des deutschen Gesundheitswesens." Beschlossen wurde das Projekt vom Bundestag bereits 2004. Mit der Gesundheitskarte kommt ein umfassendes System zur zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten.

Über die Folgen zentraler Krankendateien auf Servern bei Kassen oder kommerziellen Anbietern sei die Bevölkerung aber gar nicht "objektiv" informiert worden, mahnt das Bündnis "Stoppt die eCard!" von IPPNW, der Freien Ärzteschaft e. V., Bundesverband der Ärztegenossenschaften u. a., sowie von Datenschutz-Initiativen, seit Januar.

Die neue Karte soll ein Foto und Versichertenstammdaten enthalten. Notfalldaten mit zusätzlichen medizinischen Angaben können nach Wunsch registriert werden. Rezepte sollen mittelfristig nur noch über die eCard verschrieben werden, auf der sie von der Praxis bis zur Apotheke verzeichnet sind. Auf der Karte selbst ist nur wenig Speicherplatz. Doch mit einem integrierten Mikrochip wird sie der Schlüssel, mit dem Krankheitsdaten von Arztpraxen und Apotheken in einen Internet-Zentralserver geleitet werden sollen.

Informationen wie Röntgenbilder, Arztbriefe, vererbte Krankheiten und eingenommene Medikamente landen dann in dem Datenspeicher, mit dem sich laut Vorhaben alle Praxen, Krankenhäuser und Krankenkassen vernetzen sollen. Als elektronische Krankenakte können diese Informationen auf Wunsch von Krankenkassen verwaltet werden.

Ärztliche Schweigepflicht in Gefahr

Einen "schnelleren Überblick" des Arztes über Patientendaten verspricht Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auf der Webseite für Information zur Gesundheitskarte - sowie "bessere Kommunikation" und "mehr Effizienz und mehr Qualität bei der Versorgung". IPPNW hingegen warnen, dass die Arzt-Patienten-Beziehung sowie ärztliche Schweigepflicht in Gefahr sei:

Für viele Ärztinnen und Ärzte ist die Arzt-Patient-Beziehung die Grundlage, auf der Heilung möglich wird. Gerade dieses Vertrauensverhältnis ist durch die aufgezwungene Datentransparenz gefährdet.

Seit 2007 können daher Patienten in einer Kampagne der IPPNW ihre Weigerung gegen die eCard erklären. Der Deutsche Ärztetag forderte, die Hoheit von Patienten und Ärzten über ihre Daten zu wahren, und lehnte daher in 2007 die Einführung der E-Card in der geplanten Form ab. Ärzte forderten im Januar kostengünstige und datensichere Alternativen, wie z. B. eine USB- fähige Karte.

Die Daten sollen bei kommerziellen Providerdiensten landen. Die Ministeriums-Broschüre zur Gesundheitskarte versichert, dass Krankenkassen dort nur mit Rücksprache der Patienten zugreifen können. Doch die Kritiker weisen daraufhin, dass Informationen dann "erstmal aus dem geschützten Raum der Arztpraxis" herausgenommen seien. Dr. Silke Lüder, niedergelassene Allgemeinmedizinerin in Hamburg und Teilnehmerin von "Stoppt die eCard":

Mit "Freiwilligkeit" der Datenherausgabe ist es nicht weit her, wenn z.B. jemand vom Krankengeld abhängig ist und freundlich gebeten wird, doch mal seine Unterlagen vorzuzeigen.

Jeder Bürger nach Krankheitsanfälligkeit einstufbar

Bei dem alten Verfahren steht die ärztliche Schweigepflicht schützend vor privaten Informationen. Krankenkassen bieten zudem elektronische Patientenakten als "Service-Leistung" an. Unternehmen wie die IT-Holding der Deutschen Angestellten-Krankenkasse Hamburg bereiten dabei eine Speicherung der Daten unter Treuhänderschaft der Krankenkassen vor.

"E-Health" heißt das Konzept der Bundesregierung, mit dem seit 1997 die Vorbereitung zu einrichtungsübergreifenden Gesundheitsdatenbanken lief. Damals erstellte die Wirtschaftsberatungsfirma Roland Berger im Auftrag des Gesundheitsministeriums ihre Studie Telematik im Gesundheitswesen- Perspektiven der Telemedizin in Deutschland (PDF-Datei).

Anempfohlen wurden dabei für Mediziner und Einrichtungen "reziproke Austauschprozesse" über gemeinsam behandelte Patienten. Im Vordergrund wurde mit "Effizienz", etwa bei therapeutischen Verfahren, argumentiert. So wurden elektronische Auswertungsverfahren von Patientendaten auf den Weg gebracht. Seit 2001 plante die Bundesregierung einen "morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich" (Morbi-RSA), der nun kommen soll.

Der Morbi-RSA ist ein datengestützter Finanzausgleich zwischen den einzelnen Krankenkassen auf Basis der ermittelten Krankheitsanfälligkeit einzelner Bevölkerungsgruppen. Mit dem Morbi-RSA und den Datensätzen aus den elektronischen Rezepten wird es möglich, jeden Bürger nach Krankheitsanfälligkeit einzustufen. Kritiker mahnen, dass dabei Patienten einen "Krankheitsstempel" aufgedrückt erhielten und forderten eine Kosten-Nutzen-Analyse.

Ärztin Lüder befürchtet ein künftiges "Klassifikationsverfahren, bei dem Menschen in Risikoklassen eingeteilt werden, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten." Der Blick auf die lesbaren Krankheitsbiographien mit der Karte könne sich auf vielen Ebenen auswirken - etwa bei der Jobsuche, wenn Betriebsärzte Einblick in die Daten verlangen. "Unnötig" sieht Lüder die Karte, die mit Versprechen von mehr Sicherheit, etwa bei der Notaufnahme, beworben wird.

Für Patienten mit speziellen Krankheitsbildern, wie Diabetiker oder Epileptiker, gibt es bereits den Pass für die Notaufnahme. Mit der eCard muss jedoch bei einer Aufnahme eine sechs-bis achtstellige PIN-Nummer angegeben werden, um an Daten heranzukommen.

Die Ärzte von "Stoppt die eCard" kündigen jetzt an, die Verwendung der neuen Kartenlesegeräte zu verweigern.

Etwa der Chaos-Computer-Club e. V. (vgl. dazu Überwachung und Verlust von Privacy) sieht die technologische Vorbereitung für die eCard als "fragwürdig": "Das technische Großabenteuer der Bundesregierung wird ohne funktionierende Sicherheitsinfrastruktur anlaufen." Neue riesige Datenberge würden heute schon erstellt, während die angekündigte Verschlüsselung mit offizieller Ausschreibung der Public-Key-Infrastruktur noch immer nicht abgeschlossen sei. Der Datenschutzexperte Dr. Gerhard Kongehl von der Universität Ulm warnte im Vorjahr:

Die Speicherung der Gesundheitsdaten weckt kriminelle Energien.

"Der gläserne Patient"

Nicht gesichert sei, dass der Einblick Dritter in die privaten Informationen verhindert werden könne. Auch tauge die eCard "nur für Gesunde", nicht etwa für Alte mit Schwellenangst vor Computertechnologie.

"Mehr informationelle Selbstbestimmtheit der Patienten" mit der eCard ist eine Ankündigung von Ulla Schmidt. Zweifel darüber hat der Anwalt für Sozial- und Arbeitsrecht Johannes Patett vom Republikanischen Anwälteverein e. V.. Die Verfügungsmöglichkeit des Patienten über seine Daten mit der Karte sei noch gar nicht geklärt. Denn diese kann nur von ausübenden Praktikern der Heilberufe mit dem Lesegerät geöffnet werden:

Die Schaffung von Räumen wäre notwendig, in denen Patienten selbst ihre Karte lesen und auch Daten löschen können. Doch darüber wird noch kaum diskutiert.

Auch Patett warnt vor einer Klassenmedizin:

Wenn zukünftig Kassen mehr personenbezogene Abrechnungen mit der eCard tätigen, kann sich die Einstufung ergeben: Dies ist ein teurer Patient, dies ein kostengünstiger.

Die Karten-Einführung geschieht bislang auf freiwilliger Basis. Doch könnten sich laut Patett mit der Etablierung der elektronischen Karte "Strukturen in den Arztpraxen nach und nach ändern, und dann etwa Patienten unter Druck gesetzt werden, die die eCard nicht verwenden."

Sicher ist, dass die Gesundheitskarte fortgesetzte Transparenz der Bürger bringt, was Informationen über ihr Gesundheitsverhalten betrifft. "Der gläserne Patient" ist kaum ein unerwünschtes Phänomen für die nach flächendeckender Datenerfassung strebende große Koalition. Und die Informationstechnologie wird zum aufstrebenden Markt bei den Umstrukturierungen, die jetzt schon 7 Milliarden Euro kosten.

Bertelsmann-Tochter Arvato erlangte vor kurzem den Auftrag für die Digitalisierung der Fotos von 17 Millionen AOK-Versicherten für die neuen elektronischen Gesundheitskarten. Die Bertelsmann Stiftung ist maßgeblich an gesundheitspolitischen Prozessen beteiligt.