Und keiner nennt es Korruption

Das große Schweigen um die "Leihbeamten"-Affäre

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Seit zwei Jahren ist bekannt, dass in deutschen Bundesministerien sogenannte „externe Mitarbeiter“ oder auch „Leihbeamte“ tätig sind. Finanziert werden sie meist von großen Konzernen, und sie üben brisante Tätigkeiten aus, sind beteiligt an der öffentlichen Auftragsvergabe und am Entwerfen von Gesetzesvorlagen. Das Politmagazin Monitor berichtete vor kurzem, aber die Bundesregierung wies tags darauf die Kritik zurück: Man brauche die externe Kompetenz, da die Regierungsbehörden selber nicht darüber verfügen. Ende der Debatte.

Monitor enthüllte am 3.April einen geheimen Bericht des Bundesrechnungshofs,, aus dem hervorgeht, dass die Bundesregierung Öffentlichkeit und Parlament seit Jahren nicht die Wahrheit sagt. Auf telefonische Anfrage erklärt Herr Krämer, Jurist im Bundesrechnungshof, der betreffende Bericht sei nicht öffentlich, man könne die Monitor-Reportage daher weder offiziell dementieren noch bestätigen. Man wäre in der Vergangenheit jedoch gegen falsche Darstellungen der Arbeitsergebnisse des Rechnungshofes z.B. in der Bildzeitung vorgegangen, was in diesem Fall aber nicht infrage komme.

Dabei bestätigt der Bericht einen handfesten Skandal: Die Bundesregierung sagt seit mindestens Oktober 2006 sogar gegenüber Nachfragen des Parlaments über den höchst zweifelhaften Einsatz sogenannter „externer Mitarbeiter“ nicht die Wahrheit. Diese „Leihbeamten“ sind schon seit 2004 tätig, teils an brisanter Stelle, in Bundesministerien, aber bezahlt werden sie von der Industrie. Angeblich arbeiten die Industrievertreter dort vollkommen unabhängig, gemeinnützig und unbeeinflusst von ihren Brötchengebern. Keine der Firmen, die dort einen ihrer hochkompetenten Spitzenverdiener für lau etwa dem Außen- oder Wirtschaftsministerium überlässt, verspricht sich davon einen Einfluss auf Regierungshandeln. Keine der Firmen, die dort ihre Top-Spezialisten in brisanten Bereichen staatlichen Handelns platzieren darf, hat für dieses Privileg irgendeinen Politiker bestochen. Warum dann aber die Geheimhaltung? Warum hat die Regierung Öffentlichkeit und Parlamentarier bislang über Art und Ausmaß dieser Leihbeamten-Invasion nicht oder falsch informiert? Und warum schweigen, bis auf ein paar abwiegelnde Meldungen, jene Medien, die sich sonst so gierig auf jede angebliche Lüge eines Politikers stürzen?

Was ist passiert? Am 3.4.2008 durfte das Politmagazin der ARD, Monitor, gegen 22.00 Uhr etwa acht Minuten lang über einen Skandal berichten, der sich seit zwei Jahren hinzieht. Im Eingangsstatement wies Monitor darauf hin, dass keineswegs von allein, sondern erst durch die Recherchen des Politmagazins inzwischen immerhin der Bundesrechnungshof auf den Leihbeamten-Skandal aufmerksam wurde:

Seit zwei Jahren müssen wir bei Monitor über Lobbyisten in Bundesministerien berichten, die von großen Unternehmen bezahlt Gesetze und Entscheidungen mit formulieren. Und das ist keine kleine Schmuddelecke der Demokratie, sondern ein elender Lobbysumpf. Der Bundesrechnungshof hat nun aufgrund unserer Recherchen diese Grauzone durchleuchtet.

Monitor, ARD 3.4.08

Mit ihrem Bericht gibt die Kontrollbehörde somit all jenen die Fakten noch einmal amtlich, die bislang nicht glauben konnten, was Monitor herausfand. Monitor dokumentierte eine Kurzfassung für die Öffentlichkeit: Vom Bundesrechnungshof wird festgestellt, dass allein 2004-2006 pro Jahr im Schnitt 100 „Leihbeamte“ in den Ministerien tätig waren. Diese Abhängigkeit lässt, so der Bundesrechnungshof, befürchten, dass Interessenkonflikte oder zumindest in der Außenwahrnehmung der „böse Schein“ fehlender Neutralität entstehen.

Die festgestellten Aufgaben der „externen Mitarbeiter“ bzw. „Leihbeamten“ sind:

  1. über 60% vertraten die Bundesregierung bei Veranstaltungen und Verhandlungen nach außen
  2. über 60% erstellten Leitungsvorlagen für Top-Beamte
  3. über 25% waren an Vergabeverfahren öffentlicher Aufträge beteiligt
  4. über 20% schrieben an Gesetzen und Verordnungen mit.

Der Bundesrechnungshof fordert als Ergebnis seiner Ermittlungen Konsequenzen von der Bundesregierung: Externe Mitarbeiter sollen keine Funktionen in Leitungs- und Kontrollbereichen ausüben, nicht an Gesetzen mitschreiben und nicht bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen mitwirken. Alle externen Mitarbeiter sollen, so der Bundesrechnungshof, offengelegt werden. Das geschah bislang nicht freiwillig, sondern ist Monitor-Recherchen zu verdanken.

Begonnen hatte alles schon unter Schröder im rotgrünen Privatisierungsrausch, den an prominenter Stelle einer der Arbeitgeber der ministerialen Leihbeamten ausgelöst hatte: Die Bertelsmann Stiftung, einer der umtriebigsten privaten Politik-Berater. Umso erstaunlicher ist, dass inzwischen auch grüne Parlamentarier entsetzt sind, was sie damals so alles mit zu verantworten hatten:

Im Oktober 2006 habe ich nachgefragt: Was ist mit externen Mitarbeitern bei der Bundesregierung? Damals hat man mir gesagt: erstens es gibt keine, zweitens, wenn es welche geben sollte, werden sie von der Bundesregierung bezahlt. Beides ist nachgewiesenermaßen falsch. Dann hat man zugegeben zunächst 30, dann 100 Mitarbeiter bei der Bundesregierung, jetzt sind das aufsummiert ungefähr 300. Hier wird das Parlament nur auf Raten informiert und zunächst falsch und das ist ein ziemlicher Skandal und wir müssen das Thema jetzt aufarbeiten.

Volker Beck, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, Monitor-Interview, ARD 3.4.08

Ein Spiegel-Online-Artikel sprach tags darauf statt von aufsummierten 300 von „bis zu 108“ Beschäftigten, unter der Überschrift: „INTERESSENKONFLIKT: Rechnungshof rügt Arbeit von "Leihbeamten" in Ministerien“. Das ist informativ, denn Interessenkonflikte kennen wir alle, wenn wir im Supermarkt zwischen Obst und Schokolade wählen müssen.

BASF, Bundeswirtschaftsministerium und REACH

Monitor gab ein Beispiel dafür, wie das Geschäft mit den „Leihbeamten“ konkret läuft: Der Chemiekonzern BASF hatte, so Monitor, Anfang 2000 ein Problem. Die EU plante eine neue Chemieverordnung genannt REACH (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals). REACH sollte die Chemieindustrie zwingen, Stoffe zu untersuchen, die bislang nie auf ihre Gefährlichkeit getestet worden waren. Aber die Industrie setzte dagegen ihre Lobby in Bewegung. In den Medien wurde die übliche Kampagne gegen ein „bürokratisches Monster“ aus Brüssel zelebriert, inklusive des gewohnten Drohens mit dem „Verlust“ von 2,4 Millionen Arbeitsplätzen (die europäische Chemieindustrie beschäftigte zu dieser Zeit nur 1,7 Millionen Menschen) durch die enormen Kosten (200 Mio. Euro jährlich, entsprechend 0,05% des Jahresumsatzes der Chemiebranche).

Trotz der dünnen inhaltlichen Substanz der fadenscheinigen Kampagne fiel der schließlich von der rotgrünen Bundesregierung vorgelegte Gesetzesentwurf äußerst industriefreundlich aus (Fortschritt oder Mogelpackung?). Testpflichten wurden gelockert, Konsumprodukte aus der Verordnung ausgenommen und die Informationspflicht fiel teilweise sogar hinter vorheriges Recht zurück.1

Dank Monitor können wir heute ahnen, wie das damals zugegangen sein könnte: Der Chemieriese BASF hatte, so Monitor, im Bundeswirtschaftsministerium einen eigenen Mitarbeiter. Der war nachweislich in den Jahren 2004/2005 mit den Arbeiten an der REACH-Verordnung befasst. Das Interesse der Chemieindustrie zielte auf weniger Testverfahren „zum Beispiel bei Kinderspielzeug“. Damit setzte sich die „Lobby“ (so Monitor) gegen Verbraucherinteressen durch.

Die Lobby befindet sich gewöhnlich im Eingangsbereich der Ministerien. Die Industrievertreter, von denen hier gesprochen wird, sind keine Lobbyisten mehr: Sie sitzen bereits tief im Inneren unserer demokratischen Gesetzgebungsverfahren. Sie schreiben mit an den Gesetzesentwürfen der Bundesministerien, weil den Ministerien selbst angeblich die entsprechende Kompetenz fehlt. Seit wann ist aber die Chemieindustrie für ihre Kompetenz beim Erlassen von Schutzvorschriften für Chemieprodukte bekannt? Und wenn man ihr vertrauen könnte, wofür bräuchte man dann Schutzvorschriften? Ja, sicher: nur gegen die schwarzen Schafe. Aber keiner garantiert uns, dass nicht genau diese schwarzen Schafe die „Leihbeamten“ finanziert haben.

Das Vertrauen in die Kompetenz der Bundesregierung fällt schwer, wenn diese selbst angibt, zu inkompetent zu sein, um ohne „externe Mitarbeiter“ der Industrie auszukommen. Das Vertrauen in die Integrität der Bundesregierung fällt uns schwer, weil diese „Leihbeamten“-Praxis so heimlich abläuft, dass selbst Fachbeamte anderer Ministerien nichts davon wissen, geschweige denn das Parlament. So empört sich leider um viele Jahre zu spät Rainer Baake, damals immerhin Staatssekretär im rotgrünen Bundesumweltministerium:

Wenn es zutrifft, dass ein Mitarbeiter der BASF, weiter bezahlt wurde von BASF, aber im Bundeswirtschaftsministerium mitgewirkt hat an europäischen Gesetzesvorhaben zum Chemikalienrecht, dann ist das schlicht und einfach ein Skandal. Dann haben einige Leute im Bundeswirtschaftsministerium offensichtlich nicht verstanden, dass sie zur Neutralität verpflichtet sind und nicht die Interessen einzelner Unternehmen zu vertreten haben.

Monitor-Interview, ARD 3.4.08

Und Baakes Parteifreund Axel Singhofen staunt, auf den BASF-„Leihbeamten“ angesprochen:

Das war im Januar 2005, als er bei einem Seminar hier im Parlament teilgenommen hat, einem Seminar was vom Bundeswirtschaftsministerium initiiert worden war, und dort hat er sich als Beamter des Bundeswirtschaftsministeriums ausgegeben und ich bin doch sehr schockiert zu erfahren, im Nachhinein, dass er zu dieser Zeit von BASF bezahlt gewesen ist.

Axel Singhofen, damals Mitarbeiter der Grünen Fraktion im Europa-Parlament, Monitor-Interview, ARD 3.4.08

So glaubten sich die Grünen im EU-Parlament rundum gut und von unabhängigen Regierungsvertretern über ein schwieriges Thema informiert, obwohl sie einem heimlichen Vertreter der Chemieindustrie lauschten. Da fragen wir alle uns doch: Wie oft lauschen wir einer Regierungsverlautbarung, die in Wahrheit von einem Angestellten einer mächtigen Firma oder von sonst jemendem stammt? Woher bezieht die Regierung ihre „Leihbeamten“, wenn sie z.B. einmal nicht über genügend Kompetenz im Sektor der organisierten Kriminalität verfügen sollte? Von der Mafia? Oder ist dies womöglich der einzige Sektor, auf die Bundesregierung über genügend eigene Kompetenz verfügt? Wer könnte denn über die juristische Kompetenz verfügen, die Legalität der Leihbeamten-Praxis zu beurteilen?

Keine geringere als die ehemalige Bundesjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), damals zurück getreten, weil sie die Grundrechtsverletzungen durch den Großen Lauschangriff der schwarz-gelben Bundesregierung nicht mitverantworten wollte, meint dazu:

Für mich als ehemalige Ministerin ist selbstverständlich, dass Gesetzentwürfe von öffentlichen Bediensteten in den Ministerien, die Fachleute sind, entworfen werden, dann der Meinungsaustausch mit den Verbänden erfolgt, dann im Ministerium, im Kabinett, entschieden wird, aber nicht in dem verdeckt mitgearbeitet wird, von interessierten Kreisen. Das erinnert mich wirklich an einen schlechten Krimi.

Leutheusser-Schnarrenberger, Monitor-Interview, ARD 3.4.08

Die Justizministerin a. D. dachte wohl weniger an einen Krimi über Bankraub als an einen über Korruption.

Seitenwechsel oder doch Korruption?

Was unterscheidet die dokumentierte Leihbeamten-Praxis eigentlich von Korruption? Der Straftatbestand der Vorteilsnahme §331 StGB verbietet Amtsträgern oder für den öffentlichen Dienst besonders verpflichteten Personen die Annahme von Vorteilen für bestimmte Diensthandlungen. Gehören die in Ministerien tätigen, aber von der Industrie bezahlten Leihbeamten zu diesem Personenkreis? Die Bezahlung durch z.B. BASF wäre dann so ein Vorteil und das Mitwirken an z.B. Gesetzesvorlagen wäre eine Diensthandlung. Aber ist der Leihbeamte eine für den öffentlichen Dienst besonders verpflichtete Person? Oder darf die Behörde seinen Einsatz zu Diensthandlungen vielleicht genehmigen, weil ihr kein anderer Weg einfällt, sich kompetente Mitarbeiter zu verschaffen?

Wir können leider ziemlich sicher sein, dass diese Fragen hierzulande nur wenige Journalisten und vermutlich keinen einzigen Staatsanwalt quälen werden. An mangelnder Information kann das kaum liegen, denn die NGO Lobbycontrol wirbt für eine Kampagne Keine Lobbyisten in Ministerien und die Leihbeamten haben sogar schon eine eigene Wikipedia-Website.

Die Sendung Monitor zog jedenfalls, ohne das Wort Korruption in den Mund genommen zu haben, folgendes Fazit:

Seitenwechsel, so nannte die rotgrüne Bundesregierung das neue Programm, das diesen Lobbyisten den Weg bereitete. Seitenwechsel - ein unglaublich dummes Wort, mit dem Glaubwürdigkeit und Transparenz einer Demokratie einfach ins Lächerliche gezogen werden.

Seitenwechsel – vielleicht war damit der Seitenwechsel der Regierung von der Arbeit für das Gemeinwohl auf die Seite der Arbeit für finanzkräftige Privatinteressen gemeint? De facto kann es uns Bürgern aber egal sein, ob z.B. eine schwache Chemieverordnung zustande kam, weil ein Beamter sich von der Chemieindustrie hat bestechen lassen oder weil ein Mitarbeiter besagter Industrie direkt im Ministerium tätig war. Den künftig krebskranken Kindern, die derweil an mangels Chemieverordnung nicht getesteten Spielsachen lutschen, wird später mit dem üblichen Verweis auf die „Eigenverantwortung“ ihrer Eltern jedenfalls kaum gedient sein.

Wie aber steht es mit der Eigenverantwortung der Bundesregierung für die Bereitstellung unabhängiger Kompetenz für ihre Gesetzesvorhaben? Noch gibt es von der Industrie teilweise unabhängige Universitäten und Forschungseinrichtungen. Und wenn es sie nicht gäbe wäre es sinnvoller, dort Geld zu investieren und nicht später in die Behandlung krebskranker Kinder.

Doch der von Monitor vor zwei Jahren aufgedeckte und nun vom Bundesrechnungshof bestätigte Skandal hat bislang noch nicht zur Entfernung auch nur eines einzigen Leihbeamten-Lobbyisten geführt. Entfernt wurde nur Sendezeit von Monitor: Das Politmagazin hatte vor zwei Jahren noch um die Hälfte mehr kostbare Sendeminuten - und vermutlich finanzielle und personelle Mittel - zur Verfügung.

Thomas Barth, Medienwissenschaftler und Buchautor, arbeitet zur Zeit an einem Themenband "Privatisierung und Korruption", der im Herbst 2008 erscheinen soll.