Entwürdigende Behandlung von Hartz IV-Empfängern durch Jobcenter

Seit fast sechs Wochen ist ein Hartz IV-Empfänger im Hungerstreik und verlangt eine Entschuldigung vom Leiter des Jobcenters für unrechtmäßige Leistungskürzungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Einführung der Hartz IV-Reformen im Jahr 2005 hat die Gesellschaft grundlegend verändert. Seither wird wieder ganz offen von Unterschicht und Klassengesellschaft geredet. Wer von Hartz IV leben muss, ist ganz unten angekommen. Das zeigt sich nicht nur am Kontostand, sondern oft auch an der Behandlung in den Jobcentern. Neben den bekannten Maximen „Fördern und Fordern“ kommen nicht selten auch „Gängeln, Bevormunden und Sanktionieren“ zur Anwendung. Als Reaktion auf die entwürdigende Behandlung durch das Jobcenter ist in Gütersloh vor fast sechs Wochen ein Langzeitarbeitsloser in den Hungerstreik getreten. Seine Forderungen, unter anderem eine persönliche Entschuldigung des Leiters des Jobcenters, wurden bislang nicht erfüllt. Mittlerweile geht es dem Mann gesundheitlich sehr schlecht, er musste mehrere Tage auf der Intensivstation behandelt werden.

Es ist nicht ungewöhnlich, was der Gütersloher Bernd Pfeifer erlebt hat, vielmehr ist es eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich tausendfach abgespielt hat. Er war 37 Jahre als Drucker berufstätig, dann wurde er krankheitsbedingt arbeitslos. Ein Jahr lang hatte er Anspruch auf Arbeitslosengeld I, konnte aber in dieser Zeit auch nach mehr als hundert Bewerbungen keine neue Arbeitsstelle finden. Die Agentur für Arbeit konnte ebensowenig weiterhelfen, es gab schlicht keine Stellenangebote. So blieb nach Ablauf des Arbeitslosengeldes I im Sommer 2006 nur noch der Antrag auf Hartz IV. Was dann folgte, gibt einen bitteren Einblick, wie Jobcenter mitunter mit ihren „Kunden“ umgehen.

Zunächst wurde der Antrag von dem privatisierten Jobcenter „GT aktiv GmbH“ wochenlang nicht bearbeitet. Solange der Bescheid auf sich warten ließ, wurde auch kein Geld ausgezahlt. Freunde halfen finanziell aus, damit die Miete bezahlt und das Nötigste an Lebensmitteln gekauft werden konnte. Als Bernd Pfeifer die Sachbearbeiterin persönlich aufsuchte, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, wurde er barsch zurückgewiesen: Er solle sich telefonisch einen Termin geben lassen. Noch im Jobcenter rief er die Frau an, die plötzlich doch sofort für ihn Zeit hatte. Als er sie um Aufklärung für ihr vorheriges Verhalten bat, ließ sie den Termin kurzerhand wieder platzen. Nur nach weiterem Drängen wurde ihm eine Abschlagszahlung gewährt.

Anschließend wurde ihm eine Teilzeitstelle als Hilfskraft in einer Schulküche zum Verhängnis: Der Verdienst von monatlich 60 Euro wurde vom Regelsatz abgezogen, obwohl die Rechtslage ganz klar besagt, dass Zuverdienste bis 100 Euro ohne Abzüge erlaubt sind. Nicht der einzige Fall von Leistungskürzung: Vor einem geplanten dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt wurden vorsorglich 80 Euro vom Regelsatz abgezogen, da die Verpflegung in dieser Zeit anderweitig bereit gestellt würde. Das Geld blieb Bernd Pfeifer auch dann noch verwehrt, als er den Klinikbesuch am Ende wieder absagte. Und nach einer Überprüfung der Wohnverhältnisse durch einen Jobcenter-Mitarbeiter wurden ihm mit dem Hinweis, dass er mehr als 30 qm bewohne, die Wohnpauschale von 293 Euro um über 100 Euro gekürzt. Auch das ein falscher Bescheid: Kurz zuvor wurde eben jene Gütersloher „GT aktiv“ vom Sozialgericht Detmold in einem ähnlichen Fall abgemahnt.

Den Hungerstreik begann Bernd Pfeifer als Reaktion auf diese schikanösen Vorkommnisse. Gegenüber der Westfälischen Wochenpost sagte er: „Es geht mir um die menschenunwürdige Behandlung. Ich habe 37 Jahre gearbeitet und nun muss ich so etwas erleben.“ Tatsächlich besuchte ihn eine Mitarbeiterin des Jobcenters in der dritten Woche des Hungerstreiks, gestand die Aushändigung falscher Formulare und falsche Berechnungen ein. Die finanzielle Bereinigung ließ dann freilich wieder lange auf sich warten, wie zuvor schon die Antworten auf seine Widersprüche. So ist ein Ende des Hungerstreiks nicht absehbar, zumal eine persönliche Entschuldigung des „GT aktiv“-Geschäftsführers Fred Kupczyk, wie von Bernd Pfeifer gefordert, bislang nicht erfolgt ist.

Hilflosigkeit und Ohnmacht

Für Betroffenenvertretungen und Beratungsstellen sind autoaggressive Reaktionen wie Hungerstreiks durchaus verständlich. Martin Behrsing, Sprecher der Erwerbslosen Forums Deutschland und in direktem Kontakt mit Bernd Pfeifer, sagte gegenüber Telepolis:

Das ist Ausdruck einer absoluten Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber den Behörden. Die Menschen sehen für sich keine andere Möglichkeit, sie sind teilweise derart zermürbt, dass es für sie scheinbar keine Perspektive im Leben mehr gibt. Sie erleben die Behörden als Ungeheuer und sagen dann: Ich will nicht mehr, ich nehme den Tod in Kauf. Die Menschen erleben sich als chancenlos.

Martin Behrsing

Derzeit macht das Erwerbslosen Forum Deutschland auf einen Fall in Mönchengladbach aufmerksam, wo einem Hatz IV-Empfänger seit Monaten die Auszahlung aller Leistungen verweigert wird. Seine Wohnung musste er bereits aufgeben, seine psychischer Zustand ist durch die völlige Perspektivlosigkeit sehr labil. So verwundert es nicht, dass es immer wieder Todesfälle von Hartz IV-Empfängern gibt, die einen Zusammenhang mit der rigiden Durchführung der Arbeitsmarktreform nahelegen. Wie etwa der Fall eines Erwerbslosen aus Speyer, der vor einem Jahr gestorben ist (Tod eines Erwerbslosen). Meist nimmt nur die lokale Presse davon Notiz, in Internetforen werden hingegen viele Fälle gesammelt und dokumentiert.

Jobcenter: Bruchlinie der Agenda 2010

Nicht selten richtet sich Wut und Verzweiflung auch gegen die Mitarbeiter in den Jobcentern. Wachpersonal und Alarmsysteme sind dort mittlerweile Alltag, denn hier verläuft die Bruchlinie der Agenda 2010. Hier prallt die autoritäre Forderung nach permanentem Einsatz und Eigeninitiative – unter Androhung von massiven Sanktionen – auf Menschen, die gerade aus ihrem Leben gefallen sind. Oder die als Langzeitarbeitslose bereits die Hoffnung auf eine Chance im ersten Arbeitsmarkt aufgegeben haben. Es gibt wenige offizielle Angaben über die Anzahl der gewalttätigen Übergriffe in Jobcentern. In Hamburg wurden für das Jahr 2006 insgesamt 1268 Übergriffe gezählt, die Unfallkassen des öffentlichen Dienstes bieten ihren Mitglieder sogar Workshops über „Gewalt und Aggression in Jobcentern und vergleichbaren Einrichtungen“ an. Auf der anderen Seite sind Hartz IV-Internetportale wie Chefduzen und anderen Websiten voll von Berichten über die Bedrohung durch Kürzungen des Regelsatzes und persönlich demütigende Erfahrungen. Alle Betroffenen sehen sich einem Verwaltungssystem gegenüber, das auch von einer strukturellen Überforderung der Mitarbeiter geprägt ist.

Im Jobcenter prallen die Frustration der Arbeitslosen und die der Behördenmitarbeiter, die die Vorgaben erfüllen müssen, aufeinander. Beratungsfirmen wie McKinsey und Roland Berger haben genaue Richtlinien entwickelt, wie lange ein Gespräch sein darf, wie hoch die Kontaktdichte ist und es wird auch ganz klar gemacht: Der Kunde ist im Jobcenter nur dann erwünscht, wenn ihn die ARGE einlädt. Ein Kunde, der von sich aus kommt und irgendwelche Leistungswünsche hat oder sich ungerecht behandelt fühlt, der ist per se unerwünscht.

Martin Behrsing

Dazu kommt, dass sich die Leistungsbezieher vielen bürokratischen Vorgaben gegenüber sehen. Sie müssen Kleinigkeiten nachweisen oder Papiere vorlegen, so dass wertvolle Zeit bei die Suche nach einen Arbeitsplatz verloren geht. Dabei sitzt immer die Angst im Nacken, dass der Sachbearbeiter Leistungen kürzen kann, wenn ihm Erklärungen nicht plausibel erscheinen. So wird dann auch der Verordnung einer sinnlosen Weiterbildungsmaßnahme meist ohne Widespruch Folge geleistet und zum fünften Mal das Bewerbungstraining besucht. Für Martin Behrsing ist dieser Umgang beabsichtigt, denn „es geht darum, dass man die Menschen soweit weichklopft, dass sie jeden Job zu jedem Preis annehmen“. Auch Bernd Michael Büttner, langjähriger Sozialberater bei der Erwerbslosenversammlung in Berlin-Schöneberg (AK ELViS), erkennt darin kein Zeichen schlechter Arbeitsorganisation, vielmehr sollen „die Leute am Laufen gehalten“ werden. Zur Situation in Gütersloh sagt er:

Die Entscheidung von Herrn Pfeiffer überrascht mich nicht. Mich wundert, dass solche Formen bislang nicht noch größere Ausmaße angenommen haben. Die Frustration bei den Leuten nimmt einfach immer weiter zu. Bis zu einem bestimmten Punkt kann man mit den Menschen einiges machen, aber wenn der Punkt überschritten ist, dann kann selbst der friedfertigste Mensch zur rasenden Wildsau werden. Und dieser Punkt kommt bei vielen Leuten jetzt langsam zum Tragen. Jahrelange Demütigungen tragen ihre negativen Früchte in Form dieser Ereignisse.

Michael Büttner

In den Fall von Bernd Pfeifer kommt jetzt endlich Bewegung. Für heute ist eine Demonstration vor der „GT aktiv“ angekündigt. Und nachdem Betroffenenorganisationen massiv auf Bundestagsabgeordnete eingewirkt haben, hat sich jetzt endlich der einflussreiche Gütersloher SPD-Abgeordnete Klaus Brandner eingeschaltet. Ob er ein unparteiischer Vermittler ist, wird sich zeigen: Als arbeitspolitischer Sprecher der Fraktion hat er an zentraler Stelle an der Einführung der Hartz-Gesetzte mitgearbeitet.